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Ein Beitrag von Christian Reder mit Unterstützung von
Josepha Gerlach. Fotos: Privatarchiv Familie Clausnitzer



Es ist September und an diesem 28. Tag liegt auch dieser Monat schon im Sterben. Der Herbst hat schon längst seine kalten Finger ausgestreckt und auch die letzten Boten des Sommers verscheucht. Der Himmel ist grau und bei kühlen Temperaturen sind am frühen Nachmittag dieses Montags Familienmitglieder,001 20201028 1408669950 Kollegen und Freunde von Rainer Clausnitzer zum Heidefriedhof in Dresden gekommen. Der Anlass ist genauso traurig wie das Wetter, denn Rainer lebt seit Anfang des Monats nicht mehr. Hier und heute will man Abschied nehmen - persönlich und vor Ort - und dem Musiker und Menschen die letzte Ehre erweisen.

Dabei hätte es gut und gerne auch der Dachdecker oder Rechtsanwalt Rainer Clausnitzer sein können, dessen letzte Reise man hier am 28. September 2020 in Dresden begleiten wollte. Rainer erblickte am 14. März 1951 in Dresden das Licht der Welt. Das war zu einer Zeit, in der es vom Rock'n'Roll noch keine Spur gab, und wo alles noch etwas konservativer ausgerichtet war. So hatten seine Eltern, der Kaufmann Fritz und die Laborantin Ulla auch immer die Hoffnung, dass ihr Sohn einen "soliden" Beruf erlernen und auch ausüben würde. Doch wie wir inzwischen alle wissen, wollte Rainer sein Leben mit etwas füllen, das ihn erfüllte und das ihm auch Spaß machte. Und das war nun mal die Musik. Schon früh hatte er Kontakt damit und hier speziell mit dem Klavier. Inspiriert wurde er durch seine Großmutter Elsa, die selbst gut Klavier spielen konnte und der er gern dabei zuhörte. Trotzdem spielte Rainer zuerst als Gitarrist in verschiedenen Amateurbands, u.a. in seiner ersten Band HERZBUBEN, denen er als Teenager beitrat. Erst später in den "Zwanzigern" kehrte er zu den schwarzen und weißen Tasten zurück.

Es ist inzwischen 14:30 Uhr an diesem Herbsttag im September 2020, und die Trauergäste haben sich inzwischen in und vor die kleine Kapelle auf dem Heidefriedhof begeben. Eigentlich fasst sie knapp 80 Personen, aber wegen der Hygienevorschriften, die wir dem Corona Virus zu verdanken haben, dürfen derzeit nur 30 Leute hinein. Diese Plätze haben die Freunde und Kollegen Rainers aber erst mal doch der Familie überlassen. Man wartete ab, ob noch Platz bleibt, oder hielt aus Gründen der Rücksichtnahme pauschal Abstand von einem Sitzplatz im Inneren. Die Mehrheit der Trauergäste lauscht der Rede jedoch von draußen. Neben der Trauerrede gibt es auch Musik - wie könnte es anders sein, wenn ein Musiker zu Grabe getragen wird. Ein Pianist spielt zu Beginn Beethovens 7. Sinfonie und zum Abschluss das Lied "If You Leave Me Now" der Gruppe CHICAGO auf dem Synthesizer. Die Rede wird im Mittelteil auch kurz unterbrochen, damit zusätzlich das Stück "A Whiter Shade Of Pale" der Gruppe PROCOL HARUM gespielt werden kann. Dies hatte sich die Familie so gewünscht.

In dieser Zeit - gerade wenn die Musik spielte - hatte man in der Kapelle und auch davor viele Augenblicke, um sich an Rainer zu erinnern. Dabei fiel dann auch auf, dass Rainer den Wunsch seiner Eltern letztlich doch noch ein Stück weit erfüllt hatte, was das Ergreifen eines "soliden" Berufs betrifft. Nach der Schule begann er nämlich eine Ausbildung zum Werkzeugmacher beim VEB Hochspannungs-Armaturenwerk in Radebeul. Dann holte ihn die Nationale Volksarmee. Eine Zeit, der er so gar nichts abgewinnen konnte und in der es auch mal zu "Meinungsverschiedenheiten" mit Offizieren kam. Als er den Pflichtdienst abgeleistet hatte, arbeitete er Anfang der 70er wieder als Werkzeugmacher, und zwar im Presswerk in Ottendorf-Okrilla, anschließend noch drei Jahre als Automatenbauer und Mechaniker bei der Dresdner Firma Solidor. Geregelte Arbeitszeiten, die nebenher immer noch genug Zeit für die Musik ließen. Diverse Amateurbands freuten sich damals über sein Mitwirken. Ab 1976 setzte sich aber die unbändige Leidenschaft für die Musik durch und Rainer begann ein Abendstudium in den Fachrichtungen Klavier und Komposition/Arrangement an der Hochschule für Musik "Carl-Maria von Weber" in Dresden, an dessen Ende er mit seinem Abschluss auch den Berufsausweis erwarb. Das "leise" und geordnete Leben war vorbei, es wurde "laut" und voller Abenteuer, denn Rainer war nun Berufsmusiker. Seine ersten Stationen als Profi waren die als Pianist und Keyboarder in der Jazzformation FAT, in der Rockgruppe ELEPHANT und im Peter Baptist-Sextett. Vielseitigkeit war gefragt, und die hatte ihm die Natur schon mit in die Wiege gelegt. Einem größeren Publikum wurde er aber als Mitglied der Gruppen SIMPLE SONG und GENERATOR bekannt, in denen er in den 80ern spielte und mit denen er auch Plattenproduktionen, TV-Auftritte und Tourneen machte. Bis zur Wende gehörte Rainer Clausnitzer der DDR-Musikszene an, steuerte seinen Teil zur Musikgeschichte bei und hinterließ dort seine Spuren.

