Ein Beitrag von János Köbányai. Aus dem Ungarischen von Attila Ducsay.
Foto: Gáspár Stekovics/wikipedia. Grafik: Wanda Szyksznian
Warum interessieren János Bródys Konzerte den einstigen Rock- und Pop-Journalisten, der - o weh! - seit fast einem halben Jahrhundert die Ereignisse der Szene nicht mehr verfolgt? Vielleicht kämen wir dem wenigstens mich verblüffenden Phänomen näher, wenn ich fragte: Warum trieb ich mich in den Siebzigern und Achtzigern in der Nähe der Bewegung (Welt?) herum? Was suchte und fand ich in ihr, was mich in einem Zeitalter (dem Beatzeitalter) unentwegt zu Anmerkungen und dem Kundtun meiner Meinung bewegte? Das "emotional-erotische" Erlebnis? Aber das heißt doch "Genuss" (Konsum). Während wer beschreibt, seine Meinung äußert, doch außen steht, um den Gegenstand der Erörterung zu fassen zu kriegen. In glücklichen, manchmal schizophrenen, Fällen beschenkt/bestraft das gewählte Thema den Betrachter mit dem In/Outsider-Konflikt. Heute sehe ich schon - vielleicht brauchte es dafür die historische Draufsicht - die von mir beobachtete Geschichte war es, die ich unersättlich - ich will der erste sein! - dem formbaren Stoff der Gegenwart aufdrücken wollte, die mich interessierte. Die Geschichte von was zog mich an? Die eines musikalischen Genres? - von dem ich nicht mal was verstand. Ganz im Gegenteil: die Beatmusik war der Stoff, der, in das Zeitalter seiner Herrschaft getunkt, den Abdruck seiner Zeit bewahrte. Wie jeden (Zeitungs-)Schreiber reizte mich die vor meinen Augen gärende, köchelnde, reifende und aufgehende Masse: die mir zugeteilte ungarische Geschichte. Diese nannte man, weil seit Franz Josef I. jede Epoche nach einer von jeweils entschlossenem väterlichem Profil geprägten Führungsfigur benannt wurde (so wie die statthabende nach Viktor Orbán), das Kádár-Zeitalter. Diese jüngere Vergangenheit schwebt herum und setzt sich, wie noch körperwarme Vulkanasche, bevor sie sich mit der Erde und der Gegend endgültig vermengt. Diese geben allen, die sich als Ungarn definieren, Nahrung und damit Identität. Dabei ist eine weltweite Besonderheit des Kádár-Zeitalters, dass ein grundsätzlich unterhaltendes Musikgenre seinen nationalen und gesellschaftlichen Bewegungen einen Rahmen bot. Und gleichermaßen bot es dichte Kapillarwurzeln, in deren Geflecht eine ganze Generation ihre Sehnsüchte ausstreckte und ausspreizte, in deren Mitte - wenn auch nicht mit philosophischer Argumentation, so doch - die individuelle Freiheit stand. In Ungarn strebte um die Beatmusik herum eine solch vielschichtige kulturelle Bewegung der Oberfläche zu, die imstande war, die alltägliche Realität der großmächtigen und politischen Zwänge für diese (große) Generation in Klammern zu setzen. Eine ikonische Figur dieser Epoche war János Bródy.
War? Hier ist das Auflodern meines alt-neuen Interesses zu hinterfragen, sogar sein schon dauerhaft zu nennendes Abkühlen. Das ist aus vergangenen Zeiten in heutige zurück schwelende Gegenwart. Schließlich ist das Beatzeitalter verschwunden und mit ihm seine Helden, Gesichter, sogar sein Publikum. Und so sehr es auch wehtut: von der Erdoberfläche marschiert letzteres in großer Zahl ab. Das ändert auch die Nostalgie- und Veteranenindustrie nicht. So sehr ändert sie nichts, dass heutzutage nicht mehr die Hervorbringung oder der Konsum von populärer Musik das Hauptmedium gesellschaftlicher und generationeller Selbstäußerung sind, wie wir es noch aus Kádárs Zeiten kennen. Diese Funktion erfüllen heute eher politische Parteien und deren PR-Aktivitäten. Damit wird das Bródy-Phänomen - darüber spreche ich die ganze Zeit - spürbar. Wenn eine der Funktionen des Beatzeitalters im kulturellen oder geschichtlichen Sinn wieder aktuell werden könnte, dann könnte sie nur ein Protagonist mit ihr "zwischen den Zähnen" ans heute "andere Ufer" schaffen, den das Beatzeitalter erschaffen hat.
