
der am 12. April 2011 verstorben ist

Ein Nachruf von Dirk Zöllner. Fotos: Matthias Rauhut, Patti Heidrich

Kurz vor seiner zweiten Rückenmarktransplantation besuche ich meinen Freund Thomas Maser noch mal im Krankenhaus und fliege dann für einen Kurztrip auf meine kanarische Lieblingsinsel La Palma. Zurückgekommen rufe ich zuerst meinen Sängerkollegen Dirk Michaelis an, in dessen Band Thomas zuletzt die Gitarren spielte. Ich will wissen, ob die Transplantation erfolgreich war. Ich habe Angst vor einer schlechten Nachricht und traue mich nicht, den Operierten direkt zu kontaktieren. Dirk M. ist unerreichbar. Ich versuche es vier Tage lang, immer dasselbe Ergebnis.
Ich bin mit der kleinen Mimitochter auf dem Boxhagener Platz und jage sie gerade durch den Sandkasten, als das Handy klingelt. Thomas ruft seinen feigen Freund selbst an. Er klingt müde. Ich plappere drauf los, Angst und Scham überspielend: "Was geht ab? ... La Palma ... mit Mimi ... Wollte dich auch grade anrufen!!!" - "Es hat nicht funktioniert." Mir wird schwarz vor Augen, aber ich plappere weiter: "Wie? Was? Wo steckst du? Wann kann ich dich besuchen? Thommy, du kriegst das gebacken! Zieh durch... auf zu neuen Ufern... blabla... Thomas Maser 2.0!!!"
"Ich möchte morgen sterben."
Das Herz schlägt mir bis zum Hals und ich muss mich hinlegen. Mimi krabbelt mir über den Bauch, Dutzende Kinder toben um mich herum über den Spielplatz, und ich kann Thomas kaum verstehen. Ich will ihn nicht verstehen. Er spricht leise, aber emotional ruhig und bestimmt:
"Alles gut. Keine Chemos mehr. Keine
Bluttransfusionen. Ich bin durch."
Bluttransfusionen. Ich bin durch."
Ich kann mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Er besitzt die unglaubliche Kraft, mich zu trösten. Er sagt, dass er dankbar wäre für unsere Freundschaft und mit seinem Leben im Reinen. Er könne das Wichtige vom Unwichtigen trennen - das hätte er gelernt, in den anderthalb Jahren seiner beschissenen Krankheit.

Es ist dunkel. Tiefschwarze Nacht.
Ich befinde mich in einem üblen Traum. 24 Stunden lang. Habe ich diesen Anruf von Thomas wirklich erhalten? Ich kann es sehen, im Protokoll meines Handys, muss mich aber immer wieder davon überzeugen. Ich rufe Uge an. Und Gensi und Matze und Sascha. Und Dirk M. spreche ich auf den Anrufbeantworter. Der ruft endlich zurück, und ich erfahre nur, dass er schon ein paar Tage involviert ist, ansonsten heulen wir uns nur an. Ich treffe mich mit Marco, der ebenfalls diesen Anruf erhielt. Wühle mich durch Umzugskartons voller Fotos, suche alles, was ich von Thomas finden kann.
Abends treffe ich mich mit Robert Gläser, der wie alle anderen sehr gut mit dem virtuosen Gitarristen zusammen gearbeitet hat. Er macht sich Vorwürfe, weil er Thomas nur einmal besucht hat und genau wie ich die direkten Anrufe fürchtete. Jetzt bringt er den Mut auf, eine SMS an den sterbenden Kollegen zu schreiben. Wir sind fassungslos, müssen uns betäuben. Anders würde wohl keiner in den Schlaf finden.
Über Nacht schlägt das Wetter um, es hat sich der Gefühlslage angepasst. Halb 12 holt mich Dirk Michaelis ab, wir gehen den schweren Gang gemeinsam. Ich erfahre von ihm, dass die Verweigerung von Bluttransfusionen und die gleichzeitige Erhöhung der Morphiumdosis ein sanftes Entschlafen unseres Freundes zur Folge haben werden. Vermutlich gegen Abend. Wie ferngesteuert gelangen wir an sein Bett, nur die Eltern sind noch vor Ort. Thomas ist nicht mehr ansprechbar. Sein armer hilfloser Vater versucht immer wieder einen Kontakt herzustellen. "Thomas, Thomas, der Scholle ist da! Scholle, sprich ruhig mit ihm, er versteht dich!"
Mechanisch grüße ich meinem schon schlafenden Freund von Uge, Matze, Robi. "Und von Gensi soll ich dir über die Haare streichen!" Die unzähligen Chemotherapien haben meinen Freund längst all seiner Haare beraubt. Ich heule. Ein Pfleger kommt ins Zimmer, wir erfahren, dass Thomas noch am Vorabend dem Personal seine Lieblingslieder auf der Gitarre vorspielte. Alles heult durcheinander.

