Teil 10

Der zehnte und letzte Teil von Michael Heubachs Autobiographie handelt von seiner Zeit als Mentor der Mädchenband NA UND, seiner Rückkehr zur Gruppe LIFT und über die Beschaffung und "Entsorgung" von überteuerten Westinstrumenten. Außerdem erzählt Michael über eine Dienstreise ins Ausland, genauer gesagt zu einem GENESIS-Konzert in Budapest, sowie die Beschaffung eines "Reisepasses" für Tripps in den Westen. Er gibt Einblicke in seine erste Westberlin-Reise, sowie Geschichten über seine weiteren, späten aber häufigen Westreisen, nach Westberlin, Köln, Hamburg und nach Lüneburg und über die Zeit nach der Wende...
 

Mentor für eine Mädchenband mit Folgen
Nach Auflösung des Unternehmens Elke Martens hielt ich weiterhin Kontakt mit dem Gitarristen Leo L. und zu Istvan Farkas. In dieser Zeit machte er mir ein Angebot, denn clever wie er war, hatte er schon ein nächstes Projekt im Auge: Eine Mädchenband! Mädchen an Instrumenten waren in der Popmusik rar, es gab nur erst eine Mädchenband in der DDR, die war aus Berlin und hieß MONA LISE. Bei ihr spielte am Keyboard Liese Reznicek, die nach mir die Spezialschule für Musik in Halle besucht hatte (aber das habe ich ja schon mal erwähnt). An der Dresdner Bezirksmusikschule gab es ein paar Mädels, die auch im Fach Tanzmusik ausgebildet wurden. Die sammelte Istvan zusammen und gründete die Mädchenband NA UND! Jedenfalls schien es so, als hätte er sie gegründet. Sie waren noch blutjung und mädchenhaft kindisch, hatte aber den Ehrgeiz, den Berlinern mal den Daumen zu zeigen. Ohne Anleitung wäre das aber auf die Dauer nicht möglich gewesen und so organisierte Istvan für mich einen weiteren Mentorvertrag. Damit war ich verantwortlich für den musikalischen Weg von vier Mädchen - der Mentor als Hahn im Korb. Das einzige Talent war die Schlagzeugerin, alle anderen waren so lala. Sie wollten in erster Linie eine Hardrock-Coverband sein. Ich schrieb natürlich auch ein paar Songs, es kam aber nie zu einer Veröffentlichung welcher Art auch immer. Die Pianistin schien mir unter 150 Zentimeter und hatte dementsprechend kleine Hände. Ihre Handspanne schaffte nicht mal eine Oktave und ich musste mir immer etwas einfallen lassen, wie ich Pianoparts umarbeiten konnte, damit sie für sie spielbar waren. Eigentlich hätte man die Gitarristin auch auswechseln müssen, aber es war die einzige, die es gab. Mit dem nötigen Selbstbewusstsein überspielte sie aber ihre dilettantische Spielweise. Dem männlichen Publikum war es ohnehin egal, die hörten ja die Mädchenband nicht, sie sahen sie nur. Bei der Armee wurden Feste gefeiert, das könnt ihr glauben! Bei einem Unfall überlebten zwei Mädchen nicht, an ein Weiterspielen war im ersten Augenblick nicht zu denken und ich stieg als Mentor aus dem Projekt aus.


Im Sommer inspirierte mich eine kurz zuvor beendete Beziehung zu fünfzehn Songs, die ich hintereinander schrieb und in meinem Wohnzimmer in der Schönhauser Allee "produzierte", und die ich - man beachte - auch sang! Schuld daran war nicht nur eben erwähnte Beziehung, sondern auch mein neu erworbener polyphoner Synthesizer YAMAHA CS60. Den hatte ich mir aus Westberlin auf abenteuerlichen Wegen rüberbringen lassen. Der Verkäufer war ein alter Bekannter: Franz Bartzsch. Ich bezahlte dafür die horrende Summe von 24.000,- Mark und das nur, weil hier vier Töne auf einmal gespielt werden konnten. Heute sind es 128. Ich hatte mit diesem Instrument nicht viel Glück. Ende 1986 machte Till Patzer mit einer Band eine Sowjetunion-Tournee, bei der mein Synthesizer mitgenommen worden ist, um ihn dort zu verkaufen. Der Clou: Es wollte ihn keiner! Entweder er war zu teuer oder das Modell schon zu museal. Da blieb ihnen nur noch eine Möglichkeit, nämlich das Ding verschwinden zu lassen, um wenigstens die Versicherungssumme zu kassieren. Als ihr Equipment samt Synthesizer am Moskauer Flughafen aus einem Lastkraftwagen in den Frachtraum gebracht werden sollte, gaben sie dem Fahrer durch Gesten zu verstehen: Das Ding bleibt da! Der verstand natürlich nicht, was da geplant war und wollte es wieder auf dem Rollfeld abstellen.


"Njet, njet, mein Sohn, hier lassen, du verstehen?", sagten die LIFT-Techniker zu ihm. Doch der sagte auch "njet, njet", und wollte das Geschenk aus dem Bruderland nicht annehmen. Ich weiß nicht, aber irgendwie haben sie es doch hinbekommen, dass das teure Stück in der Sowjetunion blieb und auf dem Schwarzen Markt in der Tunguska, wo einst der Meteorit niederging, mindestens 500 Rubel einbrachte. Ende gut, nicht alles gut, aber wenigstens ein bisschen - nach einem Vierteljahr erhielt ich die klägliche Versicherungssumme: 5000,- Mark. Ost! Immerhin, fast ein Fünftel. Und in der Taiga lacht man wieder.
 

Trotzdem, dieser Synthesizer hat mich zu vielen neuen Songs inspiriert. Ich hatte damals noch keinen eigenen Drumcomputer, aber der Musiker Julius Krebs, der zu meinen guten Bekannten zählte, hatte ein gutes Modell der Firma ROLAND. Den lieh ich mir einmal von ihm aus und suchte ein paar brauchbare Universal-Beats. Diese nahm ich dann in einer Länge von fünf Minuten mit meinem Kassettenrekorder auf, sehr vorsintflutlich, aber effektiv! Das wiederholte ich mit verschiedenen Beats in verschiedenen Tempi und erstellte mir so einen Beatfundus. Hatte ich eine kreative Phase, stellte ich den Rekorder an und ließ einen Beat laufen, während ich dazu spielte. Heute würde ich mich verschämt umdrehen, müsste ich jemandem ein auf diese Weise erstelltes Demo anbieten, aber damals war es eben Alltag, der Alltag eines Ostmusiker eben.


