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"Neumond" Joachim Witt Oblivion/SPV 25. April 2014 1. Aufstehen 2. Die Erde brennt 3. Bis ans Ende der Zeit 4. Mein Herz 5. Es regnet in mir 6. Strandgut 7. Ohne Dich 8. Neumond 9. Spät 10. Dein Lied 11. Frühlingskind 12. Fahnenmeer Anmerkung: Auch als limitierte Auflage mit Bonus CD und den Songs "Hoping", "Der Herbst", "96 Tage", "Aufstehen (Martin Engler Remix)", "Die Erde brennt (Lord Of The Lost Remix)", "Mein Herz (Girls Under Glass Remix)", "Mein Herz (Unplugged)" und als Deluxe Fan Box mit diversen Beigaben erschienen. |
Was haben mich die Berichterstattungen über Joachim Witt in all den Jahren immer wieder genervt. In manch dunklen Ecken einiger Redaktionen sitzen scheinbar Leute, die entweder vom Leben enttäuscht sind oder Witt einfach nur nicht leiden können. Besonders die Schmähungen und Beleidigungen seiner Musik und Alben sind bei einigen Gazetten und Portalen schon vorhersehbar, sobald ein neues Album angekündigt wird. Sie kehren immer wieder, so wie die Jahreszeiten im Jahr. Kein anderer Musiker ist in diesem Land schon so oft für tot erklärt worden, wie der gebürtige Hamburger, und kein anderer Musiker ist so oft wieder aufgestanden und hat seine Musik für sich sprechen lassen. Für die Beschreibung von Witts Alben wurden gerade bei den letzten Produktionen von immer den gleichen Figuren die Worte "Bombast" und "Pathos" bemüht, Objektivität und Fairness wurden dabei jedoch komplett außen vor gelassen. Wer sich aber mal ernsthaft und intensiv mit Joachim Witt beschäftigt, stellt schnell fest, dass kein anderer Musiker in diesem Land so viel Abwechslung und Überraschungen zu bieten hat, wie er.
Vom Krautrock und spartanisch eingespielten NRW-Rock, über Pop- und Tanzmusik, wechselte er zur Neuen Deutschen Härte, zum Dark Wave und Gothic, um nur wenige Alben später bei klassisch angelehnten und detailverliebt arrangierten Kunstwerken in Liedform anzukommen. Und auch mit seinem neuen Album "Neumond" beschreitet er neue Wege und hat nun die Vielfalt der elektronischen Musik für sich entdeckt.
"Neumond" ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von Joachim Witt mit dem MONO INC.-Frontmann Martin Engler, und diese Konstellation scheint eine sehr fruchtbare zu sein. Alles um einen herum ist ab dem ersten Ton nebensächlich, wenn man sich auf die Musik konzentriert. Es ist eine großartige Stimmung, die Witt bereits mit dem Opener "Aufstehen" erzeugt. Chorale Gesänge und eine hypnotisierende Synthie-Figur bilden die Grundlage für Witts "Erzählungen" über eine offenbar erlittene Niederlage mit der trotzigen Botschaft im Refrain, man würde wieder Aufstehen und die Fahnen im Wind wehen lassen. Der ziemlich dunklen Musik setzt Komponist Martin Engler hier einen optimistisch arrangierten Refrain entgegen, und die eben schon erwähnte Stimmung in dem Stück sorgt für erste Gänsehautmomente.
Einen weiteren gibt es in "Bis ans Ende der Zeit". Ein Lied, das - wie der "Neumond" - die Angst vor der Dunkelheit nimmt. Ziemlich getragen und pompös-brodelnd baut sich das Stück auf. Glockenklänge auf düsterer Synthie-Auslageware, dezent verstärkt mit Paukenschlägen, leiten das Stück ein, das eine optimistische und Mut machende Botschaft in sich trägt: "... denn ich teile Deinen Schmerz | und ich teile Dein Leid | und ich teile Dein Empfinden | bis ans Ende der Zeit", heißt es im Refrain. Eine tolle Hymne mit Ewigkeitsgarantie!
Apropos "Hymne" ... Fast schon zum Tanzen animierend, hämmert sich "Die Erde brennt" in die Gehörgänge. Ein straffer Beat und Elektroklänge geben die Marschrichtung vor. Glockenschlag und Witts Gesang sind die weiteren Zutaten, die diesen Song zur perfekten Hymne werden lassen. Was für ein Sound ... Was für ein genialer Song!