Der nächste Termin rückt an, ein weiterer Thomasfreund. Dirk M. organisiert so etwas wie eine Sitzordnung am Bett. Schon wird die Atmung immer flacher. Wir alle halten unseren Thomas fest und merken doch, dass wir ihn gleich loslassen müssen. Fünf Minuten nachdem wir das Zimmer gemeinsam verlassen, stirbt er mit 41 Jahren in den Armen seiner Eltern. Vio, seine langjährige Lebensgefährtin, kommt etwa zwei Minuten zu spät.
Thomas, du hast uns gezeigt,
dass zumindest der eigene
Tod zu bewältigen ist!
dass zumindest der eigene
Tod zu bewältigen ist!
Du bist nachhaltig. Doch dass du jetzt nur noch in meinen Gedanken weiterleben sollst, ist ganz schwer zu verkraften! Ich muss dir doch noch so viel sagen. Noch was loswerden. Ich will mit dir reden und dir noch viel besser zuhören. In einem nächsten gemeinsamen echten Leben. Verdammte Scheiße - mir fehlt der Glaube! Ich sehe die Details, aber im Moment erkenne ich nichts. Ich bin erstarrt und ich starre. In die Frühlingsblüten, in die Sonne, in den Regen, in den Wind, in den Nachthimmel. Welcher von den Sternen hinter'm Mond bist du?
Zu selten habe ich Thomas während seines anderthalb jährigen Martyriums angerufen und noch seltener im gruseligen Benjamin-Franklyn-Krankenhaus besucht. Diese fürchterlichen zweckdienlichen Betonbauten haben auf mich seit eh und je die Ausstrahlung eines Grabsteins. Ich habe die Möglichkeit einer Niederlage gar nicht wirklich in mein Denken einbezogen, so wie ich auch die eigene Sterblichkeit nach wie vor stark anzweifle. Die Endlichkeit des eigenen privaten Universums ist mir völlig unbegreiflich. So unbegreiflich, wie die Unendlichkeit des großen Universums.

Als Kind habe ich oft darüber gegrübelt und bin manchmal in eine Art albtraumhaftes Wachkoma verfallen, sah auf einmal lauter bunte Zahlen, in allen Schreibweisen und Größen, in denen ich mich hoffnungslos verhedderte. Helfen konnte da nur meine Mutter, sie spürte immer sofort, dass da irgendetwas nicht stimmte mit mir. Von diesem tiefen unergründlichen Schmerz werde ich mein Leben lang gelegentlich heimgesucht. Zum Ausgleich gerate ich aber auch immer wieder in euphorische Verzückung. Mir fehlt das Maß. Der religiöse Lehnstuhl, der mich nach dem Gebet in den friedlichen Schlaf schaukelt. Das Morphium des Herrn, welches mich die apokalyptischen Momente ertragen lässt.
Zur Beerdigung an einem herrlich sonnigen Frühlingstag im Mai 2011 kommen über 200 Angehörige, Freunde, Kollegen und Fans. Trotz der vielen Menschen herrscht eine außergewöhnlich angenehme intime Atmosphäre. Ich weine die Tränen der letzten zehn Jahre. Gefrorene Tränen. Mein Leben verliert die Konturen, die selbst auferlegten Gedankenzwänge schmelzen dahin. Ich bin klein. Flankiert von Uge, der Mutter meines fünfjährigen Sohnes Egon und meiner Freundin Denise, der Mutter meiner kleinen Mimi sehe ich Gott. Schmerzlich. Schön. So soll es bleiben!
(Dirk Zöllner, 6. Mai 2011)