Live-Elektronik ohne Fallnetz
1983 durfte ich auch mal die musikalischen Übergänge in einer Wissenschaftssendung von Radio DDR 2 am Keyboard improvisieren. Die Sendung wurde live aus der Archenhold-Sternwarte übertragen. Ich schleppte also mit einem Kumpel den CS60 unter die Kuppel der Sternwarte, wo ein langer Tisch stand, auf dem Mikros für die geladenen Wissenschaftler aufgebaut waren. Auf diesen Tisch musste auch mein Synthesizer einen Platz finden. Er wurde mit der Tonregie im Ü-Wagen verkabelt, ich bekam Kopfhörer, und das war der ganze technische Aufwand. Ich erhielt vom Sternwartenchef Prof. Dr. Hermann noch ein paar Hinweise, welchen Charakter die Musik haben sollte und los ging's - wir gingen auf Sendung. Ich improvisierte. Ich spielte mit Klängen. Ich mache Science-Fiction-Musik oder das, was ich mir drunter vorstellte. Ich wusste, hier hören Millionen zu. In der ganzen DDR-Welt. Es hörten aber keine Millionen, es werden einige hundert gewesen sein und die alle aus dem Raum Dresden. Aber in diesem Moment hoffte ich nur, ein paar Einfälle zu haben, denn es war eben keine Aufzeichnung, die man schneiden konnte, es war auch keine Sendung, wo man sich wochenlang darauf vorbereiten konnte... Nein, hier wurde ich ins Wasser der Improvisation geworfen. Mir fielen noch ein paar klassische Themen von Bach und Mussorgski ein, die ich mit einfließen ließ. Dafür nutzte ich die Zeit, während die hochwissenschaftlichen Diskussionen stattfanden. Nach einer Stunde hatte ich die Feuertaufe überstanden. Seitdem macht es mir nichts mehr aus, unvorbereitet irgendwo mitzumischen, an welchem Instrument auch immer. Es wird schon klappen, sagte ich mir. Genauso geht es mir bei Interviews. Wer was von mir hören oder sehen will, nur zu! Bis jetzt habe ich immer Glück gehabt und bin nicht ins Stolpern gekommen, wenn es auch manchmal eine Gradwanderung war. Mit zunehmendem Alter wurde meine Interview-Haut dünner, denn ich verfolge ja auch die Konkurrenz und deren Fehler. Da sieht man sich schon vor, dass einem nicht das gleiche widerfährt.


Lehr- und Wanderjahre: LIFT 2
Im März 1983 machte mir Werther Lohse das Angebot, die alten Zeiten im neuen Gewand bei LIFT wieder auferstehen zu lassen. Er hatte den Platz Endrik Molls eingenommen und trommelte wieder. Gleichzeitig übernahm er die Führung der Band, denn er war der einzige, der dafür infrage kam.
 

Es war kein Auferstehen aus Ruinen, aber LIFT rannte in den letzten Jahren ihrem Erfolg hinterher. Der letzte Hit war "Am Abend mancher Tage", der es ins musikalische DDR-Guinnessbuch der Rekorde geschafft hatte. Das Unternehmen hatte sich ziemlich totgelaufen und totgemuggt, es passierte nicht mehr viel an neuen Kreationen. Ein neuer Wind musste her, die 80er Jahre hatten ihre neuen Spuren hinterlassen, und den wollte man folgen.
 

Ich war ziemlich träge, denn die Geschäfte liefen ja bei mir eigentlich ganz gut. Warum sollte ich wieder den Bühnenstress auf mich nehmen, verrauchte Proberäume, verrauchte Kneipensäle und der Kampf ums Essen nach 22:00 Uhr in den Hotels? Aber Werther redete und redete und wurde ein bisschen zum Burkhard Lasch oder Istvan Farkas, bis ich endlich sagte, "Okay, versuchen wir's." Ich hatte aber eine Bedingung: Ich wollte Hans die Geige mit ins Boot nehmen! Hans, der Geiger aus der Spezialschule Halle, der mittlerweile ein Image als Popgeiger (...) erlangt hatte.
 

Wir unterhielten uns auch darüber, wo es stilistisch hingehen sollte. Lieder. Welche Art von Liedern? "Lieder" ist ein Gummibegriff, Lieder können alles sein, auch wenn sich eine Melodie nur erahnen lässt, der Schöpfer aber sagt, "des is 'n Lied". Nun gut, ein Lied muss man in der Badewanne vor sich hinsingen können, während man vergnügt mit seinem Quietscheentchen spielt. "Wasser und Wein" und "Am Abend mancher Tage" sind Beispiele dafür, wobei man beim letzteren schon seine Schwierigkeiten haben wird, alle Töne nachzusingen.
 

Das Zeitgemäße der 80er sahen wir mit der hinzukommenden Elektronik: Synthesizer, Drumcomputer und E-Drums, Sequenzer und Effektgeräte. Als Hausnummer galt Depeche Mode, so wollten wir werden. Es war aber nur ein unausgesprochener Traum, denn uns fehlte dazu deren Elektronik, deren Stimmen, deren Einfälle. Zu dieser Zeit hatte Yamaha einen Synthesizer entwickelt, der in keiner fortschrittlichen Band fehlen durfte: Yamaha DX7! Dafür musste ich knapp 4.000,- DM hinlegen und man braucht kein Rechenkünstler zu sein, um bei einem Kurs von 1:4 den Ost-Markpreis zu erhalten. Ich gebe die Preise deshalb an, damit man sich mal eine Vorstellung machen kann, wie kostspielig das Leben eines Keyboarders sein konnte. Ein elektronisches Mellotron wurde angeschafft, genauso wie der alte Minimoog wieder herhalten musste. Till durfte seine Finger auf dem Mellotron spielen lassen. Das war für ihn als Multimusikant kein Problem, zumal es sich oft nur um Akkorde handelte, die keiner Fingerübungen bedurften. Hans die Geige ließ es sich nicht nehmen, auf dem Moog eine Melodie zu spielen, bei der er sein geliebtes Pitch Wheel benutzen konnte. Mit diesem Rad ließ sich die Tonhöhe des Synthesizers verändern und jedes Mal, wenn er einen Ton nach oben zog, verfiel sein Gesicht in Verzückung, worauf er glaubte, jedes Mädchen läge ihm nackt zu Füßen. Der Drumcomputer war eine elektronische Maschine, die versuchte, natürliche Schlagzeugsounds zu imitieren, konnte aber eine gewisse Sterilität nicht verbergen. Das war der Balanceakt, den LIFT vollziehen musste: Warme Lieder mit einem kalten Drumcomputer oder moderne Lieder mit einem traditionellen Schlagzeug. Irgendwo dazwischen bewegten wir uns. Das traditionelle Schlagzeug wurde später gegen ein elektronisches ausgetauscht. Damit konnte man die Sounds unserer Vorbilder besser nachmachen, es nahm weniger Platz für den Transport ein und man konnte ein wenig damit angeben. Der Preis betrug ein Mehrfaches eines echten Schlagzeugs.
 

