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Teil 4
Der vierte Teil von Michael Heubachs Autobiographie handelt über die letzte Zeit auf der Hochschule bis zur ersten "Profistation" bei der KLAUS-RENFT-COMBO. Michael Heubach erzählt über die Gehörbildung, die Ausbildung in seinem Hauptfach Fagott, das Vorstellen bei einer Komission um einen begehrten Job zu ergattern und seinen Abschluss mit Examen. Außerdem erfahren wir, was eine "Begräbnis-Mugge" ist, wie er zur KLAUS-RENFT-COMBO kam und was er dort erlebt hat. Nehmt Euch Zeit für eine weitere, spannende Geschichtsstunde...
Der vierte Teil von Michael Heubachs Autobiographie handelt über die letzte Zeit auf der Hochschule bis zur ersten "Profistation" bei der KLAUS-RENFT-COMBO. Michael Heubach erzählt über die Gehörbildung, die Ausbildung in seinem Hauptfach Fagott, das Vorstellen bei einer Komission um einen begehrten Job zu ergattern und seinen Abschluss mit Examen. Außerdem erfahren wir, was eine "Begräbnis-Mugge" ist, wie er zur KLAUS-RENFT-COMBO kam und was er dort erlebt hat. Nehmt Euch Zeit für eine weitere, spannende Geschichtsstunde...
Gehörbildung mit absolutem Gehör, Training der Pflichtinstrumente
Orchestermusiker, also auch ich, mussten anderthalb Jahre das Fach Gehörbildung belegen, Dirigenten und Tonsetzer zweieinhalb Jahre, denn das war die Königsklasse. Wie der Name schon verrät, wird bei Gehörbildung das Hören trainiert: Dur und Moll unterscheiden wie bei der Aufnahmeprüfung, Intervalle erkennen und aufschreiben, Akkordtonlagen erkennen, Akkordarten raushören, Tonleitern, Tonfolgen und Tonskalen in der Premiumklasse aufschreiben. Ich wechselte schon nach einem halben Jahr in die nächste Gruppe, weil ich für die Untere zu gut war und nach einem Jahr meinen Abschluss haben wollte. Doch ich durfte nicht, ich musste in die Gruppe der Dirigenten einsteigen, weil sie den höchsten Schwierigkeitsgrad hatte. Die Lehrerin für Gehörbildung hatte wahrscheinlich erkannt, hier will sich einer vor der Arbeit drücken, dem ein bisschen Training ganz gut tun würde. Da saß ich also insgesamt zwei Jahre im Gehörbildungsunterricht der höchsten Leistungsstufe, muss aber gestehen, dass es mir und meinen Ohren gut getan hat. Es saßen nur Inhaber eines absoluten Gehörs in der Gruppe, die aus fünf Studenten bestand - wir waren unter uns. Die Übungen waren schwer, ich hatte ganz schön zu tun, um 8-taktige Melodien, die uns zweimal vorgespielt wurden, auf Papier zu bringen. Zur Abschlussprüfung drückte sie das Klavierpedal und schlug nach einander zehn Töne an, es ergab einen Klang, aber keine Harmonie im klassischen Sinn. Und den mussten wir aufschreiben. Auf meinem Zeugnis stand das Prädikat "seht gut".
Ich glaube, ich war sogar darauf stolz, aber was heißt hier stolz? Es hatte ja nur bedingt etwas mit Arbeit zu tun, denn es gab keine Hausaufgaben wie in den anderen Fächern. Stolz kann man nur auf das sein, was man selbst erarbeitet hat und nicht darauf, was einem in die Wiege gelegt wurde! Man kann auch nicht stolz auf das Werk anderer sein und auch nicht auf die Nation, der man angehört, es sei denn, man hat selbst für ihr Ansehen in der Welt wesentlich beigetragen. Genauso fraglich ist der Stolz auf die eigenen Kinder, sollte man doch außer mit seinem Sperma mit nichts Weiterem dazu beigetragen haben. Ich habe lediglich auch nur das trainiert, was mir in die Wiege gelegt worden ist.
Klavier habe ich auch nach zwei Jahren abgeschlossen, obwohl drei vorgesehen waren. Nur Fagott musste ich vier Jahre durchhalten, schließlich war es mein Hauptfach. Zur ersten Stunde blies ich meinem Lehrer, Herrn Seltmann, seines Zeichens Solofagottist im Gewandhausorchester Leipzig, meine letzten im Hallenser Unterricht behandelten Stücke vor. Es war ein Fagottkonzert von Mozart. Ich wartete auf eine positive Beurteilung, doch die kam nicht. Stattdessen musste ich quasi von vorn anfangen. Mein alter Fagottlehrer in Halle hatte vergessen, mir das Wichtigste beizubringen: Die richtige Atmung! Bläser und Sänger müssen eine ganz bestimmte Atemtechnik beherrschen, die Zwerchfellatmung. Ich habe bis dahin "einfach Luft geholt" und diese wieder rausgelassen. Nun musste ich die eingeatmete Luft ins Zwerchfell befördern und dort "Scheibchenweise" abgeben. Manchmal nahm der Unterricht geradezu militante Züge an, wenn vom Befehlsstand die Anweisung erteil wurde;
"Der Bauch muss raus! ...in die Flanken! ...nicht die Brust raus, Mensch...!"
Das musste ich mir oft anhören, obwohl Seltmann es manchmal auch fachmännischer ausdrückte. Ich lernte also: Es musste ein Luftstrom entstehen, den ich immer bewusst steuern konnte. Und nun kommt's: Ich sollte einige Monate im Wesentlichen Töne aushalten und dabei kontrolliert die Luft abgeben. 8 Sekunden C, 8 Sekunden Cis, 8 Sekunden D usw. Da kam Freude auf! Dazu kam noch, dass ich von meinem alten Lehrer kein Vibrato gelernt hatte, denn Vibrato macht man durch bewusste Steuerung des Luftstroms. Es muss sozusagen von unten kommen. Wer nur die Brustatmung anwendet, wird keine wahren Erfolg dadurch erzielen. Das "Warum nicht" ist mir hinterher auch klar geworden, denn ein Vibrato musste gesteuert vom Zwerchfell kommen, indem man die Luftsäule in Schwingungen versetzt. Einmal habe ich ihn in einem Konzert eine Solostelle blasen hören - ohne Vibrato. Das waren eben zwei verschiedene Schulen!
