Alex Behning: "Streunen ohne Schnur" (Album)

behning2020 20200429 1258211442VÖ: 29.05.2020; Label: Ufer Records; Katalognummer: UFR290520201 (CD)/UFR290520202 (LP); Musiker: Alex Behning (Gesang, Akustikgitarre, E-Gitarre, Pedal Steel, Harp), Sven Urbatzka (Klavier), Georg Schröder (Bass), Patrick Manzecchi (Schlagzeug), Detlev Martens (Percussion), Reverend CH. D. (Orgel, Harmonium), Notker Homburger (Dobro), Dnesh Ketelsen und Mirko Schmedtje (zusätzliche E-Gitarren); Musik + Text: Alex Behning; Produzent: Dnesh Ketelsen; Bemerkung: Dieses Album erscheint auf CD und Schallplatte, ihm liegen jeweils die Songtexte in abgedruckter Form bei;

Titel:
Aus den Fugen • Aussage gegen Aussage • Drehe mich ins Licht • Klein bei • Tief im Ärger • Ginster • Streunen ohne Schnur • Schwarze Katze kreuzquer • Weit weg • Lied der Wahrsagerin • Egal was passiert


Rezension:
Ihr, liebe Leser, die hier immer fleißig vorbei schaut, wisst es am besten, dass man die richtig gute Musik nicht mehr im Radio vorgestellt bekommt, sondern dass man sich selbst auf die Suche danach begeben muss. Zwischen all den extrem abenteuerlichen Laubsägearbeiten und den aus Kunststoff gegossenen Standard-Nümmerchen der Großindustrie, die sich oft nur durch den Text unterscheiden, verirrt sich nur noch selten der mutige Versuch eines Musikers oder Band, etwas anderes anzubieten. Die Pioniere, Forscher und abenteuerorientierten Weltreisenden in Sachen Musik werden ins Tagesprogramm der Sender ja gar nicht mehr vorgelassen. Vielleicht kommen sie in irgendeiner Sendung für fünf Minuten "zu Wort", die dann läuft, wenn der normale Mensch schon im Bett liegt oder das gemeine Volk vor den TV-Geräten hockt um sich von Krimi, Quizz oder Marvel-Verfilmung kurzweilig unterhalten zu lassen, aber ansonsten finden sie nicht statt. Da muss man sich als interessierter Musikfreund schon selbst auf die mühselige Suche bei kleinen Labeln und kleinen Netzradios oder vor die Live-Bühne begeben. Oder man hat es so gut wie wir bei Deutsche Mugge, die noch Perlen musikalischer Handwerkskunst und echte Überraschungen per Post aus allen Ecken des Landes mit der Bitte um Vorstellung zugeschickt bekommen. Unverhofft und überraschend, so wie die CD "Streunen ohne Schnur" des in Konstanz am Bodensee beheimateten Alex Behning.

Sein erstes musikalisches Lebenszeichen funkte der 1968 geborene Künstler vor knapp 20 Jahren in die Welt, als er mit der Gruppe NEULICH das Album "Raushörer" im Umlauf brachte. Ein weiteres NEULICH-Album und diverse Zusammenarbeiten mit Künstler-Kollegen (u.a. mit Frank Bornemann von Eloy, Dirk Riegner von den Guano Apes und Modo Bierkamp von den Donots) später, bereist Behning seit 2014 die Welt als Solist mit eigener Band. Den jugendlich-flippigen Pop-Rock-Mantel von NEULICH hat er längst ausgezogen und sich die Blues- und Folk-Kutte übergestreift. Blues und Folk? War da im Vorwort nicht von "mutigen Versuchen" und von "Pionieren" und "Forschern" die Rede? Ich höre die lauten Gedankengänge von einigen Lesern schon jetzt bis hierher, die zurecht fragen, was in dieser Richtung noch Innovatives und Überraschendes zu erwarten ist. Aber auch wenn man es nicht glauben mag ... man kann sowas auch in einer oft als tot beschriebenen Musikart finden. Hier nämlich!