Aber vorher wurde geprobt. Als Proberaum diente uns der Keller von Werthers Haus in Berlin-Rahnsdorf, in dem wir es uns ab Juni 1984 gemütlich machten. Die Premiere von LIFT 2 war am 3. September in Kyritz. Wer kennt Kyritz? Das war uns aber nicht so wichtig, denn irgendwo mussten wir ja zum ersten Mal spielen. In diese Zeit fielen auch neue Rundfunkproduktionen. Später hatten wir in Berlin unser erstes Konzert im einem Kino International. In Berlin zu spielen war ja für alle schwer und so auch für uns. Wir hatten einen Mentor - alle Topbands hatten gefälligst auch einen Mentor zu haben, der von Seiten der Gastspieldirektion für unser Fortkommen zuständig war und uns mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte. Das war auch früher schon so, es war sozusagen ein kleiner Draht nach "oben", und ich war ja auch jahrelang Drahtzieher für andere. Nach unserem Konzert kam unser Mentor in die Garderobe. Es war nicht irgendein Mentor, sondern eine gestandene Persönlichkeit, die, vom Journalismus kommend, die Arbeit im Radio und den Verlagen kennengelernt hatte: Jürgen Balitzki, den alle "Bali" nannten. Er hatte schon beim DDR-Nachrichtendienst ADN seine ersten journalistischen Sporen verdient, auch wenn die der Allgemeinheit noch verborgen blieben. Er wusste mit einer Schreibtastatur umzugehen, was ihm bei späteren Büchern sehr zustatten kam. In dieser Zeit wurde er auch Mentor der alten LIFT-Band, ehe er zum Rundfunk überwechselte. Er hat ein profundes Wissen über Bands und Trends - ein gut informierter Rundfunkmensch eben. Nun hat er also wieder zurückgefunden ins Reich der Mentoren, zurückgefunden zu LIFT.
 

"Bali" las uns die Leviten! Unser Konzert war einfach und schlicht Scheiße, gab er uns zu verstehen, was wir natürlich nicht wahr haben wollten. Er erkannte sofort die Sterilität unseres Drumcomputer, erkannte auch den Widerspruch zwischen dem Anspruch, die 70er in die 80er rüberzuretten und dem Ergebnis, dort nicht angekommen zu sein. Heute sehe ich, wie recht er eigentlich hatte. Aber wir glaubten an uns, redeten hintere Plätze in den Hitparaden schön, freuten uns über einen Nummer-eins-Hit, ließen uns von TV-Sendungen blenden, an denen wir teilnahmen, waren stolz auf Auslandstourneen, und selbst kleinste Erwähnungen in den Printmedien verbuchten wir als Erfolg. Das war die äußere Hülle. Wir hatten immer noch nicht begriffen, dass der Zeitgeist ein anderer geworden war, den man aber fühlen musste. Die jungen Leute unten im Saal waren unter zwanzig, wir auf der Bühne hatten die Mitte dreißig erreicht und Till war schon in den Vierzigern. Da trennte uns mindesten eine Musikgeneration.


Eigentlich lagen wir LIFT'linge mit unseren privat gehörten Lieblingsmusiken auseinander. Uns einte nur unser Ziel. Wir spielten draußen auf den Sälen ein Gemisch aus alten LIFT-Songs und neuen Kompositionen von mir. Auch Werther steuerte zwei Titel bei. Dazu kamen einige Gecoverte, die man ja brauchte, damit die Leute etwas zum Wiedererkennen hatten. Wir gaben uns alle Mühe, nicht wie 1975 zu klingen. Werther wurde zum sogenannten Frontschwein, d.h. er sang ohne dabei gleichzeitig zu trommeln. Frontschwein kommt eigentlich aus der Soldatensprache, wurde dann aber im Unterhaltungsbereich als lockere Bezeichnung für Solosänger eingeführt, die für alles ihren Kopf hinhalten müssen. Werther musste also in vorderster Linie aus LIFT Depeche Mode machen, und wir mussten hinter ihm alte LIFT-Lieder wie Depeche Mode klingen lassen - die Quadratur des Kreises!
 

LIFT war zwar nicht unbedingt ein totgeborenes Kind, aber die Altersschwäche war ihm anzumerken. Es traten die Krankheiten der altgedienten Rocker auf, die ihre Pfründe abstecken wollten, bewusst oder unbewusst. Hinzu kam noch eine gehörige Portion Eitelkeiten, die sich mit zunehmendem Alter auch nicht mehr verhehlen ließen. So erkannte Werther, dass er das Frontschwein war und deshalb mehr Futter benötigte, das zu bezahlen war. Mit anderen Worten: Die von uns ausgemachte gleiche Bezahlung, sprich Gage, war mit einem Mal hinfällig geworden, und die nach vorn gestreckte Hand des Bettlers war maßgebend geworden und forderte ihren finanziellen Tribut. Für uns bedeutete das, entweder weniger Geld oder eine höhere Gesamtgage, die der Veranstalter tragen musste. Und das wiederum bedeutete weniger Auftritte. Hier ging die Rechnung des Milchmädchens auf. Das forderte natürlich meinen Protest heraus, denn mir ging es um die Sache und nicht um die Kohle. Ein Zyniker würde sagen, "Gebt den Reichen, was den Reichen gebührt", und hätte damit die Bibel auf seiner Seite, wenn auch sehr eigenwillig interpretiert. Das LIFT-Projekt scheiterte nicht nur am Geld, nein, jeder hatte doch seine persönliche Vorstellung vom Zweck des Musikmachens. Es fehlte eine Führungspersönlichkeit, wie Gerhard Zachar es eine war, der den Laden zusammenhielt. Deshalb beschlossen wir Mitte 1986 die Scheidung, ohne Richter und ohne Tränen. Jeder ging seiner Wege - ich hatte ja meine Familienangelegenheiten und die damit verbunden Verantwortlichkeiten. Till zog sich auf seinen Alterswohnsitz nach Pirna zurück, von wo aus er bequeme Bürgermuggen (LIFT-Ausdruck für Veranstaltungen mit dem 'gemeinen Volk') machen konnte - als Volkskünstler für's Volk sozusagen. Werther führte die Band weiter wie ein kleines Kammerorchester oder besser: wie eine Unplugged-Band mit Niedervoltanschluss.