Nach und nach lernte ich die neue Atemtechnik richtig einzusetzen und merkte, dass sie für die musikalische Gestaltung von ungeheurem Wert ist. Mir machte es dann auch Spaß, die entsprechende Konzertliteratur zu spielen, und ich konnte mich von durch bewusst eingesetztes Vibrato auf eine neue Stufe der Gestaltung begeben. Das half aber trotzdem nicht, aus mir einen Üb-Fanatiker zu machen. Herr Seltmann legte mir ans Herz, gefälligst zwei bis drei Stunden am Tag Fagott zu üben, denn sonst würde nichts aus mir werden. Das mit den drei Stunden habe ich reichlich praktiziert - in der Woche! Trotz alledem - ich habe in diesem Fach sehr viel mitbekommen, was die Interpretation von Musik im Allgemeinen anbelangt. Ich lernte, wie man Kadenzen gestaltet, mit Dynamik arbeitet und über stilistische Merkmale der von uns behandelten Musikliteratur. Eines Tages, nachdem ich die stupide Tonaushalten-Phase hinter mich gebracht hatte, spielte ich ihm einen Satz aus Mozarts Fagottkonzert vor, in dem eine Kadenz vorkam. Nun ist in einem Solokonzert die Kadenz ein Teil, in dem der Solist zeigen kann, was er drauf hat. Er zeigt also u.a. seine Virtuosität und Gestaltungskraft. Gute Solisten improvisierten früher, als noch nicht alles aufgeschrieben wurde, frei. Das war aber vor dem Krieg und zwar dem Dreißigjährigen. Die weniger Einfallsreichen spielten die Kadenz, die vom jeweiligen Komponisten geschrieben wurde. Die Meister kannten ihre Pappenheimer genau und ließen da nichts anbrennen: Lieber eine gut komponierte, als eine schlecht improvisierte! Ich blies also die Mozartkadenz mit Hingabe und erhoffte ein lobendes Wort seinerseits, aber nichts geschah.
"Und, nun erklären Sie mir doch mal, was Sie sich bei der Kadenz so gedacht haben."
Was ich mir so gedacht habe? Ich verkniff mir ein "Hä?". "Eigentlich nichts", denn ich habe sie aus meinem musikalischen Bauchgefühl heraus geblasen, das muss er doch gehört haben! Dann ging er mit mir Stück für Stück der Kadenz durch und erklärte die Logik, die darin steckte. Da lernte ich, wie man durch eine geschickte musikalische Strategie, durch geschickten Spannungsaufbau aus einer Aneinanderreihung von Tönen Musik machen konnte. Diese Erkenntnis hat mich mein ganzes Leben begleitet, ob es in Rock, Pop, Jazz oder Filmmusik war. Ja sogar beim Schreiben von Geschichten oder Briefen konnte ich immer auf die analytische Herangehensweise zurückgreifen. Vor jeder Hauptfachstunde hatte ich wegen meines sparsamen Übens oft ein undefinierbares ungutes Gefühl in der Magengegend. Der Unterricht begann so wie der Hallenser Klavierunterricht, wo die Technik zuerst drankam: Also das Töneaushalten, bei dem mein Lehrer mit seinen Händen meine Zwerchfellgegend abtastete, um meine Atmung zu kontrollieren - wo er jedes Mal die Energie hernahm, ist mir bei einem solchen Schüler heute noch ein Rätsel. Dann folgten Etüden, bei denen es auch nur um die reine Technik ging, und das hatte leider auch wieder etwas mit Üben zu tun. Weiter mit den sogenannten "Orchesterstudien", das sind die zusammengesuchten Schwierigkeits-Highlights der Orchesterliteratur, die am häufigsten gespielt wurden. Bewarb man sich als Instrumentalist an einem Orchester, wurden immer ein paar dieser Studien herausgesucht, um den Kandidaten auf seine technischen Fähigkeiten hin zu testen.
Ich hatte nur einmal die Gelegenheit, mich einer Kommission stellen zu müssen, als es darum ging, mich um eine Fagottstelle zu bewerben. Alle Orchestermusiker im letzten Halbjahr ihres Studiums müssen sich um eine Stelle kümmern - sie mussten ihr Probespiel machen. Ich als Fagottist hatte das Pech, ein nicht gerade sehr gefragtes Instrument zu spielen. Es gab kaum freie Stellen in den Orchestern. Das Leipziger Operettentheater "Musikalische Komödie" hatte aber eine Stelle ausgeschrieben, und ich reihte mich an einem Nachmittag im Dezenber 1970 in die Schar von fünf Fagottisten ein, die alle diese Stelle haben wollten. Ich war das einzige "Greenhorn", wie Karl May sagen würde, keiner kam von einer Hochschule und es waren alles gestandene Meister ihres Fagotts. Um es kurz zu machen: Ich blies die mir vorgelegten Orchesterstudien und noch einen Satz aus irgendeinem Fagottkonzert, man sagte "Danke", ich nahm meine Noten und ging. Die Stelle bekam einer, der sich bereits zum zweiten Mal beworben haben soll und dessen Frau kürzlich verstorben war - so sagt es die Legende. Ich habe an diese Legende geglaubt, war sie doch ein Alibi für mich und meine Leistung: ICH WAR ALSO GUT, hatte aber keine kürzlich verstorbene Frau und wollte mir deshalb auch keine anschaffen, damit sie vor meinem nächsten Probespiel stürbe und ich die Stelle erhielte... Damit war für mich klar: ICH WERDE KEIN FAGOTTIST!
Ich wurde ein freier Mensch, frei vom verstaubten Orchestergraben, es gab kein Unterordnen unter einen Dirigenten, es gab keinen Dienst nach Vorschrift, kein aus Klassik-Spießern bestehendes Umfeld und vor allem die Freiheit, das zu tun, was mir auch Spaß macht. Das waren damals große Worte, heute sind sie es nur noch bedingt. Mit den Jahren lernt man, dass das Leben doch nicht ganz so freiheitlich-rosig ist wie mit zwanzig; man merkt die Abhängigkeiten von Auftraggebern, denen man es gerecht machen muss, weil Ablehnung gleichzeitig bedeuten kann, man ist raus aus dem Geschäft! Und man ist seinem Publikum auch etwas schuldig, das hat doch schließlich Eintritt bezahlt und will eine Leistung sehen, auch wenn du mal nicht gut drauf bist. Mein Hauptfachlehrer hat manchmal mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich ihm das Resultat meines wöchentlichen Übens vorspielte. Irgendwann kam beim Vorblasen eine Stelle, die Fehler aufwies und die ich automatisch wiederholte, um zu zeigen, "Das war nur'n kleiner Ausrutscher". Wenn sich solche Stellen häuften, war die Größe des Ausrutschers nur noch durch Faulheit zu erklären. Dann sagte er zu mir:
"Stellen Sie sich mal einen bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal vor, Sie sitzen im Orchester als Solofagottist und spielen eine Sinfonie. Sie wissen genau, was auf Sie zukommt und dann spüren Sie sie, die spannungsgeladene, geradezu erdrückende Stille, denn das Orchester hat aufgehört zu spielen, weil jetzt die Kadenz des Solisten kommt, Ihre Kadenz! Sie haben jetzt nur einmal die Gelegenheit - ich wiederhole: nur einmal (!) -, um diese schwierige Kadenz zu blasen. Diese Stelle ist ein SOLO, Sie sind also ganz allein und jedermann wird auf Sie achten, wird vielleicht denken, 'Na, schafft er's? Kann er's? Ist er gut drauf?' Ihnen könnte vor ein paar Tagen die Mutter gestorben sein, und trotzdem darf man Ihnen das nicht anmerken! Es muss so klingen, als ob Sie alles ganz leicht bewältigen. Und: Es gibt kein Wiederholen, keine Entschuldigung bei Verspielern und auch kein 'Nochmal'! Es ist also nicht so, wie Sie es mir im Unterricht immer anbieten. So, und jetzt sind Sie dran, blasen Sie die Mozartkadenz!"
