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Ein Lobgesang von Christian Reder


In diesem Jahr blickt unser Land auf "15 Jahre Deutschland sucht den Superstar" zurück. Ja, ich schaue da ab und an rein - ich gebe es zu. Ich möchte schließlich wissen, was um mich herum passiert. Ein echter Stratege würde sagen, "Man muss immer darüber informiert sein, was der Feind so treibt!" Wer den Sekt noch nicht kalt gestellt hat, sollte das schnell nachholen, denn es gibt wirklich was zu Feiern. Sind andere Casting-Formate bereits ausgestorben, hält sich dieses kulturelle Highlight tapfer am Markt und darf samstags zur besten Sendezeit weiter unseren Kids erklären, wie der Rock'n'Roll funktioniert. Musikalische Früherziehung auf eine Art und Weise, wie man sie vor Jahren nicht für möglich gehalten hätte und von der man eigentlich auch froh ist, sie selbst so nicht genossen zu haben. Wer in den 60ern bis 80ern Teenager und musikinteressiert war, kennt noch den steinigen und harten Weg über Proberäume und Clubs, bis man als Musiker endlich wahrgenommen wurde. Man spielte sich den A... ab und mit etwas Glück (und natürlich Talent) hatte man sich irgendwann ein Publikum und im Idealfall auch einen Plattenvertrag erspielt. Diesen Weg kann man sich seit 2002 sparen, denn am schnellsten kommt man heuer auf die Bühne und in die BRAVO, wenn man zu einem DSDS-Casting geht. Statt muggen in Clubs heißt es fremde Lieder auf den Dächern von Dubai, an weißen Sandstränden in der Karibik oder in den Straßen Cubas nachzusingen. Also dort, wo der Rock'n'Roll seinen natürlichen Lebensraum hat. Das ist Rock'n'Roll 2.0, liebe Kinder. Das kritische Publikum in verrauchten Läden wird heute von Fachpersonal aus der Musikbranche ersetzt, das an einem Jury-Tisch hockt. Statt hilfreicher Kritik aus der ersten Reihe wird man nach Lust und Laune von Figuren beleidigt, die selbst laut danach schreien, für eine Vielzahl von Schwächen und Peinlichkeiten beleidigt zu werden. Da saßen über Jahre schon Leute in der Jury, die früher auf dem Pausenhof ordentlich Senge bekommen hätten. Diesen Fachleuten sind Stimme oder musikalisches Verständnis nicht mehr so wichtig. Eigene Ideen, was Lieder oder die Karriere betrifft? Bitte gleich an der Garderobe abgeben. Viel wichtiger ist vor allem für Vorturner Bohlen das Aussehen, und ob Du zum Gesang auch den Hintern richtig bewegen kannst. Erheben wir unser Glas also für den Fortschritt im Bereich Rock'n'Roll. Alles wird glatter, leichter und beliebiger. Danke RTL! Danke DSDS!