Die zweite Frau in Weimar
Ich arbeitete weiterhin als Mentor für einige Interpreten und konnte damit meine Beziehung zum Komitee für Unterhaltungskunst aufrechterhalten. Einige prominente Popkünstler und Autoren hatten schon das Land verlassen, weil sie im Westen größere Chancen zur Selbstverwirklichung sahen. Da wussten sie noch nicht, dass der Kapitalismus für jeden etwas hat, zum Beispiel für Künstler ein Hungerdasein, sollten sie nicht zu denen zählen, die das Glück auf ihrer Seite hatten. Die verbliebenen Prominenten versuchte man natürlich bei der Stange zu halten. Entweder man gab ihnen West-Reisepässe in der Hoffnung, dass sie zurückkommen ins glorreiche Land, oder man finanzierte ihnen Konzertbesuche für westlichen Bands. Auf diese Weise durfte ich mit dem ehemaligen Sänger der DDR-Kultband Modern Soul, Klaus Nowodworski, ein Konzert von GENESIS besuchen. GENESIS gehörte bei vielen Art-Rockern zu den Vorbildern und nicht wenige versuchten, deren Musik zu covern. Nun denke man nicht, GENESIS hätte in Ostberlin oder einer anderen Bezirkshaupstadt in einem Saal gespielt... Nein, das Konzert fand in einem Stadion statt, und das befand sich in - Budapest! Ungarn war schon immer das liberalste sozialistische Land, und man leistete sich ab und zu mal einen Topakt. Die Gastspieldirektion finanzierte für uns also Hin- und Rückflug, die Unterkunft in einem 4-Sterne-Hotel und bezahlte auch die Tickets. Außerdem gab es noch ein kleines Tagesgeld zum Überleben. Das Stadion war natürlich ausverkauft, wir saßen Reihe 96 oder 196 und ärgerten uns, keinen Feldstecher mitgenommen zu haben. Als "Vorband" kam eigentlich nur ein Vor-Sänger und das war der britische Popstar Georg Michael, der in den sauren Apfel beißen musste und bei Tageslicht seine schmalzigen Balladen zu singen hatte. Es war wie Unterhaltungsmusik in Reihe 96 oder 196 und ich hätte genüsslich an einer Paprikaschote genagt, wenn ich mein Geld nicht für ein paar Jeans zurücklegen musste, die in Budapest günstig zu haben waren.
 

GENESIS spielten wie die Götter, der Sound drang aber nur als Gesäusel an unsere verwöhnten Musikerohren. Aber es war umsonst und draußen! Wir sahen ein paar kleine Gestalten auf der Bühne rumhüpfen, der Beckenschlag des Drummers kam akustisch erst einige Augenblicke später bei uns an, und mir wurde klar, dass 300 Meter in der Sekunde eine verdammt lange Zeit sein konnten. "Phil Collins sehen und sterben!", es ging nicht - bei seiner sichtbaren Größe wäre der eigene Tod die reinste Verschwendung gewesen.
 

So rochen wir wieder einmal den Duft der großen freiheitlichen Welt und wussten, dass wir klein waren wie die Fliegen, die zu den Rockheronen aufschauten und einmal um deren Nasen kreisen durften. Im Hotel versuchten wir, uns international zu geben, obwohl wir uns nicht mal einen Kaffee für harte Währung leisten konnten oder wollten. Bestimmt saß in einer Ecke hinter einer Zeitung mit einem kleinen Loch in der Mitte, wie man es aus Agentenfilmen der 30er Jahre kennt, ein Stasimensch, der aber seinen Kaffee bezahlen konnte. Mit harter Währung.
 

Weil wir nach getaner Arbeit einen Bericht schreiben mussten - wir waren ja "dienstlich" als geschickte Berichterstatter dort, offiziell zumindest -, in dem stand, was der Besuch in Budapest unserer Volkswirtschaft gebracht hatte, hatte das Vertrauen der Gastspieldirektion ein grenzenloses Ausmaß angenommen. Klar, die wollten auch wissen, mit welchem Wasser die Westsuppe in den Stadien gekocht wurde, und wir machten ihnen begreiflich: es war auch nur Wasser, aber das aus einer verdammt guten kapitalistischen Quelle... nein, das sagten wir natürlich nicht, wir holten einen winzig kleinen roten Pinsel raus und sagten das, was alle mittlerweile sagten: Das, was man hören wollte und nicht nur das. So berichteten wir: Der Klassenfeind kocht auch nur mit Wasser, das mit Teelöffeln in mühsamer Kleinarbeit aus dem Fluss der Arbeitslosigkeit geschöpft wurde. Dieses poetische Bild hätte sie überzeugt, wäre es geschrieben worden.
 

Ein Jahr später, es war im Spätherbst 1988, schickte man mich und Arnold Fritzsch wieder in die weite Welt, die diesmal Moskau bedeutete, immerhin zwei Flugstunden entfernt. Dort sollten wir ein paar Tage die Pop-Szene beobachten. "Szene" war sechzig Jahre lang ein Fremdwort in der Sowjetunion; von Lenin über Stalin, Chrustschow und Breschnew bis in die frühen Achtziger war davon nichts zu spüren. Erst Gorbatschow lockerte das ganze Land ab Mitte der Achtziger auf und damit begann sich auch in Moskau endlich eine Szene zu entwickeln - so wurde es uns von Kennern der dortigen Kulturlandschaft berichtet. Perestroika war ein Fremdwort bei unserer regierenden Altherrenriege, aber weiter unten, bei den noch nicht zu Mumien Erstarrten, fühlte man schon, wohin sich der Wind drehte. Zum ersten Mal konnte man sich deshalb auch in der DDR hinter den platten Spruch "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!" stellen, nur diesen sowjetischen "Sieg" wollten uns einige Herren nicht gönnen. Was wir in Moskau zu sehen bekamen, waren zarte Pflänzchen der Punk und Post-New Wavemusik. Wenn wir unseren arroganten westlichen Blick mal draußen ließen, mussten wir neidlos eingestehen, da war etwas in Bewegung, was auf popmusikalischem Gebiet für sowjetische Verhältnisse geradezu revolutionär war, wenn man bedenkt, was da jahrzehntelang gelaufen ist. Das aufgebaute Equipment war sehr "ungewöhnlich" und wir erkannten Produkte der DDR-Firma Musima wieder; auch vieles, was mit Verstärkern und Boxen in Zusammenhang gebracht werden konnte, hatte einen DDR-Stempel. Die hatten eben keine Omis im Westen und keine Kohle, sich das Zeug 1:4 aus erster Hand zu besorgen! Es erinnerte mich ein wenig an Kuba. Und mit den Vorbildern war es ja auch noch nicht so weit her, gab es doch keinen RIAS oder die öffentlich-rechtliche Fernsehsender des Klassenfeindes.