Diese Vorstellung war reine Psychofolter, hat aber ungemein trainiert! Auf diese Weise suggeriert man sich eine Situation, die auftreten könnte. Ich habe unter anderem deshalb bei meinen späteren Auftritten mit Bands kaum Lampenfieber gehabt. Es findet so eine Art Berechnung statt, was alles passieren könnte und wie man dann darauf reagieren würde. Eine Möglichkeit besteht in der völligen Ignoranz der Leute da unten, um seine Nervosität loszuwerden. Dann kann man sich natürlich auch sagen, "Die da unten haben ja ohnehin nicht das Musikverständnis, das ich habe, und hören meine Verspieler nicht." Man sollte aber diese Denkweise auf der Bühne nur im Notfall benutzen, wenn man durch den Blick zwischen den Vorhängen ins Publikum das mulmige Gefühl in der Magengegend verspürt. Im Grunde genommen kann man sich aber bei Lampenfieber einreden was man will, und es nützt trotzdem nichts - es bleibt! Das ist auch eine Typfrage. Und man darf nie vergessen: Die Leute spüren die Arroganz des Ignorierens, auch wenn die Ursache in der Abwehr des Lampenfiebers zu finden ist!
Um dieses Kapitel abzuschließen: Ich bekam auf meinem Abschlusszeugnis in den musikalischen Fächern ausschließlich gute Noten, auch in Fagott! Mein Lehrer stellte sogar bei meinem Examen ein Smaragd-Tonbandgerät nebst dem Mikrophon aus Ost-RFT-Zeiten auf die Bühne, mit dem er alles mitschnitt. Ich habe die Aufnahmen noch zuhause, davon aber eine digitale Version erstellt. Die Zeit nagte an der Beschichtung des Tonbandes. Anfang der 90er Jahre überspielte ich das Original auf eine DAT-Kassette, weil sonst die Anzahl der Dropouts immer mehr zugenommen hätte. Als dann Jahre später die Möglichkeit bestand, die Musik auf einem anderen Medium zu speichern, wurde der DAT-Recorder ein letztes Mal aktiviert, um mein Fagottspiel in Einsen und Nullen zu verwandeln und auf einer externen Festplatte seine hoffentlich letzte Ruhe zu finden. Ich musste leider nach meinem Examen noch einmal Fagott blasen! Ich war mittlerweile 1. Fagottist im Hochschulorchester geworden, wir führten zum Ende des Studienjahres Beethovens Vierte auf. Und da hatte ich ein kleines Solo. So eins, wie es mir mein Hauptfachlehrer immer ausgemalt hatte, wie ich mir das atemanhaltende Publikum vorzustellen hatte. Ich hatte wochenlang nicht mehr geblasen, denn für mich war der Hauptfachunterricht mit dem Examen zu Ende. Wenn man als Bläser seine Lippen nicht mehr trainiert, verlieren sie an Kraft, und man hat Schwierigkeiten, längere Zeit hindurch zu blasen - die Lippen beginnen zu flattern und übrig bleibt ein warmer Luftstrom. Wenn ich alles geblasen hätte, was in den Noten stand, wäre ich im letzten Satz mit meiner Kraft am Ende gewesen und hätte das Solo nicht mehr blasen können. Not macht erfinderisch: Ich mimte die ganze Zeit den aktiven Fagottisten, der mit aufgeblasenen Backen eifrig in sein Holz bläst, um mir die Kraft für den Schluss aufzuheben. Es gelang! Das Fagott rührte ich dann zwanzig Jahre nicht mehr an, bis ich es verkaufte, und zwar für'n Appel - Ohne Ei.
Muggen mit unbekannten Instrumenten
Nebenbei habe ich noch versucht, durch das Muggen zu Geld zu kommen, aber die Gelegenheiten waren nicht reichlich gesät. In meinem Studienjahr war ein Posaunist, der Nebenbei noch sein Abi machte und mit Fremdwörtern nur so um sich schmiss, die er selbst nicht verstand. Sein IQ ruhte sich anscheinend auf einer unteren Ebene aus. Sein Vater hatte eine "Tanzkapelle", man kann auch sagen Bumskapelle, und Bumskapelle kommt noch nach der Feuerwehrkapelle. Für eine Veranstaltung zwischen Weihnachten und Neujahr 1967 fehlte ihnen ein Saxophonist, weiß der Teufel, warum sie dort keinen auftreiben konnten. Beim BBSV hatte ich ab und zu mal in ein Saxophon gehupt und wusste, wo die Töne lagen, aber das war's auch schon. Nun also sollte ich als 2. Saxophonist neben seinem Vater sogenannte "Druckarrangements" blasen. Das wiederum hatte etwas mit Vom-Blatt-Spielen zu tun, und da war ich sehr schlecht. Warum? Na, Tenorsaxophon war wieder mal ein B-Instrument, ich hatte mir die Griffe aber nach Gehör eingeprägt. Was für mich wie C klang, war als D notiert. So musste ich also fleißig sämtliche Noten beim Ablesen transponieren. "Ist nicht so schlimm", wurde ich getröstet, "das kriegste schon hin. Du kommst einfach einen Tag eher und probst mit meinem Vater. Der ist ja schließlich Saxophonist." Es folgte der Lockruf des Geldes! So setzte ich mich in den Zug und fuhr nach Auma, das lag bei Triptis, und das lag in der Nähe von Gera. Auma glich einer Siedlung, es gab aber feste Straßen. Und eine Kirche. Dort also übte ich Transponieren und prägte mir die einzelnen Titel ein, wenn sie nicht zu kompliziert waren. Es war ein komplettes Schlagerprogramm, das mit Stimmungsliedern für den festlichen Anlass angereichert war. Ich hätte nie gedacht, dass es mal soweit mit mir kommen würde, denn Schlager war das Schlimmste, was man sich so antun konnte. Ich habe den Abend überstanden! Ich sah sogar einigermaßen durch, wenn es darum ging, die richtigen Wiederholungen innerhalb eines Titels zu erfassen.
Ein Jahr später machte ich die Auma-Mugge noch einmal, diesmal jedoch als Schlagzeuger. Der Schlagzeuger der Auma-Tanzkapelle war eigentlich der Organist des Dorfes und hatte zu Silvester einen Gottesdienst, den er nicht absagen konnte. Da sagte der Vater zum Sohne:
"Du, Sohn, frag doch mal den Pianisten, der Fagott studieren muss und bei uns Saxophon geblasen hat, ob er auch Schlagzeug spielen kann. Nur zu Silvester, diese eine Mugge."