Mit der Wende im Jahre 1989 verschwand nicht nur diese Kulturszene, sondern auch eine Vielzahl an Möglichkeiten für DDR-Musiker, sich und ihr Können weiter zu zeigen. Aus "laut" wurde unfreiwilliger Weise wieder "leise". Was auf der Bühne nicht mehr ging, lebte der Musikant dann eben abseits dieser aus. So bestimmte die Musik während der Durststrecke Anfang der 90er auch weiter sein Leben, denn er war ab 1991 als Musiktherapeut im Jugendhilfezentrum Moritzburg des Ev.-Luth. Diakonie-Hauses tätig. Dort betreute er u.a. traumatisierte Kinder und Jugendliche, die Gewalt am eigenen Leib erfahren haben, aber auch autistische Kinder und Jugendliche. Erst Ende der 90er kam wieder Schwung in die Musikkarriere. Die Rückkehr auf die Bühne fand 1997 mit der Gründung der Band BLACK BUSTER statt, bei der er als Keyboarder und Komponist sein Können einbrachte. Mit dieser Band wurde auch das Album "Let The Butter Fly" produziert. Weitere Stationen waren die Gruppen PADDY'S BLUESBAND, SOULMAMA'S CREAM, das Kultorchester JACKPOT, die NEON Band, MCC-Tribute und HAESEL'S ROCK- & BLUESBAND, bei der er bis zuletzt zur Besetzung gehörte.

Nach 30 Minuten ist die kleine Andacht beendet und der Trauerzug aus Familie, Freunden und Musikerkollegen setzt sich zur letzten Ruhestätte in Bewegung. Erst jetzt erkennt man so richtig, wie viele Leute gekommen sind. Verteilten sich vorher alle in und vor der Kapelle, sah man nun neben Familienmitgliedern und Bekannten auch Musiker von den eben schon erwähnten HAESEL'S ROCK- UND BLUESBAND, PADDY'S BLUESBAND, SOULMAMA'S CREAM und einigen anderen Formationen, in denen Rainer gespielt oder mit denen er in all den Jahren zu tun hatte. Sie alle sind ebenso gekommen, wie die Leiterin und verschiedene Lehrer der Musikschule Herrmann aus Radeberg, in der Rainer ab 1997 als freiberuflicher Musiklehrer tätig war. Eine beeindruckend große Gruppe Menschen, die hier schweigend und tief in Gedanken um ihren Freund gemeinsam trauern. Sein Tod überraschte letztlich alle.

Rainer lebte sein Leben nach seinen Vorstellungen, nämlich als Freigeist. Er stand dabei aber immer erst an zweiter Stelle. Eher hatte er das Wohl anderer im Blick als sein eigenes. Speziell für seine Kinder Philipp und Josepha war er ein liebevoller und fürsorglicher Vater. Für sie war er immer da, stand ihnen stets zur Seite und tat für sie auch alles. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Voller Empathie hatte er für seine Mitmenschen stets ein offenes Ohr, hörte sich ihre Probleme und Sorgen an und versuchte, wenn er konnte, zu helfen. Einen guten Rat hatte er aber immer. Er selbst - so erzählt seine Tochter - hat den Rock'n'Roll gelebt. Am Tag genoss er gern eine Flasche Wein und dabei ging auch eine Schachtel Zigaretten drauf - ganz egal, was die Wissenschaft über die Auswirkungen dieses Lebenswandels zu sagen hatte. Das Leben war für ihn Genuss. Außer der Familie und seinen "größten Hits" Philipp und Josepha, liebte er seinen Garten, der schon parkähnliche Züge angenommen hatte, und seine Katze. Demnächst wäre noch etwas dazu gekommen, in das er - so viel ist sicher - seine Liebe investiert hätte, denn Rainer wäre im nächsten Jahr zum ersten Mal Großvater geworden.