Ein Reisepass für den Westen
Irgendwann fragte mich mal jemand, warum ich denn noch keinen Westreispass hätte, der müsste doch für mich drin sein, die anderen fahren ja auch. Ich entgegnete, dass ich erstens nicht die anderen sei und zweitens keinen Grund angeben könne, der mir so eine Reise möglich machte. Aber es wurmte mich doch, nicht zu den Passbesitzern zu gehören, das gebe ich zu. Da fiel mir die Sache mit einem neuen Arrangierbuch ein, oder einem Fachbuch für Komposition, für das ich Informationen aus erster Hand nur im Westen bekommen würde. Ja, das war's! Ich erinnerte mich an einen mir sympathischen Kulturfunktionär, der an ziemlich einflussreicher Stelle im Kulturministerium saß und mit dem ich auch privat sprechen konnte. Ich schildete ihm meinen Fall, und er setzte mit mir ein Schriftstück auf, das die Genossen der Staatssicherheit zu bearbeiten hatten... nein, natürlich ging es seinen offiziellen Weg über den Kulturminister. Jetzt, viele Jahre später, muss ich die Erfahrung machen, dass so eine Herangehensweise keinesfalls DDR-typisch war; es war eher eine menschliche Eigenschaft, weil der Mensch sich eben schützen will, wovor auch immer. Und wenn er Feinde an allen Ecken sieht, obwohl die Welt rund ist, kann es geradezu neurotische Züge annehmen, was man mit den Staatsbürgern so veranstaltet - heute hat man für so was Innenminister. Die Methoden sind andere geworden und damit der Spielraum größer, aber unterm Strich jagen wir einer absoluten Freiheit nach, die es nicht einmal im Science Fiction-Roman gibt.
 

Es dauerte und dauerte, bis ich die Genehmigung bekam, mit einem Visum für einen Tag aus der DDR in ein nichtsozialistisches Land zu reisen (ja, so war es halt, das Amtsdeutsch). Bei Westberlinreisen musste man bis 24:00 Uhr wieder zurück sein, sonst gab es zwar kein Bautzen, aber dafür Ärger. Mein erstes Visum hatte ich für einen Zeitraum von zwei Monaten und durfte in dieser Zeit zehn Mal aus- und natürlich wieder einreisen. Bei Reisen nach Westdeutschland oder "BRD", wie die Genossen sagten, konnte man länger bleiben.
 

Arnold Fritzsch hatte schon einen Westreisepass und gehörte damit zu den Privilegierten. Wir beschlossen, gemeinsam mit seinem Auto über den Grenzübergang Invalidenstraße den Ostteil Berlins hinter uns zu lassen. Außerdem wollte ich bei meiner ersten Fahrt auch gleichzeitig ein paar Bekannte aus Westberlin besuchen. Die hatte ich mal in Ostberlin kennengelernt, sie hatten auch ein Kleinkind und zählten sich zur alternativen Szene, eine Art strumpfstrickende Ökos sozusagen. Er war aus Westdeutschland nach Berlin emigriert, weil man da nicht zum Bund musste. "Haben die's gut!", dachte ich mir, einfach die Stadt wechseln, und schon kann man sich vor den Waffen und Zivildienst drücken. Ein bisschen komisch war mir schon, als ich dem argwöhnisch dreinblickenden Grenzbeamten den Pass hinter's Glas steckte. Wir hatten den Vorteil, nicht den normalen Grenzübergangsweg nutzen zu müssen, denn wir waren ja schließlich "dienstlich" unterwegs. Bei uns ging es schneller, und manchmal glich die Ausreise einem Durchwinken. Nur manchmal hatten die Zeit. Da passierte es mir am Grenzübergang Friedrichstraße, dass ich den Dienstweg verlassen musste, weil mich ein Grenzer nach Kontrolle meines Passes mit den Worten "Kommse ma' mit!" in einen Nebenraum verwies. Dort musste ich mich ausziehen und selbst die Unterhosen durfte ich nicht anbehalten. "Lehnse sich ma an die Wand, stützense sich mit den Händen ab und machense de Beene breit... Achtung, jetz' kommt mei' Finger..." Und der Finger kam und tastete in meinem Darmausgang und suchte nach Dingen, die auch nur im Entferntesten etwas mit Mikrofilm und Kalaschnikow zu tun hatten. "So, jetz gehn 'se sich wieder anziehn!", war die abschließende Bemerkung, ehe er mich in dem Raum allein ließ. Die meisten Grenzer und Zöllner waren Sachsen oder kamen aus Thüringen.
 

Bei meinem Bekanntenbesuch wurde ich zum ersten Mal ins Karstadt am Leopoldplatz geführt und vom Konsum erschlagen. Trotzdem gab es irgendeinen Artikel nicht und ich machte meine erste Erfahrung: Im Westen gibt's nicht alles und wenn doch, muss man wissen wo. Also gingen wir zur U-Bahn und fuhren zu dem zweiten Karstadt vom Norden in den Süden zur Hermannstraße. Die ersten zwei Stationen verliefen noch in Westberlin, aber dann fuhren wir durch einige Geisterbahnhöfe, die nur mit einem Notlicht versehen waren und auf denen DDR-Grenzer patroulierten. Gruselig! Erst am Bahnhof Friedrichstraße war wieder ein Umsteigebahnhof, ehe es weiterging und ich wieder Straßennamen lesen konnte, die zu U-Bahnstationen gehörten, die von oben nicht ausfindig gemacht werden konnten. Es war schon sehr merkwürdig, sich mit einem Ostpass unter der eigenen Stadthälfte zu bewegen, aber nicht aussteigen zu können.
 

Arnold schleifte mich in meinen ersten Westladen. Es war eine Drogerie, die aus allen Nähten zu platzen schien. Der Überfluss zeigte sich mir von seiner ersten Seite: Konsumiere oder stirb! Auf die Frage, was er denn kaufen wolle, antwortete er mir mit einer Selbstverständlichkeit, die nur Westroutiniers aufweisen konnten:
 

"Wegwerfwindeln, für den Sohn." Und nachdem er meinen skeptischen Blick sah, fügte er noch hinzu: "...Der brauch die halt..." Er bezahlte an der Kasse 4,99 DM, ich rechnete schnell und kam auf 20 Ostmark. Für Windeln! Und das bei einem 1:4-Kurs. Ich kam mir vor wie in einem Film: Man sieht eine bunte Welt und weiß gleichzeitig, das war Las Vegas nur auf Zelluloid, nach zwei Stunden wird's hell im Saal und die Wirklichkeit hat einen wieder. Als ich wieder in Ostberlin war, wurde es aber nicht heller, sondern dunkler. Ich sah wieder die Tristess der Stadt und war trotzdem dort zu Hause.
 

Am nächsten Tag holte ich mir im Bahnhof Zoo eine Fahrkarte nach Köln. Ich legte cool die 240,- DM hin und fügte noch beiläufig "Hin und Rück" hinzu, schließlich sollte mich keiner für einen DDR-Menschen halten. Zu dieser Zeit gab es den Begriff "Ossi" noch nicht. Nur die Westberliner benutzen den Ausdruck "Wessi" für "Flüchtlinge" aus Westdeutschland. Ulrike hatte sehr ferne Bekannte in Köln-Porz, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Pünktlich zu Weinachten kam das Paket mit Kaffe, Seife und Nylons, das war's schon. Ehe ich meine Fahrt antrat, wurde die Beziehung noch einmal kurz brieflich aufgefrischt und mein Besuch angemeldet. Drum saß ich wenig später in einem Zug, der ohne Zwischenhalt bis zum Grenzübergang Marienborn durchfuhr. Ich kam mir vor wie auf einer Insel: Um mich herum nur Westbürger, draußen der Osten, der uns aber nichts anhaben konnte, weil wir ja nur auf der Durchreise waren und, nicht einmal ein Halt in Magdeburg. Wie üblich kam ein Kontrolleur, der aber aus dem Osten war, "denn noch sind sie hier auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik!" - er verkörperte diesen Satz. Deshalb mussten wir auch unsere Ausweise vorzeigen und ich war der Einzige, der einen Pass vorwies. Die anderen guckten nicht schlecht, als sie Hammer und Ehrenkranz auf meinem Pass aufblitzen sahen. Der Kontrolleur kommentierte meine Reise nicht und stellte auch keine weiteren Fragen. Der muss wohl geahnt haben, dass ich darauf keinen Wert legte.
 