So muss es gewesen sein. Ich war ja gerade dabei, in meinem Nebenfach Schlaginstrumente zu lernen, aber so ein richtiges Set hatte ich noch nie unter meinen Händen gehabt. Zum Glück waren das alles leichte Rhythmen, die keine besondere Technik erforderten. Ich fuhr also wieder auf's Dorf und übte einen Tag Schlagzeug, um dann Silvester als Trommler auf der Bühne zu sitzen. Viel lieber hätte ich E-Orgel gespielt, doch diese Stelle war schon von der Tochter besetzt. Es war also ein Familienunternehmen. Am Silvesterabend ging alles gut - bis auf einen Zwischenfall: Es muss schon nach zwölf gewesen sein, als mich der ab und zu getrunkene Alkohol zu einem recht lockeren Anfassen der Schlägel trieb, bis mir der eine aus der Hand fiel. Ich durfte auf keinen Fall aufhören mit der Trommelei! Was tun also? Einen flotten Walzer ohne flottes Schlagzeug von einem noch viel flotteren Schlagzeuger nicht getrommelt? Ich versuchte also, mit der einen nun freien Hand den Schlägel von Boden zu klauben. Als ich ihn dann zu fassen bekam und mich wieder in die Waagerechte begab, fiel mir der andere aus der Hand und die Suche begann von neuem. Irgendwann suchte ich mit beiden Händen... Es hat keiner gemerkt - die anderen waren auch schon besoffen. Ich hatte sogar mal eine Begräbnismugge - wirklich! Da musste ich in einer Friedhofskapelle mit einem Bläserquintett eine feierliche Begräbnismusik spielen. Irgendwie habe ich mir sogar schwarze Klamotten aufgetrieben, denn das war Bedingung. So was war eine Durchhaltemugge, wir saßen auf dem Präsentierteller, hatten vor uns die Trauerenden und durften in keiner Weise ein lustiges Allerweltgesicht manchen. So ein Begräbnis kann sich ganz schön in die Länge ziehen. Dann nimmt man sich vor, nie zu sterben. Es gab 30,- Mark und das war besser als nichts. Ich musste ja von meinen 160,- Mark Stipendium 90,- Mark zuhause abgeben - als Kostgeld sozusagen. Im ersten Studienjahr teilte ich es mir mit meinem Freund Mücke, der vorübergehend auch bei mir wohnte.
Einmal - es war im 1. Studienjahr - kam ein Typ von der Schauspielschule zu mir und sagte, er hätte gehört, ich belege Schlagzeug und er brauche für Brechts "Die Ausnahme und die Regel" einen Trommler, womit er die zu spielende kleine Trommel meinte. "Bühnenmusik also!", dachte ich, "Was soll's, das muss doch drin sein." Die Sache hatte aber einen Haken: Die Aufführung sollte bereits am nächsten Tag sein, und es gab nur die Generalprobe, um mich mit dem Stück bekannt zu machen. Die Noten sah ich mir im Bus an und erbleichte: Hier waren Taktarten, von denen ich zwar mal gehört hatte, dass sich in Südeuropa ganze Völkerstämme daran laben, aber hierzulande dem Walzer keinesfalls Konkurrenz machen könnten. Es war ein 7/8-Takt! Ich hatte nur eine Chance: ich zählte leise bei jedem Takt bis sieben und schlug an der entsprechenden Stelle auf die Trommel, wie es in den Noten stand. Das hört sich jetzt etwas holprig an, aber das war es auch. Summa summarum - es hat am Ende alles geklappt, und ich war erleichtert. Fünf Jahre mussten vergehen, ehe ich solche krummen Taktarten in eigenen Stücken wie "Wasser und Wein" verwendete, die aber dann für mich rhythmisch logisch waren und hoffentlich für die Hörer auch. Ich bezweifle aber, dass der Grund dafür bei Brecht und dessen Komponisten Paul Dessau lag!
Erste Gehversuche als Mentor
Ab und zu besuchte ich meinen Vater. Er hatte es ja inzwischen zum Leiter von Jugendblasorchestern gebracht. Das brachte sein Job als Kulturhausleiter der Chemischen Werke BUNA mit sich. Er wurde nämlich von seiner Partei wegen unmoralischen Verhaltens dorthin strafversetzt, als meine Mutter die Scheidung einreichte. Da kannten die kein Pardon! Und das, weil er mit seiner Sekretärin 1962 zelten gefahren ist. Das war also der Preis der Scheidung! Er begann also in BUNA ein neues Arbeitsleben. Sein Job brachte auch für mich einige Vorteile mit sich. Ich wurde zum "Mentor" oder Anleiter einer jungen Band, die im Kulturhaus gegründet worden war.
Wie man sehen kann, war die Musikanlage nicht gerade üppig (siehe Foto rechts), das Schlagzeug klang so, wie es aussah und es ging musikalisch alles sehr brav vonstatten. Ich versuchte aber, das Beste herauszuholen und gleichzeitig zu lernen, wie man mit Schülern umgeht. Ich war froh, etwas Geld zu erhalten, und die waren froh, etwas beigebracht zu bekommen. Geben und nehmen. Am Ende meiner Schulzeit in Halle unterbreitete mein Vater mir einen Vorschlag. Sein Jugendblasorchester fuhr in den großen Ferien nach Glowe auf Rügen, um dort ein Trainingslager abzuhalten. Er als Chef sollte nun die entsprechenden Lehrkräfte für die einzelnen Instrumente des Einzelunterrichts organisieren. Am Schluss fehlte ein Klarinettenlehrer und er war der Meinung, dass könnte ich übernehmen. Klar, das traute ich mir in meiner Naivität zu, aber die Sache hatte einen Haken: Ich musste offiziell das 18. Lebensjahr vollendet haben. Nun war gutes Alter teuer. Mein Vater "vergaß" also mein richtiges Alter (noch 16!) und ich fuhr mit dem Orchester an die Ostsee. Dort spielte ich immer den "Alten". Ich durfte so lange aufbleiben, wie ich wollte, saß mit den anderen Gruppenleitern abends beim Bier und genoss meine Privilegien.
Einmal ging ich sogar "zum Tanz", was bedeutete, ich stand irgendwo hinten im Saal und lauschte der Musik einer Berliner Band namens MUSIC STROMERS. Damals wusste ich noch nicht, dass daraus mal die legendäre DDR-Band MODERN SOUL werden sollte. Sie coverten einen Song der Beatles, der mich wegen seines stampfenden Rhythmus sehr beeinflusst hat: "Lovely Rita" von dem 67er Sgt. Pepper-Album. Das war meine erste "richtige" Live-Band, die nicht den üblichen Schlager- und Tanzmusikscheiß spielte. Schon deswegen hat sich die Reise nach Norden gelohnt!
Aber ich war ja eigentlich dienstlich dort und so begannen die Schwierigkeiten da, wo ich sie nicht vermutet hatte: Klarinette war ein B-Instrument! Das bedeutete, ich musste immer umdenken, wenn ich auf die Noten sah. Das kannte ich ja schon von der Auma-Mugge, aber ich wiederhole es gern: Klang nämlich für mich als Absolutisten der Ton C, stand in den Noten aber ein D. Ich durfte also immer fein transponieren, um den Klarinettisten berichtigen zu können. Leider konnte ich auf die Blastechnik dieses Instruments nicht eingehen, weil ich davon keine Ahnung hatte. Deshalb belief sich mein Unterricht im Wesentlichen auf die Kontrolle der geblasenen Töne, die ich mit "richtig" und "falsch" quittierte. Ende gut, alles gut - ich wurde sogar bezahlt dafür!