Schon nach den ersten drei Songs wird deutlich, dass Joachim Witt auf seinem neuen Album Lyrik mit teilweise tanzbarer, an anderer Stelle auch mal eher zurückhaltend arrangierter, aber komplett elektronischer Musik verbindet. Dieser erste Eindruck wird im weiteren Verlauf der CD/Platte bestätigt. Auch in den anderen Liedern unternimmt Witt mit seinen Hörern eine Reise in die Tiefen seiner Seele und die Höhen seiner Phantasie. Vieles ist biographisch, manches vielleicht Träumen entsprungen oder Beobachtungen im Leben entnommen, aber stets mit Anspruch und Tiefgang in Worte verfasst. Gefühle und Emotionen werden durch die Mischung aus Musik und Text spür- und fühlbar. Das sind auch die Stärken des Albums! Diese Inhalte transportiert Witt mit einer exzellenten Mischung verschiedenster elektronischer Spielarten, und bedient dabei sogar das Radiopublikum, wie z.B. im Song "Mein Herz", das auch die erste Single aus dem Album ist. Das Lied mit seinem treibenden Arrangement ist für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr glatt poliert. Dies wird allerdings durch seinem gelungenen Text wieder wett gemacht. Hier ist das Anliegen des Künstlers sicher, den roten Faden des Albums und dessen Songs nicht abreißen zu lassen, aber trotzdem einen radiotauglichen Titel abzuliefern. Ebenso ist das im Stück "Es regnet in mir" zu beobachten, in dem atmosphärische Elektronik mit einem treibenden Beat unterlegt ist, der das Lied zum potentiellen Clubhit macht. Clubsound gepaart mit textlichem Anspruch. Was sich eigentlich widerspricht (Wer will beim Tanzen schon auf den Text achten?), funktioniert aber ausgezeichnet gut. Gab es sowas vorher schon? Ich kann mich nicht erinnern.
Hier sind es viele verschiedene Einzelheiten, die zusammen wirken und etwas Großes haben entstehen lassen. Text, Gesang und die dazu gut ausgewählten Kompositionen, die den Hörer mitnehmen und fesseln, sind nur einige davon. Über die volle Distanz von insgesamt 12 Songs (auf der Standard-Ausgabe) verfällt man dieser Musik und den Geschichten.
Joachim Witt verbreitet Zuversicht und Endzeitstimmung gleichermaßen gekonnt. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Texte oftmals auch mehrere Interpretationen zulassen und man sich auch in ihnen selbst wiederfinden kann ("Ohne Dich"). Andere Songs fallen durch harte elektronische Beats auf, über die Witt fast mechanisch seinen Text legt, und die nur im Refrain die Stimmung wechseln ("Dein Lied"). Außerdem trifft man immer wieder auf Lyrik und Anspruch ("Frühlingskind", "Neumond"). Einen Abstecher in Richtung Jean Michel Jarre und Vangelis erleben wir beim letzten Titel des Albums, "Fahnenmeer". Die Anleihen bzw. Inspirationen sind unüberhörbar, wirken aber nicht als plumpes Plagiat sondern als Weiterentwicklung und Umsetzen nach eigenen Ideen.
Man sollte Stimmen, die dieses Album in Richtung UNHEILIG verfrachten wollen, keinen Glauben schenken. "Neumond" hat einen anderen Anspruch und auch eine andere Qualität. "Neumond" will erkundet werden, besonders die Texte. Musikalisch ist das ähnlich. Was auf den ersten Blick gleich klingt, entfaltet seine Feinheiten erst beim genauen Hinhören. Die Ideen, die Martin Engler hier umgesetzt hat, sind erstklassig. Engler setzt mit seinen Kompositionen die Texte erst richtig in Szene. Emotionale wechseln sich mit düsteren Momenten ab. Immer wieder ist das feine Empfinden Witts und die Kunst, Gedanken und Gefühle in Worte zu kleiden, deutlich herauszulesen. Dies zu Entdecken und zu Begreifen bedarf es allerdings ein feines Gespür und die volle Aufmerksamkeit. "Neumond" ist kein Soundtrack für die Autofahrt zum Arbeitsplatz oder für einen Anfall von Putzwut. Für "Neumond" sollte man sich hinsetzen, ein gutes Glas Wein neben sich haben und einfach nur genießen, was Witt und Engler hier angerichtet haben. Der "Neumond" erleuchtet den Raum, in dem er konsumiert wird, und nimmt den Hörer gefangen. "Bombast"? "Pathos"? Mumpitz!
(Christian Reder)