Für den geeigneten Kandidaten auf dem Siegertreppchen sorgt eben schon erwähnte Jury, die einen wie ein juckender Ausschlag am Fuß über alle Folgen der Staffel begleitet und nach allen Kräften nervt. Saßen anfangs neben Dieter Bohlen, der als einziges Jury-Mitglied seit 14 Staffeln durchgehend dabei ist, mit dem Radiomoderator Thomas Bug (heute beim WDR-Fernsehen), der Musikjournalistin Shona Fraser (heute bei RTL2 tätig) und Thomas M. Stein (früher mal bei der BMG Ariola tätig) Leute in der Jury, die zumindest in Ansätzen was mit Musik zu tun hatten, sind das inzwischen Leute, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt damit in Verbindung bringen würde, bei irgendwas ein "Experte" zu sein. Einer von ihnen ist H.P. Baxxter von SCOOTER, einem Musikprojekt, dass sich seit Jahren tapfer gegen die Ausrottung der Techno-Musik stemmt und der damit seit den 90ern ein und dieselbe Musik produziert. Bohlen und er sind ganz offenbar Brüder im Geiste, denn auch der semmelblonde "Komponist" wiederholt sich bekanntlich gern und oft. Während Hans-Peter Geerdes, so der richtige Name von Baxxter, bei seiner Hauskapelle eher nichts mit Singen und vielmehr was mit dem Rufen von Textpassagen durch Megaphone und andere Verstärkungs-Hilfsmittel zu tun hat, entscheidet er am Jury-Tisch darüber, wer gesanglich talentiert ist und wer nicht. Baxxter ist von den vier aktuellen Mitgliedern der DSDS-Judikative noch der Sympathischste und zudem auch als Sänger eben genannter Band zumindest seit einigen Jahren in Kontakt mit Musik ... Anders sieht das bei der Frau namens Barbara Shirin Davidavicius, kurz Shirin David, aus, die besonders dadurch auffällt, dass sie in jeder Einstellung eine andere Frisur hat. Dieses ständige Wechseln der Schädeldachbepflanzung sorgt zwar für Abwechslung, dumm ist aber nur, dass ihr nichtssagender Gesichtsausdruck stets der gleiche bleibt. Was sie dazu befähigt, über das Wohl und Wehe von jungen Menschen, die gerne singen möchten, zu urteilen, erschließt sich einem auch nach mehreren Folgen nicht. Bis jetzt hat sie noch nicht einen einzigen sachdienlichen Satz aufgesagt, der auch nur in Ansätzen was mit musikalischem Hintergrundwissen zu tun hat. Aber hey ... wenn man keinen Plan hat und auch sonst nichts auf der Pfanne, wird man heute YouTuber. In Zeiten, als das Internet noch nicht so dominierend war, hätte mir ein Mädel wie sie wohl einen leckeren Burger aus einer kleinen Luke beim Drive-In heraus gereicht. Heute wird man Internetstar. Das scheint inzwischen ein Beruf zu sein, der zwar von der Industrie- und Handelskammer noch nicht als Lehrberuf ausgewiesen ist... aber ist doch dufte, wenn jemand ohne groß was zu können von der Straße weg ist. Apropos "ohne groß was zu können". Ebenfalls in der Jury sitzt die Sängerin Michelle Zeit ab. Michelle? Hatte die nicht schon ihren Rücktritt von der Bühne erklärt? Jau ... hat sie. Gefühlte 20 Mal sogar, aber sie kam zum Ärger aller Musikfreunde mit Geschmack bisher immer wieder. Die Frau mit der verdammt großen Fresse, der dafür aber auch verdammt dünnen Stimme, sitzt dort stets frisch geföhnt und wie Gräfin Marzia neben dem selbsternannten Pop-Titan und spricht echten Talenten das Zeug zu einer großen Gesangskarriere ab. Das finde ich schon bemerkenswert, wenn jemand mit einer Stimme, die man eher im Synchronstudio beim Vertonen von Zeichentrickfilmen verorten würde, anderen Menschen mit echt guten Stimmen sagt, sie würden nichts können. Mal ehrlich, wenn jemand als einziges richtiges Talent nur das besitzt, Sauerstoff in Kohlenstoffdioxid zu verwandeln, wirken Aussagen und Wertungen wie ihre doch eher komisch, oder? Tragisch nur, dass ihre Stimme in der Jury - anders als auf CD oder einer Bühne - Gewicht hat und für den betreffenden Bewerber über ein Weiterkommen entscheidend sein kann. Der vierte und letzte im Bunde ist der eben schon erwähnte Pop-Titan, der sich allen Ernstes für einen großen Musiker und Komponisten hält, und der von Anbeginn des Formats auf eine nur noch pathologisch zu nennenden Weise narzisstisch rumfaselt. Auch Bohlen ist in der Vergangenheit eher selten bis gar nicht durch erwähnenswerte Gesangsleistungen aufgefallen. Auch beim Schreiben von Liedern hat er sich mehr von Ideen anderer Musiker lenken lassen, als dass er gute eigene Einfälle gehabt hätte. Aber er konnte schon immer gut mit Reglern umgehen, muntere und tanzbare BumBum-Sounds unter eher seichte Melodiechen mischen und dazu große Reden schwingen. Und trotzdem wird der Herbergsvater von RTL hofiert, als sei er der Heilsbringer der Musikbranche. Vieles, was dieser Kollege absondert (verbal wie in Liedform) bleibt unkommentiert so stehen und wird gerade von den Kids, die Dank der Gnade einer späten Geburt an kompositorischen Höchstleistungen wie z.B. "You're My Heart You're My Soul" oder "My Bed is too big" vorbeigekommen sind, ernst genommen. Hier frage ich mich, wieso in all den Jahren die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien noch nicht eingeschritten ist. Vielleicht liegt es ja daran, dass sie eine Vielzahl ihrer Mitarbeiter für Die Ärzte abstellen muss. Öffnen wir also Sektflasche Nummer Zwo für die stets gelungene Auswahl an Jury-Mitgliedern mit Sachverstand und Kenntnissen zum Thema. Nur noch eine Frage der Zeit, dass die Damen und Herren für ihr Unternullgelaber von der Gesellschaft für Inhaltlosigkeit und Nichtmehrganzdichtung ausgezeichnet werden.