Die andere Welt der Musik
Ein halbes Jahr vor Beendigung meines Studiums gab es ein sogenanntes "Solidaritätskonzert für Bangladesch", wo es nach dem verheerenden Zyklon im November 1970 zu einer Hungersnot kam. Das Konzert wurde von Studenten organisiert, ohne dass die Partei darauf Einfluss nehmen konnte. Es wurde in der Aula der Hochschule für Grafik veranstaltet und glich einer Protestaktion, wie man sie von westlichen Hochschulen her kannte. Es spielten u.a. sogenannte progressive Bands. Die Musik war zu dieser Zeit gerade im Umbruch und der alte Beat hatte seine Schuldigkeit getan. Ich sah dort zum ersten Mal einen Bassisten, der richtig aktiv auf seinem Instrument war. Ich holte ihn ein paar Jahre später zu AUTOMOBIL. Dann spielte eine Band, deren Namen ich mal im Zusammenhang mit dem "Beat-Aufstand" gehört hatte, und die sich KLAUS RENFT COMBO nannte. Damit begannen meine nicht nur auf die Musik bezogenen Lehrjahre und die Suche nach dem ICH, die das Wandern von Band zu Band mit sich brachte.
Lehr- und Wanderjahre: Klaus-Renft-Combo
"Renft" alias Klaus-Renft-Combo machte eine Musik, die ich noch gar nicht kannte. Später erfuhr ich den Namen dieser Stilrichtung: Psychedelic Rock. Sie wurde wahrscheinlich im Westen unter Drogen zur Welt gebracht und trug deshalb zur Bewusstseinserweiterung bei. Offiziell hatte diese Richtung 1969 im Westen schon ihr Ende gefunden, aber im Osten dauerte das alles etwas länger. Dabei galt Renft schon immer in diesen Zeiten als "progressiv", d.h. sie waren den anderen DDR-Bands bei der Songsuche und ausgefallenen Stilrichtungen voraus. Dabei stieß man auf Psychedelic und fand auch eine Band, die diesen Stil verkörperte: VANILLA FUDGE! So gab es in diesem Konzert einige Songs von ihnen. Die Studenten saßen auf dem Boden, es war ein Happening der besonderen Art. Ich merkte erstmals, auf was für einer kleinen Insel ich popmusikalisch gelebt hatte.
Ein paar Tage später sprach mich Klaus Renft (? 2006) an. Wie er auf mich gestoßen war, ist mir noch heute ein Rätsel, aber wahrscheinlich hatte die Gerüchteküche ihren Anteil daran. Er sagte, man wolle eine neue Band nachspielen, die noch keiner kannte: GINGER BAKER'S AIRFORCE. Die hatten eine ganz eigenartige Besetzung. Neben E-Piano, Bass, Gitarre und Schlagzeug gab es viel Percussion und vor allem Saxophone. Es war so eine Art Koproduktion zwischen Europa und Afrika. Afrikanische Sänger sangen in einer afrikanischen Sprache, die natürlich keiner verstand, aber darum ging es ja auch nicht. Das Renft-Englisch verstand ja auch keiner. Der Organist von Renft spielte nebenbei Posaune und sollte da als solcher fungieren. Ich wiederum sollte deshalb den Orgel-Part übernehmen, wenn ich nicht gerade als Fagottist eingesetzt wurde.
Es ist eigentlich klar, dass ich das nicht ablehnte. Es kamen noch ein Trompete und ein Profi-Saxophonist dazu und ab ging's nach langer Probearbeit zum ersten Konzert nach Peitz. Damit begann ein Trend in der DDR: Die Konzerte. Spielte man sonst immer zum Tanz, gab diese Form mehr musikalische Freiheit, denn wir hatten ein Publikum, das zuhörte. Da eignete sich Ginger Baker und Vanilla Fudge hervorragend. Renft hatte irgendwie Beziehungen zu West-Schallplatten, die ganz frisch auf dem Markt waren, wobei ich Rasiermusik für's Bürgertum ausschließe. Er hatte also auch die Baker-Scheibe, und wir hörten sie uns bei ihm an. Er war im Besitz einer der besten Stereoanlagen, die es zu dieser Zeit gab. Stereo war da noch ein Fremdwort für mich und ich freute mich, wenn aus dem linken Lautsprecher etwas anderes kam als aus dem rechten. Seine Wohnung war nur unweit der Hochschule. Ich konnte sein Haus nicht verfehlen, denn davor stand ein kleiner Hänger, der zu einem Benzin fressenden Auto der Marke Sachsenring gehörte. Darin war die Lautsprecheranlage untergebracht, also Verstärker und Boxen nebst Instrumenten und Kleinkram. Der Hänger war mit einer Plane überdeckt, die faustgroße Löcher hatte und dem Wasser freien Lauf ließ. So löste sich zum Beispiel das Furnier meiner Weltmeister-Orgel, die ein Holzgehäuse besaß. Renft war eine, was Ordnung und Sauberkeit anbetraf, sehr unkonventionelle Band - und das ist mal sehr vorsichtig ausgedrückt. Es kümmerte sich keiner um solche profanen Dinge. Nur ich machte da wieder mal eine Ausnahme. So machten wir viele Konzerte in dieser Bläser-Besetzung, und Renft spielte auch in seiner alten Besetzung weiterhin zum Tanz. Eines Tages, es war im Februar 1971, fragte mich Renft, ob ich fest bei ihm einsteigen würde. Er offerierte mir auch die Gage, die es pro Auftritt geben sollte: 100,- Mark, ein geradezu fürstliches Gehalt! Mein Vorgänger Stolle war eigentlich ein guter Mann an der Orgel. Hinzu kam, dass er pedantisch war. Wir mussten uns ja alle gecoverten Songs vom Band abhören, da es davon keine Noten zu kaufen gab. Stolle schrieb also alles auf, was er auf der Aufnahme hörte, und er hörte geradezu alles! Diese aufgeschriebenen Noten mussten dann 1:1 wiedergegeben werden. Einmal entdeckte er einen Knackser auf dem Tonband, der garantiert vom Geräteinschalten herrührte. Für ihn aber gehörte er zur Musik! Peter Kschentz (? 2005), das Instrumental-Mädchen-für-alles, musste diesen Knackser imitieren. Er nahm sich also einen Löffel und machte "klick" vor dem Mikrofon. Soweit kann Pedanterie gehen! Da wollte sich also eine schlampige Band von einem Pedanten trennen, verlor aber einen, der aus einer jämmerlichen Ost-Orgel noch das Beste herausholen konnte. Es gelang ihm sogar leidlich, auf so einem Ding eine Hammond B3 nachzumachen - für Ostverhältnisse geradezu eine Revolution. So gut war ich natürlich nicht. Einerseits fehlte mir die Erfahrung und zum anderen ein Stück Persönlichkeit, die Persönlichkeit eines Pedanten eben.