In Köln angekommen, wurde ich vom Bahnhof abgeholt und in einen Mittelklassenwagen gebeten, der als Zweitwagen meiner Gastfamilie diente. Es war wieder die Welt aus dem Film, mit ihrer Sauberkeit, den glatten Asphaltstraßen und den geschnittenen Hecken, den wie frisch herausgeputzten Häusern und das westpuppenstubenhafte Einkaufszentrum in Köln-Porz. Der Hausherr hatte einen guten mit 8.000,- DM bezahlten Job, ihre zwei Kinder studierten und teilten sich den Drittwagen für die Fahrt zum Studienort. Mein Gastgeber führte mich stolz durch sein Haus, ich schlief oben mit eigenem Bad und eigener Toilette - "wenn mal Gäste kommen", fügte er hinzu. Heute ist so etwas normal geworden für Leute, die es sich leisten können, aber damals musste ich mich im Osten schon ganz schön umsehen, um diese Art von Lebensstandard vorzufinden. Im Wohnzimmer stand ein großer Fernseher, über den man auch Teletext empfangen konnte. Teletext war der Vorläufer von Videotext, den man heute auf allen TV-Geräten abrufen kann. Damals jedoch war es ein Zeichen des Lebensniveaus, dass man sich einfach leisten musste, hatte man dazu die Möglichkeit. Mir wurde auch stolz die Heimanlage vorgeführt, natürlich das Beste vom Besten! Verstärker, Tuner, Kassettendeck, Plattenspieler und Boxen, alles waren ausgesuchte Firmen. Ich durfte mich in einen fetten Sessel setzen und mir laut Schlagermusik anhören. Ich versuchte zu lächeln.
 

Gleich am ersten Tag wollte ich mein Begrüßungsgeld in Empfang nehmen, das ja dem DDR-Bürger zustand, der die Bundesrepublik besuchen durfte. Auf dem dafür zuständigen Amt legte ich meinen Reisepass vor und wollte schon meine ausgestreckte Hand hinhalten, als ich die argwöhnische Miene der Amtsperson sah.
 

"Sie waren doch gestern schon in Westberlin? Warum haben Sie sich denn dort nicht die 100,- DM abgeholt? Hat man Ihnen nicht gesagt, dass das Geld nur am ersten Reisetag in dem dafür zuständigen Ort zu erhalten ist? Das tut uns ja nun leid..."
 

Mir auch. Wenige Monate später nutzte ich den ersten Trip im neuen Jahr nach Westberlin, um mir im Bezirksamt Tiergarten meine 100,- DM Begrüßungsgeld abzuholen - der Fehler von Köln sollte mir nicht mehr unterlaufen!
 

Ehe ich nach drei Tagen wieder den Zug Richtung Grenze nehmen musste, gab es natürlich die Überraschung, wegen der ich ehrlich gesagt eigentlich hingefahren bin: Einem feierlichen Akt gleich, der mich an Weihnachtsbescherung erinnerte, stellte man mehrere Pakete auf den Teppichboden und ließ sie mich öffnen. Ich nahm ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus, ließ laut ein "Ooh!" und "Aah!" ertönen und dachte mir im Stillen, es ist doch verwunderlich, was die Leute so alles wegwerfen ... ist ja noch gut, das Zeug ...
Aber, es waren wirklich schöne Sachen für die Damenwelt darunter und sie werden zwar in erster Linie an Ulrike gedacht, jedoch nicht mit einkalkuliert haben, dass sie ja erst fünfundzwanzig war und ihr außerdem kein verbürgerlichter Westgeschmack anhaftete. Nachdem ich mich noch einmal überschwänglich, aber unehrlich bedankt hatte, gaben wir die von mir ausgewählten Kleidungsstücke auf der Post als Paket nach dem Osten auf. Und siehe da - schon wenige Wochen später kam in Weimar ein Paket an, an dem man die Spuren der Zollkontrolle unschwer erkennen konnte.
 

Die Westreisen waren ein schönes Nebenbei, weil ich ja die Illusion hatte, jederzeit drüben bleiben zu können, wenn ich wollte. Bei mir wich diese Illusion dann der Tatsache, dass ich ohne Familie das Land allein nicht verlassen würde, da ich die Gewähr brauchte, in dieser so anderen, fremden Welt auch gut überleben zu können. Aber das Leben in der eingemauerten DDR war etwas leichter zu ertragen, man gehörte ja schließlich zu den Privilegierten, zwar nicht ganz, aber besser als gar nichts - das redete ich mir ein.
 

Ich teilte mir meine Westberlin-Tage ein, nahm oft illegal ein paar D-Mark mit, um irgendwo etwas billig erstehen zu können, was es im Osten nicht gab, jedoch gebraucht wurde. In dieser Zeit begann auch meine Arbeit mit dem Computer. Einige Musiker arbeiteten schon länger damit, ich schob es dennoch hinaus, dafür Geld zu investieren. Aber irgendwann entzündete sich die Flamme in mir und ich beschloss, den großen Schritt zu wagen: Einen Atari ST 1024 mit Monitor! - diese Geschichte habe ich ja bereits beschrieben. Also:


Der Preis des Schmuggelns
Ein paar Monate später schmuggelte ich 5000,- Ostmark über die Grenze. Ich behielt sie einfach im Portmonee, denn wenn sie mich kontrollieren wollten, würden sie es ja sowieso finden. Der Kurs hatte sich verändert, von einem Tag auf den anderen. Ich erhielt nur noch 600,- DM, das entsprach einem Kurs von 1:8,3. Da bahnten sich für die Musiker schlechte Zeiten an, die noch ihr Equipment aufstocken wollten und deren Omi gerade ihren Westtod hinter sich gebracht hatte. Das Geld tauschte ich am Bahnhof Zoo um.