Ein echter Musiker mit Größe würde einen nicht ganz so talentierten Kollegen zur Seite nehmen und ihm sagen, was er falsch macht und was er vielleicht besser machen kann. Aber mit Größe zeigen hat es RTL von Hause aus ja nicht so und das pseudofachmännische Personal der Show käme ja auch nur halb so witzig rüber, würde man es dort mit Ernsthaftigkeit, Professionalität oder ernstgemeinter, hilfreicher Kritik probieren. Das einzige was da kritisch ist, ist der Geisteszustand einzelner Selbstdarsteller. Auf der anderen Seite wäre es ja auch keine Show, die ein Millionenpublikum an sich bindet, wenn das Konzept irgendwen weiterbringen würde. Da widmet man Sängerinnen und Sängern, denen im Freundeskreis wohl niemand sagt, dass das mit der Singerei nix wird und die sich beim Casting kräftig in den Tönen vergriffen haben, viele viele Sendeminuten, um sie vorzuführen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Ein bisschen Spaß muss sein, auch wenn das Niveau schon in den streng riechenden Teil südlich der Gürtellinie abgesackt ist. Und da köpfen wir gleich die nächste Pulle Sekt, denn seit 15 Jahren liefert man fleißig die Steilvorlagen und hilfreiche Tipps für das tägliche Mobbing in Schule und Büro. Wenn die das im Fernsehen schon machen, können das Kevin, Schackeline und Zellien in der 8b doch auch. Bildungsfernsehen für Misanthropen und solche, die es noch werden wollen. Es lebe die Oberflächlichkeit in unserer pittoresken neuen Welt.


Die vierte und letzte Sektflasche köpfen wir für die bleibende Wirkung, die 15 Jahre DSDS so mit sich gebracht hat. Die jüngeren Generationen hören Musik inzwischen nicht mehr, sie konsumieren sie. Konzerte werden heute eher seltener besucht, denn man schaut sich lieber die Motto-Shows live im Fernsehen an. Wohnlandschaft statt Beine vor der Bühne in den Bauch stehen. Lieder sind zudem Wegwerfartikel geworden und den Zusammenhang von mehreren Songs auf einem Album kann die Masse gar nicht mehr nachvollziehen. Was ist ein Konzeptalbum? Songinhalte sind nebensächlich geworden und - falls überhaupt wirklich vorhanden - sollten sie nach Möglichkeit nirgendwo anecken. Da darf der knapp 20-jährige und heterosexuelle Hauptgewinner einer Staffel den von Bohlen ausgeschiedenen Titel "Take Me Tonight" ("Nimm mich heute Nacht") singen und sich am Ende wundern, warum über ihn gelacht wird. Heute, 15 Jahre nach diesem Vorfall, würde das keinem mehr auffallen. Den Zuschauern des Formats und des Senders RTL nicht, weil sie es nicht mehr bemerken würden. Den anderen Menschen im Land nicht, weil sie sich DSDS gar nicht erst mehr anschauen. Und für die letzte Gruppe der Mitmenschen müsste man eigentlich noch eine fünfte Flasche Sekt köppen. Für die fallenden Zuschauerzahlen seit Jahren noch eine sechste. Und dafür, dass dieses Format in 15 Jahren wirklich KEINEN Superstar hervorgebracht hat, noch eine siebte. Man wäre am Ende richtig schön stramm und hätte möglicherweise sogar etwas Spaß an dem, was uns RTL da samstäglich serviert. Scheiß Alkohol!


   
   
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