Erste eigene elektronische Instrumente
Für mich trat nun ein Problem auf: Ich hatte keine Orgel. Da machte mir Renft den Vorschlag, mir eine neue Orgel auf die Bühne zu stellen, die ich dann abbezahlen sollte. Gesagt, getan - ich bekam also vier Monate keine Gage, bis die 4000,- Mark teure Weltmeister-Orgel in meinem Besitz überging. Kaum zu glauben, aber sie war das Top-Model und hatte schon ein paar Neuerungen aufzuweisen. Sie blieb aber eine Ost-Orgel, so leid es mir tut. Es gab keine Effektgeräte, um den piepsigen Sound anhörenswerter zu machen. Zu dieser Zeit war das aber noch kein Problem für mich. Ich drückte mir also das Repertoire drauf, wir probten ein paarmal, und schon ging's los mit dem frisch gebackenen neuen Mitglied der Klaus-Renft-Combo am 6. März in Großstübing. Ich kann nicht garantieren, dass dieser Ort auf irgendeiner Landkarte zu finden ist...
Die Muggerei ließ sich mit meinem Studium vereinbaren, es war ja nicht mehr lang, bis ich ein freier Mensch war. Montags war es am schwersten, da lag das Wochenende noch in den Knochen, aber durch die Prüfungen am Ende des Studienjahres war gleichzeitig mehr Zeit gewonnen. Anfangs schwankte ich ja noch zwischen Baum und Borke, weil noch nicht feststand, ob ich den Job als Fagottist nun doch bekam oder nicht. Aber auch das löste sich ja zum Guten auf. Wir tingelten von Dorf zu Dorf, Kreisstadt zu Kreisstadt und Bezirkshaupstadt zu Bezirkshauptstadt. Wir nahmen alles mit, was Geld und Ruhm brachte, gerieten aber auch ab und zu mal zu Auftritten, die unrühmlich endeten und wenig Geld einbrachten. In der Nähe von Zwickau liegt der berühmte "Amorsaal" von Mülsen. Das war damals eine "Beathochburg". Da trafen sich die Tramper des ganzen Landes, bekleidet mit grünem Original-Parka (wer Geld und Beziehungen hatte) oder ganz normalen Kutten, die nackten Füße steckten in Jesuslatschen, die Haare waren lang und strähnig oder lockig oder ausnahmsweise auch gepflegt, man rauchte die Billigmarke KARO, die einen widerlichen Gestank in der Wohnung hinterließ und draußen als Unkrautvernichtungsmittel gut einsetzbar gewesen wäre. Diese "Kunden", wie sie sich selbst bezeichneten, standen an jenem Abend, an dem wir dort spielen sollten, als Menschenmenge draußen vor dem Eingang zum Saal. Renft hatte nämlich fast zwei Jahre Spielverbot im Bezirk "Garl-Morgs-Stodd" gehabt, und dieses war der erste Tag, an dem sie wieder auftreten durfte.
Ich muss vorausschicken, dass wir uns wie so oft im Leipziger "Thüringer Hof" trafen. 17:00 Uhr war ausgemacht, weil der Drummer als Einziger noch voll arbeiten musste und deshalb nicht eher da sein konnte. Denken Sie ja nicht, dass da schon losgefahren wurde! Nein, im Allgemeinen trafen die Letzten erst eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit ein.
"Micha, was guckst'n so? Sind wir dir wieder mal nicht pünktlich genug erschienen? War der Kellner schon da? Gib doch mal die Speisekarte rüber, ich hab seit Mittag nichts gegessen... Michaaa, lache mal..."
Ich lachte nicht! Ich konnte mich an diese Art von Un-Disziplin nicht gewöhnen und das reizte sie. Also wurde erst mal gegessen und ein Bier getrunken. Es war nicht immer so, aber immer öfter. Vorher ging nichts. Meistens. So auch an jenem Mülsen-Tag. Da wurde aber nicht nur ein Bier getrunken... Nein, da passte noch mehr rein. Es war bereits weit über 19:00 Uhr, als wir ins Auto stiegen und in Richtung Mülsen fuhren. Der 6-Sitzer Marke Sachsenring hatte den Vorteil, dass alle hineinpassten. Der Nachteil war, er war schon in die Jahre gekommen und wollte nicht immer so, wie wir wollten. Also brauchten wir viel Zeit, um endlich gegen 22:00 Uhr in Mülsen einzutreffen - Beginn sollte 19:00 Uhr sein. Eine riesige Menschentraube erwartete uns also vor dem Eingang und wir dachten schon, der Kneiper hätte noch keinen Einlass gemacht. Dem war aber nicht so: Als wir unsere Lautsprecheranlage in den Saal schleppten, kamen wir kaum durch, denn jedes auch noch so kleine Plätzchen war gefüllt mit Menschen, Getränken, Schnitzeln und viel Schweiß. Die draußen standen hatten keine Karten mehr bekommen, es müssen über hundert gewesen sein, und das drei Stunden nach dem eigentlichen Beginn. Wir waren gegen 23:00 Uhr mit dem Aufbau fertig und spielten noch bis 0:00 Uhr. Die Leute waren begeistert und ich auch, hatte ich doch so etwas noch nie erlebt.
Die Zeit mit der Renft-Combo war chaotisch, teilweise wenigstens. Es gab auch brave Muggen mit Renft, wo keiner besoffen war und von der Bühne fiel. Ich war ja eigentlich ein alkoholischer Fremdkörper in der Band. Ich hatte meine Orgel noch nicht abbezahlt und rechnete deshalb mit jedem Pfennig. Ich trank also in der Treff-Kneipe "Thüringer Hof" kein Bier und holte mir heimlich meine Schnitten (wie wir Leipziger sagten) aus der Tasche und begann zu essen. Damit fingen die Hänseleien an und Cäsar (? 2008) versuchte mir den Spitznamen "Bemme" anzuhängen, was ihm aber misslang. Cäsar! Wenn der im Suff war, vergaß er alles um sich herum. Weil wir kein Hotelzimmer fanden, übernachteten wir nach einer Mugge im Wohnzimmer eines Veranstalters. Da wurden Luftmatratzen und Decken auf dem Boden ausgebreitet und ich bekam einen Platz neben Cäsar. Der glaubte, seine Frau neben sich zu haben und betatschte mich entsprechend an den dafür vorgesehenen Stellen. Ich hatte Mühe, ihn abzuhalten, mir ein Kind zu machen. Irgendwann stand er auf und bewegte sich in Richtung eines Kachelofens. "Hoffentlich bleibt der dort", dachte ich. Da hörte ich ein Geräusch, das wie die Folge eines leicht geöffneten Wasserhahns klang. Und das Wasser floss an der Tapete runter. Dann kam Cäsar zurück und ich wusste: Es ist kein Wasser gewesen! In diesem Stil gab es einige "nette" Episoden, die ich jetzt nicht näher ausführen möchte.