Im Zusammenhang mit Bródys letztjähriger Platte („Gáz van, babám“) und seinem letztjährigen Konzert habe ich versucht zu erklären, warum er, und genau er, zweimal in denselben Fluss steigen konnte. Den angeschlagenen Akkord/die Gegenwart geziemt es sich zu Ende zu hören/zu begleiten. Sein Konzert in der László Papp-Aréna am 12. November brachte die Frage an die Oberfläche - aufblitzendes Journalistenblut, Instinkt - , ob das Ergebnis, die Wirkung des letztjährigen Treffens wiederholbar, vielleicht gar steigerungsfähig sei. Oder: durchtränkt mit seiner Geschichte das wirklich dichte, bedrohliche, offensichtlich die Geschichte tragisch sich wiederholende letzte eine Jahr die ihr eigenes Beat(helden)zeitalter einmal zu echter Aktualität erhebende Produktion? Bródys kürzliche Medienauftritte und heftig ablehnende Reaktionen auf nämliche (siehe lehrreiche - weil darüber, wo wir leben, aufklärende - Kommentare auf dem Mandiner-Onlineportal), sein mit Levente Szörényi geführter Verlautbarungskrieg (der macht mich krank) voller übler Nebengeschmäcker, Nachrichten über seine Krankheit - der "menschliche Lebensweg" - in seiner letzten Phase (Bródy ist 77). Es waren nicht wenig dramatische Spannungen, die dem neuerlichen Treffen vorangingen.
Schon die epischen Elemente - Ort, Darsteller - verführen zur Interpretation. Ich war zum ersten Mal in der László Papp-Aréna - Verweis auf mein atavistisches Einst - wo mich das Gewimmel des mit fünfzehntausend Tickets ausverkauften Hauses überraschte. Das Publikum (diese Jugendlichen/ezek a fiatalok) rekrutierte sich größtenteils aus den von Bródy besungenen Nyuggern [bródyscher Neologismus aus Rentner und Rocker, als Song veröffentlicht, nachdem er 65 wurde]. Die beseelten und unschuldigen Gesichter derer, die auf den Wellen der Beat-Befreiung ihre Lebensbahn begannen, sind, was den Abend in Schwung bringt. Ein-zwei dieser alten Bródy (Illés)-Lieder sind heute zu hören. Diese Lebensbahn ist gerade jetzt aus dem Dschungel der politischen Wendeperiode (1988 - 2018) in eine für die Passagiere unwirtliche, friedhofsnahe Einöde eingebogen. Seine Kinder und Enkel begleiteten das Publikum nicht mehr, wie noch 1991 zum Illés-Konzert im Népstadion. In eher prosaische Soziologie übersetzt: es kann nicht sein, dass sie alles oppositionelle Wähler sind, ex SZDSZ-Leute, Sozi-Libsen, zu denen Bródy selbst zählt. Und nach dieser post-beatischen Vervielfachung der zweitausend aus dem Vorjahr ist dies nun - mit Blick auf aktuelle existentielle Nöte - potentiell Vertrauen einflößend (ein Ticket mittleren Preises auf den hinteren Stadionrängen kostete etwa 12.000 Forint). Dabei reagierte die überlebende "Volksfront" einmütig in alter, zu Kádár-Zeiten eingeübter, Art auf die augenzwinkernd zwischen den Zeilen das Wesentliche verkündende Attitüde und Sprache der Opposition. Und feierte auch heute, wenn auch mit heutigem Zeicheninhalt, ihre eigene Hymne "Wär ich eine Rose/Ha én rózsa volnék", und das ein wenig umgeschriebene "Az utcán", den ersten ungarischen Beat-Song, mit dem der Abend begann.
Ohne Versprecher sang, musizierte und erzählte Bródy ein mehr als dreistündiges Konzert. Das ist eine größere physische und psychische Leistung als die Mick Jaggers, weil Bródy nicht nur spielte, sondern auch mit Wortbeiträgen, somit intellektueller Produktion, die Aufmerksamkeit des Publikums fesselte. Schwerpunkt war nicht im Unterbewusstsein stattfindende Befreiung durch Rhythmus, Musik und Lautstärke, sondern der Text. Und damit nähern wir uns Bródys Zweimal-in-den-gleichen-Fluss-Steigen, diesmal nicht dessen politisch-gesellschaftlicher, sondern der menschlich-künstlerischen Möglichkeit. Bródy, gleichwohl er vorzüglich auf mehreren Instrumenten spielt, singt und auch komponiert, ist sui generis kein Musiker wie die meisten Helden des Beat-Zeitalters, bei denen das Wesentliche ihrer Begabung ist, Stimmung und Tätigkeit ihres Zeitalters in "sinnlich-erotische" Sphären zu erheben. Meist auf einer "Sie wissen nicht was sie tun"-Grundlage. Meine Erfahrung als Rock-, aber besonders als Jazz-Journalist ist, dass Musiker, deren Spiel ich in Theorien und Narrative zu übersetzen versuchte, keine Ahnung hatten, was sie in den empfänglichen Bewunderern auslösten. Sie sind die Membranen Gottes/der Welt, die in der Sprache der Musik die aktuellen Stimmungen (in beiden Bedeutungen) dieses Universums zum Klingen bringen. Zu dieser Erkenntnis verhalf mir auch mein liebstes Lehrbuch, Kierkegaards Mozarts Don Juan. Aus ihm stammt die "sinnlich-erotische" Definition