An der letzten Ruhestätte auf dem Dresdener Heidefriedhof wird jedem der Anwesenden nochmal bewusst, dass das hier ein Abschied für immer ist. Insbesondere auch seiner Tochter Josepha fällt es sehr schwer, stark zu bleiben. Als die Urne mit dem Blumenschmuck ins Grab gelassen wird, lässt so manch eine(r) den Gefühlen freien Lauf. Der Kollege, der Kumpel, der Freund, der Vater, der Nachbar, der Mann, über den wirklich jeder in den höchsten Tönen spricht, sagt leise "Auf Wiedersehen". Er wird ihnen in Erinnerung bleiben als der humorvolle Mensch, der alle um sich herum mit seiner Art zu Freunden werden ließ. Dies erlebte u.a. auch sein Schwiegersohn in spe, ebenfalls Musiker, mit dem Rainer oft und viel über Musik und Bands plauderte. Während der junge Mann in ihm ein Vorbild sah, war Rainer unheimlich stolz auf das, was der Freund seiner Tochter machte. Vielleicht sah er in ihm ja auch eine jüngere Ausgabe von sich selbst, man weiß es nicht, aber auf jeden Fall waren beide beseelt von des anderen Tun und Erzählen. Viele andere Weggefährten werden sich wohl bis an ihr eigenes Ende an Rainer den Geschichtenerzähler erinnern, der immer Anekdoten aus seiner Zeit als Musikant parat hatte und diese lustig verpackt in die Runde warf, oder an Rainer den Gesprächspartner, der als belesener und aufmerksamer Geist immer ein Zitat aus einem der von ihm in großen Mengen konsumierten Büchern einfließen ließ. Jeder, der zur heutigen Beisetzung gekommen ist, bekommt noch einen kleinen Augenblick am Grab, um für sich allein einen Moment der Andacht zu verbringen oder leise ein paar letzte Worte des Abschieds zu sprechen. Viele legen Blumen ab und die Familie ist von dieser großen Anteilnahme total überwältigt.

Das alles ist so irreal und auch noch so unwirklich, denn es ist kaum einen Monat her, da war Rainer noch unter uns. Keiner hat damit gerechnet, dass das alles so schnell vorbei sein würde, auch wenn er gesundheitlich bereits angeschlagen war. Es ging auch alles viel zu schnell … Ihm machte eine Herzschwäche zu schaffen, wegen derer sein Sohn Philipp im vergangenen August den Notarzt rufen musste. Dieser überwies ihn auch sofort ins Krankenhaus, wo man umgehend mit tiefgreifenden Untersuchungen begann. Aber Rainer wollte das nicht. Er entließ sich selbst und wollte stattdessen zurück nach Hause.005 20201028 1227300281 Vielleicht ahnte er schon, was da mit ihm gerade passierte und suchte deshalb lieber die Nähe zur Familie, als die direkte ärztliche Versorgung im sterilen Krankenhaus. Nur wenige Tage später ging es aber nicht mehr und der Musiker wurde nach gutem Zureden doch wieder ins Krankenhaus eingeliefert. Die Herzerkrankung hatte Wassereinlagerungen verursacht, die nun lebensbedrohlich waren.- Noch einmal ging in diesen letzten Tagen für unseren Freund Rainer die Sonne auf, als ihm seine Tochter am 3. September von ihrer Schwangerschaft und seiner bevorstehenden Zeit als Großvater berichtete. Es zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht und flutete seinen geschwächten Körper noch einmal mit Glückshormonen. Doch dieser Körper hatte keine Kraft mehr. Rainer Clausnitzer starb am 5. September 2020 im Alter von nur 69 Jahren.

Die Familie von Rainer kehrte nach der knapp einstündigen Trauerfeier nach Hause zurück. Dort bewirtete sie im Garten noch ein paar Trauergäste, die mit ihnen gekommen waren und man erzählte sich Geschichten über gemeinsam mit Rainer erlebte große und kleine Abenteuer. Sicher hätte die Familie den Hauptdarsteller dieser Geschichten viel lieber bei sich gehabt, schaut aber dankbar auf die Zeit zurück, die sie ihn bei sich haben durfte. Es ist heute sicher als Glücksfall zu bezeichnen, wenn ein Mensch friedlich und in sich ruhend den Planeten verlassen darf und dies ohne monatelange Kämpfe, die eigentlich doch von Anfang an aussichtlos sind, tun kann. Wie schon erwähnt, hat Rainer Clausnitzer sein Leben gelebt und geliebt. Er hat die 69 Jahre mit dem Fuß auf dem Gaspedal stehend erreicht, ohne dabei in irgendwelche Exzesse oder Skandale abzurutschen. Rainer Clausnitzer hat bis zum Schluss aufrecht gestanden und sein Leben selbstbestimmt leben können. Dass er nun nicht mehr da ist, ist für die, die er zurückgelassen hat, schmerzlich und die Wunde, die sein Tod hinterlassen hat, wird auch nie ganz verheilen. Aber die Dankbarkeit dafür, ihn gekannt und geliebt zu haben, mit ihm Zeit verbracht und gemeinsam Dinge erlebt zu haben, werden schon morgen überwiegen und die Traurigkeit verdrängen. So wie der nächste Frühling auch den nun kommenden Winter verdrängen und wieder Platz für den Sommer schaffen wird.