Dann ging ich zu dem Musikladen "Sound und Drumland", aus denen nach der Wende justmusic wurde. Ich strebte zielgerichtet in die Abteilung Tasteninstrumente und kaufte mir einen Synthesizer, ich glaube es war ein Modell der Firma KORG und kein besonderes Modell. Der Preis war angemessen, aber nur für Westbürger, denn ich bezahlte zwar dafür 1100,- DM. Aber alles in allem musste ich dafür über 7.500 Ostmark locker machen. Das liest sich jetzt alles so leicht, nur damals mussten sämtliche Tantiemen dran glauben, um so eine Anschaffung möglich zu machen. Nachdem der Kauf getätigt war, klemmte ich mir das Instrument in seiner Papphülle unter den Arm und machte mich auf zu dem Grenzübergang Friedrichstraße. Der Durchgang für Dienstreisende war leer, ein gelangweilter Zöllner stand an seinem Tresen, auf dem man sein Sachen zur Kontrolle ausbreiten musste. Ich wollte schon mit einem jovialen "Hallo" an ihm vorbeiziehen, als er mir Halt gebot.
 

"Was hammer denn da." -
 
 
Das war keine Frage, das war eine Feststellung.
 

"Ähm ... ein Instrument."
 

"Und was für'n Instrument? Auspacken!"
 

Ich entfernte die Verpackung und er glotzte auf den Synthesizer.
 

"So, und wo is die Einfuhrgenehmigung? Wie hammse das Ding überhaupt bezahlt? Und womit?"
 

Ich wollte schon antworten "mit Geld", unterließ es aber, denn mit dem war nicht zu spaßen. Ich kam ins Schwitzen, denn mein Repertoire an Ausreden zu diesem Thema war sehr begrenzt. Ich erzählte irgendetwas von einem Freund, der aus Amerika zu Besuch war, und der mir das Objekt geschenkt hatte, weil es auch in Amerika noch einige gute Menschen gibt. Und außerdem machte ich ihm begreiflich, dass ich diesen Synthesizer beruflich benötigen würde und ohne ihn mein Leben keinen Sinn mehr hätte. Dann wollte ich mit ihm noch das Lied "Du hast den Farbfilm vergessen" singen, um mich auf andere Gedanken zu bringen, unterließ das aber, denn seine Stirn wies schon sehr viele Falten auf.
 

"Das Objekt wird eingezogen. Sie hören von uns! Gehnse weiter!"
 

Und so verließ ich geknickt den Grenzübergang und schrieb 7.500 Mark in den lauen Frühlingswind.
 

Nach einem Dreivierteljahr wurde ich zum Außenministerium bestellt und eine Frau, die garantiert eine hohe Position und Haare auf den Zähnen hatte, lies mich auf einem Stuhl Platz nehmen, der am Fußende eines langen rechteckigen Tisches stand. Sie nahm am Kopfende Platz, die Entfernung betrug gefühlte 10 Meter. Sie ließ mich wissen, dass ich zu der Gattung Mensch gehörte, die man in ein Umerziehungslager stecken müsste, denn anders wäre mir nicht beizukommen. Nachdem ich Abbitte geleistet hatte, meine Sünden bereute und auf ihre Absolution wartete, überlegte ich, wie die das im Film immer mit dem Arsen gemacht haben. Gerade als mein Plan feststand, verkündete sie mir:
 

"So, Sie können Ihren Synthesizer wiederhaben, müssen dafür die Summe von 1.100,- Mark erstatten und können ihn dann beim Zoll abholen!"
 

Ich wartete noch auf das "Wegtreten!", aber es blieb aus. Das scheute mich jedoch nicht, meine Westreisen weiterhin zu forcieren. Jedes Mal, wenn die zwei Monate Visumbesitz abgelaufen waren, stellt ich erneut einen Antrag, in dem ich die Begründung des vorangegangenen nur etwas variierte. Es klappte auch immer problemlos. Dann setzte ich alles auf eine Karte - ich beantragte ein Dauervisum und reichte den Antrag wie immer beim Gluschke, dem Chef des Komitees für Unterhaltungskunst ein. Ich ließ mich sogar herab, meine Bitte mit einigen Phrasen zu würzen:


Was tut man nicht alles für ein Dauervisum! Einige Tage später bestellte er mich in sein Dienstzimmer und baute sich hinter seinem Schreibtisch auf. Dann sagte er nur:
 

"Sie wollten ein Dauervisum?"
 

Er holte tief Luft und sprach, jedes Wort einzeln betonend, weiter:
 

"WIR SIND DOCH KEIN REISEBÜRO!"
 

Und damit hatte er Recht, was ich ihm aber nicht bestätigte. Ich müsse doch froh sein, überhaupt reisen zu dürfen, und damit hatte er abermals Recht. Aber mein Stolz verbat es mir, ihm das ebenfalls zu betätigen.
 

David lehrt Goliat
Um das Kapitel Westreisen abzuschießen: Die Gastspieldirektion hat es zwar nicht vollbracht, mir ein Dauervisum zu genehmigen, aber sie schien dennoch auf meine Mitarbeit nicht verzichten zu wollen. Ich weiß nicht, wem ich das zu verdanken hatte, aber man machte mir ein einmaliges Angebot: Das Mitwirken bei einem Workshop des Klassenfeindes! In der Bundesrepublik fand alljährlich ein Workshop zum Thema Rockmusik statt. Da kamen junge Musiker, die an drei Tagen "workshoppten" und damit ihr Wissen zu den Themen Interpretation, Text, Management, Rock History, Equipment und Rockkomposition- und Arrangement erweiterten. Letzteres sollte ich übernehmen und mir dafür einen Mitstreiter suchen. Ich ging meinen Bekanntenkreis durch und blieb bei Julius Krebs hängen, der ein guter Musiker war, sich in Musikelektronik auskannte und selbst schon ein paar Stücke geschrieben hatte, die man im Weitesten der Gattung E-Pop zuordnen konnte. Natürlich war Julius sofort einverstanden, es war seine erste Westreise und es gab sogar noch Geld dafür - Westgeld! Wir überlegten uns ein paar Beispiele, an denen wir komplexe musikalische Strukturen erläutern wollten. So packten wir ein paar Synthesizer und ein wenig Equipment in seinen sowjetischen Fiat-Nachbau der Marke LADA und auf ging's nach Lüneburg. Ein paar mürrisch dreinblickende Grenzer überprüften am Grenzübergang Marienborn unsere Papiere, der Zöllner erstellte eine Liste mit den ausgeführten Arbeitsmitteln, und nach weniger als fünfzig Metern war Julius zum ersten Mal im Westen.
 

Die erste Stadt, die wir anstrebten, war Hamburg. "Hamburg sehen und..." - weiterfahren, aber vorher musste ich der Bitte eines einzelnen Herrn stattgeben, der es "einmal wissen wollte". So machten wir einen Besuch bei den Prostituierten in Hamburgs berühmter Herbertstraße. Nachdem sich Julius genüsslich die Mädels angeschaut hatte, die sich hinter großen Glasscheiben präsentierten, machte er eine D-Mark locker und besuchte eine Peepshow - das musste sein. Ach, wie gern hätte er etwas Geld investiert und dem Puff einen Besuch abgestattet, aber selbst bei dem Versuch, sich die Nase an der Scheibe mit den Weibern seiner Begierde platt zu drücken, wurde er gestört, denn die hatten ja auch so etwas wie eine Ehre und wollten sich ohne Bezahlung auch nicht nur begaffen lassen.
 