Hochzeitsreise en Miniatur
Ich lernte die Jungs erst richtig kennen, als wir eine Ostseetournee machten. Vorangegangen war das Ende meines letzten Studienjahres, das mit meiner Hochzeit zusammenfiel. Ich heiratete Christine J. - oder sie mich... oder wir uns - am 2. Juni 1971, machten am 3. Juni eine kleine Feier in Torgau, an der "Mutti und Vati" teilnahmen, und fuhren am nächsten Tag bereits in Richtung Ostsee. In Berlin hatten wir einen Auftritt im damals berühmten Eisenbahner Kulturhaus Karlshorst. Die besten Live-Kapellen traten dort und auch in der Gaststätte Rübezahl auf, Eintritt 3,05 Mark. Dort erhielt man den Ritterschlag, wenn man als Nichtberliner Band das Publikum aus der Reserve locken konnte. Das war bei den coolen Berlinern sehr schwer, denn die hatten ja alles vor der Tür: Rauschfreies Westfernsehen, das man "mit einem vollgepullerten Draht" empfangen konnte (so die Sachsen), während wir auf unseren Dächern wahre Antennengebilde errichten mussten; Radio mit Rias, SFB, AFN, dem britischen BFBS und die Magazine, die Oma aus Westberlin rübergeschmuggelt hatte. Du musstest in Berlin auch jedes Mal etwas Neues in deinem Musikgepäck haben und zwar etwas Besonderes, was man in der Hauptstadt noch nicht kannte. Diesbezüglich hatte Renft immer den richtigen Riecher: Wir gewannen das Rennen mit Vanilla Fudge, Ginger Baker und Iron Butterflys "In-A-Gadda-Da-Vida". Da konnten sie staunend unten am Bühnenrand einem 12-minütigen Schlagzeugsolo mit zwei Trommlern folgen. Es gab dann immer Bands, die sich später diese Aufnahmen besorgten, um sie ebenfalls nachzuspielen, aber sie waren halt nicht die ersten, und darum ging es eigentlich. Diesem Prinzip versuchte ich auch noch in späteren Bands zu folgen, nämlich der Erste zu sein, der eine Band covert! Heute würde man ganze Anwaltsbüros einsetzen, um zu klären, wer welche Band zum ersten Mal nachgespielt hat.
Renft für Groß und Klein
Wir spielten nicht nur abends, sondern durften auch vor Bockwurst essenden Urlaubern am Nachmittag aufspielen. Unsere Fans waren begeistert, die ganz mutigen gingen sogar bis zum Bühnenrand, wenn es einen gab, und fassten einen Mikrophonständer oder eine Trommel wie eine Reliquie an. Es war sozusagen der Beginn einer Freundschaft, bis sie von Mutti zurückgerufen wurden. Alter? Zwischen zwei und fünf.
Legenden geben oft ein anders Bild ab, als es in Wirklichkeit gewesen ist. Es ist nur eine Frage der Interpretation. Warum soll man nicht dieses Bild als "volksnah" verkaufen? Wenn ich es mir aber genauer ansehe, muss ich feststellen, dass wir ja so gut wie keine Lautsprecheranlage gehabt haben (heute sagt man PA, Public Address dazu). Diese mickrigen Dinger rechts und links sollen den Gesang rübergebracht haben? Diese Dinger hießen bei uns "Gesangsboxen". Wir waren sogar stolz auf ihre Leistung. Es müssen mindesten 60 Watt gewesen sein! Auf jeder Seite! Stereo! Was wollte man mehr? Ja, ich wollte mehr! Ich musste nämlich mit über Cäsars Laney-Turm spielen. Mit "Turm" sind zwei übereinander stehende Lautsprecherboxen gemeint, auf denen der Verstärker steht. Ab und zu importierte die DDR aus dem Westen Instrumente und Musikelektronik in kleiner Stückzahl, die dann an ausgesuchte Personen verteilt wurden. Entweder man war ein kulturpolitischer Strammsteher oder man kannte einen, der einen kannte und der wiederum auch einen kannte. Cäsars Boxenturm und Verstärker kam aus dem Westimportkontingent, ebenso die Becken unseres Drummers und die Lautsprecheranlage nebst Verstärker der Firma Echolette Box-SM 57. Ich konnte mich über Cäsars Boxen hören, hatte er aber ein Solo oder sollte es etwas voller und härter klingen, war bei mir Ruhe angesagt. Ich hörte nur im Hintergrund eine verzerrte leise Orgel. Ich versuchte zwar, einen dynamischen Kompromiss auszuhandeln, aber es besserte sich nicht viel. Es war halt sein Turm und sein Verstärker. Ende des Jahres 1971 hielt ich es mit dem Furniermodell meiner Orgel der Marke "Weltmeister" nicht mehr aus und besorgte mir eine neue. Es war ein italienisches Top-Modell der Marke "Farfisa professional". Preis 14.000,- Mark, im Westen also 3.500,- DM - wir mussten ja alles 1:4 bezahlen. Die alte Orgel wurden wir zum Originalpreis los, denn es war ja schwer, im Handel ein solches Modell zu ergattern. Die restlichen 10.000,- Mark musste ich wieder abbezahlen, wie gehabt. Ich hatte außer dem Bandleader, der fast immer im Besitz der Lautsprecheranlage war, für meine Instrumente das meiste zu investieren. Also war ich von Schulden umgeben, lernte aber, damit zu leben. Irgendwann hat man dann einen riesigen Geldberg auf der Bühne stehen und Margarine für auf's Brot. Wir machten auch mit Renft in einer Jugend-TV-Sendung namens "Notenbank" mit, die Haare hochgesteckt und mit ordentlicher Kleidung, wie es sich eben für einen sozialistischen TV-Sender gehörte. Sie sollte das Gegenstück zum Beat-Club der ARD sein. Wir spielten den Song "Wer die Rose ehrt". Das war eines der Lieder, mit dem man keinem politisch etwas zuleide tun konnte - es ging also durch die Zensur. Es gab keinen Song, egal von wem, der diesen steinigen Zensur-Weg nicht gehen musste.
Der Hit aus der Badewanne
"Du kannst 'Wer die Rose ehrt' von Cäsar ja mal arrangieren", bot mir Renft alias Klaus "Jenny" Jentzsch an. Cäsar war ein Musikant, der aus dem Bauch heraus Musik machte. Ich hatte schon damals das Gefühl, der Song musste in der Badewanne entstanden sein, bei guter Akustik wegen der Kacheln, wie wir damals sagten. Das tut aber der Genialität des Liedes keinen Abbruch. Also setzte ich mich hin und machte "Kunst" aus dem Stück. Kunst deshalb, weil ich gerade mein Studium beendet hatte und noch voller Klassik steckte. Da musste schon eine barocke Einleitung herhalten und gleichzeitig wurden natürlich harmonische Erweiterungen hinzugefügt - das ließ ich mir nicht nehmen. Und dann kam die Stelle mit dem Refrain-Chor. Hier musste etwas passieren, eine kleine musikalische Revolution in einem Badewannenlied. Also endete der harmonische Abgang mit einem f-c-f-g-h-Akkord. Am Schluss wurde noch ein Akkord hinzugefügt, der auf Auflösung wartete, als Liedende unter dem Motto: "Was will uns der Schöpfer damit sagen?" Ich schwöre, ich hab dabei nicht an Mozart gedacht, von dem die Legende sagt, er sei in der Nacht aufgestanden und hätte diesen unaufgelösten Akkord wieder in sein richtiges Klangbett gebracht (Das war ein kleiner musiktheoretischer Ausflug für Anfänger. Sorry). Wenn das von mir nicht revolutionär war, ähm... dann verstehe ich die Rock- und Liedwelt nicht mehr...