der Musik. Jedoch bezieht sich diese Definition nicht auf den Text. Bródy ist Dichter und Chronist, dessen Gedichte mit Musik wirken. Das ist die Funktion, bisher ist sie nicht so sehr aufgefallen wie jetzt. Schon deshalb, weil er den überwiegenden Teil seines Lebenswerkes zum Glück der ungarischen Kultur gemeinsam mit einem der begnadetsten ungarischen Musiker geschrieben hat. Deshalb kann die Szörényi-Bródy (gelegentlich Illés-Bródy)-Kooperation nicht nur zum ausdruckstärksten, erfolgreichsten Abdruck eines geschichtlichen Zeitalters werden, sondern ist gleichzeitig eine Leistung, die Anspruch auf Unsterblichkeit ungarischer Kultur erhebt. Von hinter der Beatmusik hervor zog sich der politisch-gesellschaftlich-geistige Hintergrund zurück oder entwickelte sich weiter. Die Musiker verloren somit ihre Funktion als Membran. Von Zeit zu Zeit verfolge ich auf YouTube neuere Konzerte von Eric Clapton, Peter Gabriel, lange von Mark Knopfler und Steve Winwood, neuerdings wieder von Zucchero. Die sind fähig, ihre Musik zu aktualisieren, nun ja, hauptsächlich die alten Sachen. Nicht zu vergessen Colosseums bedeutenden Auftritt in Budapest, seitdem beobachte ich sie regelmäßig. Bródy hingegen ist ein in seinen Sphären verwaister Intellektueller, dessen Legitimation auch nach dem Zerfall des Beat bestehen blieb. Mit seiner knarzigen schlechten Laune verfolgt er das Entgleisen des seine Generation befördernden Zuges von den Geleisen einstiger Hoffnungen. Das Verewigen dieser Entwicklung ist eine typische Zeugenfunktion und eine Aufgabe. Mit viel geringerem Wirkungsgrad: Mit dynamisch verringerter musikalischer Vielfalt, mit Offenbarung wie zuzeiten von "zwischen Blumen mit dir leben". Des mittelalterlichen Lautenspielers Sebestyén Tinódi Hauptverdienst waren auch seine verewigten Geschichten, während seine gezupften Melodien der Untermalung dienten.
Bródy hat Glück mit Gitarrist Péter Kirschner, der die Erzählungen arrangiert, hier und da ein schönes Solo einwirft, aber ein heutiges Rendez-Vous mit Bródy ist nicht mehr die direkte Fortsetzung der großen Beat-Ära. Im alt-neuen Bródy kommt eine ältere und andere Tradition an die Oberfläche - jetzt erhellt es sich, dass es am Anfang des Beat auch so war. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde eine Sprach- und Gesangsweise, "der Jude in Budapest" (siehe Mary Glucks gleichnamiges wichtiges Buch), in Cabarets und zu Chanson-Abenden geboren. Daran wirkten Dichter wie Endre Ady, Zoltán Somlyó oder Béla Reinitz, der als erster Ady vertonte ebenso mit wie die Conférenciers Endre Nagy (selbst ein ausgezeichneter Dichter), Dezsö Keller oder János Komlós. Im jetzigen Bródy-Konzert ließ er das fast identische Repertoire aufmarschieren, wie ein Jahr zuvor. Jedoch - und das hat er fantastisch gelöst - beherrschten die die Lieder verbindenden Monologe die Vorstellung mindestens dermaßen wie die Lieder selbst. Ich bin überzeugt, dass er jede Zeile, jede einzelne Pointe austariert und niedergeschrieben hat.
Conférencier? Stand up? Überflüssig zu definieren - Dialog. Oder: nur Rede. Und die fesselte eine stadionfüllende, sich so verschieden gebende, so verschieden artikulierende Fan-Masse. Heute. In Ungarn. Gewiss deshalb, weil sie ihre Energie, ihre Farben und Geschmäcker aus dem Beat-Humus saugte. Und das bot mehr zu Entdeckendes als die Aktualität oder die Botschaft, die ich, sensationshungrig, erwartet hatte. Bródy - das las ich aus seinem Gesichtsausdruck - als er sich mit seinen jungen Mitspielern verbeugte und dem Publikum für den Applaus dankte - mag gedacht haben: das wäre geschafft. Ja, er hat es geschafft. Vielleicht zum letzten Mal. Jedoch zum zweiten Mal und in anderer Qualität: auf dem Gipfel. Auf die Gefahr, wie ein Spielverderber zu klingen, kann ich mir nicht vorstellen, womit und wie er diesen Auftritt überbieten könnte. Wozu aber nicht überbieten? Ich hatte aber auch ein Mangelgefühl, ohne genau zu wissen warum. Dann kam ich drauf. Als ich doch noch eine Träne rollen ließ. Der Heultrieb fehlte mir zunächst. Er kam auch. Ich bekam auch ihn. In dem Moment, als nach mehrmaligem Zurückkommen auf die Bühne das Riff von "Warum ließen wir`s gescheh`n/Miért hagytuk hogy így legyen" erscholl. Da war es drin - nicht die empfundene Geschichte, die schüttelte er lässig aus dem Handgelenk - jedoch aller - lebender und toter - aus Fleisch und Blut bestehender Geistergestalten, die dieses Lied einst als ihre Hymne sangen, die in diesem Lied einzelne, einander zugehörende wurden. Und nun nimmermehr.