Alex Behning startet in sein Album mit dem Song "Aus den Fugen" und den ersten Zeilen, "Ich steck meinen Kopf durch ´s Fenster und riskiere ´n Schuss in meinen Hut". Zu einer entspannt dahin gleitenden Südstaaten-Blues-Musik mit Jazz-Einschlag stellt Behning gleich eine Metapher in den Raum, die den Song einleitet. "Die Welt ist aus den Fugen geraten" könnt die Überschrift dieses Liedes lauten, denn es geht um Veränderungen und um Normalitäten, die nicht mehr auffindbar sind. Wo könnte ein solcher Text besser entstehen, als in der Altstadt von Dubai in mitten eines Sandsturms [sic!]. Ebenso locker und jazzig wie die Musik, wirkt auf mich als Hörer auch der Gesang von Alex Behning.
Wesentlich flotter und treibender kommt das folgende Stück "Aussage gegen Aussage" daher. Ein treibender Schlagzeug-Beat, ein straff voranschreitender Bass und eine düster wummernde E-Gitarre sind deutliche Merkmale dieser Nummer, die dem Hörer gehörig ins Bein und ins Ohr fährt. Auf dem Album ist dies der "auffälligste" Titel, den der Musiker selbst so beschreibt: "Eine Rockabilly Nummer mit Pulp-Fiction-Boost ... Ein musikalischer Ausreißertitel, aber im Kontext des Konzept-Albums mit der wichtigste Song." Erzählt wird die Geschichte zweier Kontrahenten, die ein offenes Ende hat und die den Hörer mit seinem Urteil allein lässt.
Wenn man beim Lauschen des Stücks "Klein bei" nur auf die Musik achtet und dabei die Augen schließt, kann man sich träumerisch auf eine amerikanische Landstraße wiederfinden, die man mit einem Auto entlang fährt und dabei genau diesen Song laufen hat. Luftig und leicht weht einem die Musik um die Ohren, die hier niemanden überansprucht und einfach nur genossen werden möchte. Inhaltlich geht es jedoch um das stetige Streben nach mehr und das Erreichen von Größe. "Der kleingeistige Größenwahn wird thematisiert", sagt der Musiker selbst über den Inhalt und setzt das einfache, kleine Glück daneben.
"Ich wusste nicht, dass man | Soviel Ärger haben kann", lauten die ersten beiden Zeilen im Song "Tief im Ärger". Immer wenn es um Ärger und Dinge geht, die nicht so optimal gelaufen sind, greift der Blues-Musiker zu seiner Gitarre und macht einen Song daraus. Ärger ist ein für den Blues so typisches Thema, wie die Liebe für den Schlager. Alex Behning lässt seinen Blues über den Ärger anfänglich bedrohlich anmutend erklingen, um ihm im Verlauf einen Schubs in die Südstaaten- und Delta-Blues-Richtung zu geben. Auch hier darf man wieder überrascht sein, wie knackig und frisch so 'ne olle Musike klingen kann.
Die Tätigkeitsbeschreibung "Streunen ohne Schnur" klingt irgendwie entspannt und locker, nach Freiheit und ohne Zielvorgaben, und genauso hört sich auch das gleichnamige Lied an. So muss wohl auch das Album entstanden sein, weshalb es auch diesen Titel trägt. Dem Blues-Schleicher wurde im Mittelteil übrigens eine herrlich klingende Gitarren-Figur implantiert, die für meinen Geschmack das herausstechende Merkmal dieses Songs darstellt. Wunderbar!
Es wird aber nicht immer gesungen auf diesem Album. Es gibt auch den wortlosen Moment, nämlich im Stück "Ginster", das nur von der Akustikgitarre (Alex Behning) und der Dobro-Slideguitar (Notker Homburger) zum Leben erweckt wird. Entstanden im Hotel am Morgen nach einem Konzert in Boscastle (Cornwall/UK), und diesen scheinbar besonderen Moment hat Behning hier versucht einzufangen.
Entlassen wird man aus dem Album mit der Ballade "Egal was passiert". Ein Lied, das den Anspruch stellt, dem Hörer Hoffnung zu schenken ohne kitschig zu sein. Und kitschig ist es auch nicht geworden. Eine sanfte Klaviermelodie ist der Geschmacksträger dieses mit dezenter E-Gitarre gewürzten und mit ebenso sacht gezupfter Akustik-Klampfe garnierten Nummer, mit dessen Zauber man nicht besser aus der letzten knappen Stunde hätte hinaus begleitet werden können.

Alex Behning gelingt es mit seinen 11 Liedern auf "Streunen ohne Schnur" den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Sekunde aufrecht zu erhalten. Bei ihm ist der Blues weder antiquiert noch tot. Würde man seine Musik - insbesondere aber seine Textdichtkunst - mit einem scharfen Messer schneiden, wäre das hervortretende Blut knallrot. Da steckt Leben in Texten, Arrangements und Noten, und die Freude am entstehen lassen, die der Künstler mit seiner Band im Studio gehabt haben muss, tropft aus jedem einzelnen Ton dieser Scheibe. Hier ist alles echt, da versteckt sich keine künstlich erzeugte Spielerei in den Liedern, denn es war wohl der eigene Anspruch, dass man das, was man instrumental umsetzen will, auch mit echten Instrumenten erklingen lassen wird. Das macht die ganze Sache ehrlich und darum kauft man dem Mann mit der markanten Stimme auch ab, was er einem hier erzählt. Dieses Album ist ein Volltreffer beim Griff in die Masse der unzähligen Neuerscheinungen. Vorbei an eingangs als Laubsägearbeiten und Plastikmüll beschriebenen Massenproduktionen und zahlreichen Wohnzimmerproduktionen, weil inzwischen ja wirklich jeder glaubt, eine CD machen zu müssen, wartet dieses Werk darauf, entdeckt, genossen und in Momenten des kulturellen Heißhungers immer wieder mit Vergnügen zu Rate gezogen zu werden. Euch, liebe Leser, die hier immer fleißig vorbei schaut und sicher auch diese Rezension gelesen habt, habe ich einen Teil der mühsamen Suche nach guter, echter und spanender Musik abgenommen, in dem ich dieses Album vorgestellt habe. Ich lege es Euch hiermit wärmstens ans Herz. Und bitte denkt daran: kaufen und NICHT streamen!
(Christian Reder)





Album-Trailer:








   
   
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