Für mich grenzte es ebenfalls an Genialität, wie Cäsar den darauffolgenden Ton fand! Das Lied war fertig und nun ab zum Rundfunk damit. Dort hatte man einen Produzenten, der mit dem Namensträger westlicher Art nichts gemein hatte. 1970, zur Zeit des beatmusikalischen Tauwetters, strömten Mitarbeiter des Rundfunks durch die Lande, um Bands für eine Produktion auszuwählen (heute sagt man neudeutsch "Casting" dazu). Unter deren Obhut wurden dann ausgesuchte Titel eingereicht, von denen man annahm, dass sie die Hürden eines vierköpfigen Gremiums überstehen könnten. Wir hatten so eine Produzentin, die mich viele Jahre mit den verschiedensten Bands begleitete und immer zu uns hielt: Luise Mirsch, Produzenten-Legende und heute schon ein paar Jahre in Rente.
Die Produktionsbedingungen hingen von dem Studio ab, in dem man produzierte und das uns zugewiesen wurde. Es gab zwei große Aufnahmesäle für Orchester und mehrere kleine für Gruppen oder Hörspiel. Alle Keyboarder träumten davon, auf einer Hammond-Orgel spielen zu dürfen, und es glich einem mittleren Orgasmus, war zur Wiedergabe auch ein Leslie-Kabinett angeschlossen. Das war eine Lautsprecherbox im Format eines mittleren Kühlschranks, in der oben waagerecht zwei gegenüberstehende Hochtonlautsprecher rotierten. Damit ergab sich ein schwebender, räumlicher Sound, der charakteristisch für dieses Instrument wurde. Bei der Produktion von "Wer die Rose ehrt" hatten wir den Saal 4 für uns, und der gehörte zu den kleineren. Eine Hammond-Orgel gab's damals aber nur im Saal 2, also mussten wir uns was einfallen lassen. So packte ich meine Farfisa-Orgel aus, schloss sie an einen Verstärker an, und der Toningenieur stellte zwei Mikrofone vor die Box. Not macht erfinderisch: Mit einer ein Quadratmeter großen Pappe wurde der Schall vor der Box durch ständiges Bewegen verteilt, so dass der schwebende Klang entstand, der die Orgel bei der "Rose" so typisch machte. Wir wurden zu Sound-Wedlern.
Alles in allem wurde dann das Stück daraus, was seinen Weg aus der Badewanne in die Konzertsäle dieser Welt fand. Es brachte Cäsar (!) viel Geld und Ruhm ein. Ich werde meine Tränen jetzt betulichst unterdrücken, aber so ist es halt in der Kunst, wenn der eine gibt und der andere nimmt. Ich war trotzdem 2008 auf seinem Begräbnis und habe ihm verziehen, meinen künstlerischen Anteil mit keiner Silbe jemals erwähnt zu haben! Viel wichtiger ist mein Nicht-Komponieren bei Renft. Ich beschränkte mich auf's Vom-Band-Runterhören. "Wer die Rose ehrt" war das einzig von mir komplett arrangierte Stück. Sonst entstanden die Titel immer in Teamarbeit, was ich überhaupt nicht leiden konnte, da es mir viel zu lange dauerte, bis ein neuer Song bühnenreif war. Ich hätte einfach ein Arrangement geschrieben, die Jungs hätten es gespielt und fertig. Aber nein, da herrschten demokratische Verhältnisse wie später bei den Grünen Fundis! Jeder musste seinen wenn auch noch so kleinen Senf hinzugeben, da musste sich ein Jeder seine Stimme im Beisein aller draufdrücken, und das dauerte halt. Da ich theoretisch am meisten aufzuweisen hatte, ging die musikalische Leitung teilweise in mein Ressort über, änderte aber nichts an den beschriebenen Tatsachen.
Renft - ein Resümee
Zusammenfassend muss ich sagen, es waren gute Musikanten, alle-samt! Am weitesten war Cäsar, der neben brillantem Blockflötenspiel auch noch das gewisse Timbre in seiner Stimme mitbrachte. Monster der Leadsänger hatte eine "schweine Röhre" - übersetzt "eine gute Stimme" - und machte nebenbei noch Percussion. Peter Kschentz war das Multitalent; er konnte von allem ein bisschen, aber reihte sich nahtlos in das Renftgebilde ein. Jochen Hohl an den Drums war der ruhende Pol unter den Chaoten. Er ging einer richtigen Arbeit nach, war gebildet und eigentlich kein Schlagzeuger. Es war die Geburt aus der Not, weil nämlich einer ausstieg und ihm gesagt wurde: "Morgen spielst du Schlagzeug!" Und er spielte, wenn es ihn auch viel Zeit und Mühen kostete, ein guter Drummer zu werden. Er hatte später dann sogar Schlagzeug studiert. Bleibt noch Renft selbst, der eigentlich Klaus Jentzsch hieß und die Band nach dem Namen seiner Großmutter benannt hatte, wenn Google nicht lügt. Handwerklich gesehen war die Combo anfangs (bis auf Cäsar) eine Laienkapelle und hätte von einer Einstufungskommission höchstens das Prädikat "Oberstufe" erhalten - es tut mir leid, das zu sagen. Am schlechtesten war Renft selbst am Bass vor allem dann, wenn er besoffen war. Ich habe schon Auftritte erlebt, wo Monster ihm die Hand auf den Gitarrenhals legen musste, um seine Finger in die richtige Stellung zu bringen! Da saß ich als verbissener Hochschulabsolvent und schwor mir, ihm hinter der Bühne mal gehörig die Meinung zu sagen. Er grinste aber nur und lud mich zum Bier ein. Klar, er übte auch, aber wahrscheinlich gingen weniger die Noten sondern Geldscheine und Veranstaltungen durch seinen Kopf. Wir beide schwammen auf zwei verschiedenen Wellen, seine Philosophie war nicht die meine, obwohl er sich gern als Philosoph aufspielte. Er blieb ein Dachdeckender Honecker der Beatmusik und in seinem Herzen eben ein Tischler - da war er besser! Das ist wie in "Des Kaisers neue Kleider", falls euch dieses Märchen noch bekannte sein sollte. Wenn der Pomp der Legende abgelegt wird, bleibt die Nacktheit, und man kann die Spreu vom Weizen trennen. Das ist wie bei den Frauen: Eine wirklich schöne Frau ist dann noch schön, wenn sie unter der Dusche steht und nasse, anklebende Haare hat. Ein Mann ist schön, wenn auch er unter der Dusche steht, nachdem die Frau das Licht ausgemacht hat - so hätte es Harald Schmidt sarkastisch formuliert.