Am Tag nach unserer Ankunft begann für uns der Ernst des Rocklehrer-Lebens. Es passierte das, was für uns bislang unvorstellbar gewesen war: Ostmusiker erklärten im Westen, was man auf Westinstrumenten für Westmusik machen konnte. Unsere Beispiele waren entweder improvisiert oder beruhten auf Standards, die aus Amerika oder UK kamen. Wir bauten unsere Instrumente auf einer Bühne auf, von der wir in einen mittleren Saal blickten, der gefüllt war mit neugierigen Musikanten, die ganz anders waren, als wir es bisher von ähnlichen Veranstaltungen in der DDR gewohnt waren. Es war irgendwie unverkrampfter, aber ich hatte auch den Eindruck, als wären sie eher zu einer Art Happening gekommen als zum Lernen. Wir fühlten uns auf der Bühne wie die Affen, die von Zoobesuchern beglotzt wurden. Nachdem wir unseren Vortrag zu Ende gebracht hatten, räumten wir ihnen noch die Möglichkeit ein, Fragen an uns zu richten. Und spätestens dann merkten wir: Ihre Welt war nicht die unsere, ihre Probleme waren nicht unsere und die Art der Fragestellung war für uns neu. Wir versuchten trotzdem, das Beste draus zu machen, aber wir hatten uns in unsere Haut sehr unwohl gefühlt und waren froh, als alles vorbei war. Hier kam nicht zusammen, was zusammen gehört, selbst Willy Brandt hätte das gemerkt. Sicherlich hat es an den mangelnden Erfahrungen gelegen, die wir ja auch nicht haben konnten. Wir haben nie erfahren, wie unser Gastspiel von den Westlern aufgenommen wurde, dafür waren sie zu diplomatisch. Oder anders: "Was kann man denn von einem unterdrückten Menschen aus dem anderen Teil Deutschland anderes erwarten? Trotzdem - wo hatten die bloß die Synthesizer her, wenn man so eingemauert ist...?"


Nach dem Frühstück im Hotel hörten wir Radio und erfuhren, dass der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und 1. Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erich Honecker, das Handtuch geworfen hatte - er trat von seinen Posten zurück und nicht mehr ins Fettnäpfchen seiner Mitgenossen. Das war der Anfang vom Ende, wie wir es damals richtig einschätzten. Diese Gewissheit ließ Julius beim Einreisen in die DDR eine großen Lippe riskieren, als er sich weigerte, das Equipment für den Zöllner überprüfbar vor seinem Wagen auszubreiten. Als der mit Bautzen drohte... aber das hatten wir ja schon.


Der lange Epilog
Mitte der 90er Jahre machte mir Dina Straat das Angebot, für sie ein paar Titel zu schreiben. Die Zeit heilt viele Wunden und ich glaubte, sie sah das Unglück von einst in einem etwas abgeklärteren Licht. Wir wurden wieder Freunde, denn ich war ja nach ihren eigenen Worten damals bei LIFT schon ein kleiner Teil ihrer Familie und hatte manches Frühstück in ihrer Wohnung zusammen eingenommen - mit Gerhard selbstverständlich. Ich nahm mein Equipment und zog in einen kleinen Nebenraum in ihrem Haus in Berlin-Karow ein. Den nannte ich dann Studio und als er in den Keller verlegt wurde, hieß er "Gruftstudio". Da bastelte ich an verschiedenen Musiken, die teilweise kommerziell oder auch experimentell waren und deshalb nur mein Ego kitzelten. Es war kein Profistudio, ich konnte gerade mal Demos erstellen und vermied den Begriff "Studio" wenn's ging. Mittlerweile war der Ausdruck inflationär geworden - jeder, der was auf sich hielt oder auf den man etwas halten sollte, hatte ein "Studio" und "produzierte" - für wen auch immer. Vor allem in Ostzeitschriften erschienen Rubriken unter dem Motto: "Was macht eigentlich...". Da kamen alte DDR-Künstler zu Wort, die sich ihren Liegeplatz auf einem städtischen Friedhof schon herausgesucht hatten, und die oft ihre "neue CD" anpriesen, die keine Sau hören geschweige denn kaufen wollte. Der Zusatz "Gruft" relativierte mein Studio zu dem, was es war: eine Bastelbude. Natürlich versuchte ich, computertechnisch auf dem aktuellen Stand zu sein, und besorgte mir auch semi-professionelle Soundmaschinen, aber mit gut ausgestatteten Studios konnte ich nicht mithalten.
 

Zwei Songs, die ich für Dina geschrieben hatte, wurden sogar mal in einem professionellen Studio aufgenommen. Dafür lieferte ich die MIDI-Files, die dann mit anderen Sounds versehen wurden. Dina sang so lange, bis Intonation und Interpretation stimmten, am Schluss wurde gemischt und die entsprechende Portion Schlager-Hall hinzugefügt. Aus meinem Versuch, etwas Bodenständiges aus den Songs zu retten, wurde nichts und übrig blieb ein - wenn auch besserer - Schlager-Allerweltsbrei. Schade! Für die zwei Songs wurde Dina zur Kasse gebeten: Dann erschienen die zwei Songs auf einem Sampler, auf dem (alte) neu erfundene "Nachwuchskünstler" vereint waren. Der wurde nach Aussage des Produzenten bei Radiostationen angeboten und wird dort an der Füllung von Papierkörben beteiligt gewesen sein. Dina musste 500 Exemplare für 5000,- DM abkaufen, dafür kostete sie die Produktion nichts. Es gibt nicht viele Künstler, die bei Veranstaltungen die in der Pause angebotenen CDs auch gut verkaufen können. Deshalb fanden Dinas CDs im Keller ihre Ruhe. Der Produzent war Tonmeister, Studiobesitzer und Verlagsinhaber in einer Person und wird bei den auf dem Sampler zu hörenden Interpreten kräftig abgesahnt haben. Sei's drum!


Schlussworte
Wer bis hierhin gelesen hat und der Meinung ist, hier hat Geschichtsfälschung stattgefunden, dem widerspreche ich nicht, schließe mich seinem Urteil an und füge hinzu: Die Erde ist eine Scheibe!



Ende! Michael Heubach und wir haben uns bei der Veröffentlichung hier fast ausschließlich auf musikalischen Inhalt seiner Biographie beschränkt. Die vollständige Biographie, incl. privaten Einblicken, liegt beim Autor. Interessierte Verleger können uns schreiben, wir leiten die eingehende Post gerne an Michael Heubach weiter...
 
 
 
 
 

   
   
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