Teil 3

Der dritte Teil von Michael Heubachs Autobiographie. Der Musiker erzählt über "Platzangst", dem Beat-Blas-Sing-Verein, langen Haaren und ersten Schritten der Bürkholz Formation...
 
Wie ich die Händelfestspiele eröffnete
Eigentlich ist es interessant, wie ich zum Komponieren und Arrangieren kam: Ich hatte schon durch das Improvisieren viele Einfälle, nur fehlte mir damals der richtige Anlass, Ideen zu Papier zu bringen. Am KON nahm alles seinen Anfang. Halle war die Stadt der Händelfestspiele. Ich bekam in der 9. Klasse 1966 den Auftrag, dafür eine Eröffnungsfanfare zu komponieren. Ich, der kleine Schüler, für so'n großes Ding! Man wollte mich nicht unbedingt an der Schule, da ich nicht in die Kategorie "bequemer Schüler" fiel, brauchte mich aber dennoch, weil man mein Talent zu schätzen wusste. Vier Trompeter und zwei Pauken schmetterten meine Fanfare vom Balkon des Rathauses und ich war mächtig stolz. Leider wurde mein Name in den Medien nicht erwähnt, denn es gab ja keine "Medien" in unserem heutigen Sinn, und auch unsere Schule wurde nicht genannt. Im folgenden Jahr bekam ich wieder einen Auftrag zu dem gleichen Anlass und wieder schmetterten vier Trompeter die Melodie in die Menge. Und wieder keine Medien... Zum ersten Mal verspürte ich innerlich eines der wenigen Vorteile des westlichen Systems.


An der Spezialschule kümmerte man sich seitens der Lehrerschaft weniger um Fragen des politischen Systems, man war da liberal eingestellt, wenn man natürlich um einige Pflichtstatements nicht drum rum kam. Als Katholik bekam ich an den entsprechenden kirchlichen Feiertagen frei und musste nicht in die Schule. Das war das Vorteilhafte für mich daran. Diese Feste waren aber auch gleichzeitig ein Event (wie man heute sagen würde), und ich nahm ab einem gewissen Alter an den Gottesdiensten immer als Ministrant teil. Damit war ich in der Schule für die Lehrerschaft gleichzeitig ein Außenseiter, denn das Katholische potenzierte sich im Ministrantsein. Meine Mitschüler kümmerte es wenig und es hat keine Freundschaft drunter gelitten.


Popmusik in Gottes Hallen und anderswo
In der katholischen Gemeinde St. Laurentius war es auch, wo eine "Kirchenband" existierte. Wer und wann sie gegründet hatte, ist umstritten. Es gibt da keine genaueren Angaben und auch die anderen wissen nicht viel mehr als ich. Es muss so um 1967 rum gewesen sein, als wir uns zusammenfanden. Da war unser Ältester, Alfred Mechsner, Baujahr 1942, seines Zeichens Trommler und Gelegenheitstrompeter; Jochen Grotzke als Gitarrist und Sänger, Matthias Locker mit einer selbstgebauten Bassgitarre, Dietmar Stera, genannt "Sterilien", als zweiter Gitarrist und Sänger und ich, der Mann am Klavier, an der Klampfe und am Mikro. Das war der Stamm, und ab und zu kam und ging jemand. Wir probten im Gemeindesaal, der einem größeren Zimmer gleichkam, auf einer Erhöhung, die ein Podest war und Bühne genannt wurde.
 

Als es uns finanziell etwas besser ging, besorgten wir uns einen Verstärker, der das Wort eigentlichen nicht verdiente. Ich weiß nicht, für welches Wohnzimmer das Gerät vorgesehen war, aber es würde heute in jedem Kinderzimmer seine Arbeit verrichten: Höhe ca. 40 cm, Breite 25 cm und die Tiefe vielleicht 30 cm, ich kann's nicht beschwören, es liegt zu lange zurück. Dieses Equipment also hatte einen Lautsprecher und einen eingebauten Verstärker, der es bis zu 40 Watt brachte. Daran wurden zwei dreieckige Minimixer angeschlossen, die jeweils drei Eingänge hatten, also zusammen sechs. Nun mussten dort drei Gitarren und drei Mikros Platz finden. Und das fanden sie auch! Und alles ging in den Verstärker und wurde mit voller 40-Watt-Leistung in den Raum geschallt. Es muss schrecklich gewesen sein, diese Soundwumme anzuhören! Aber da wir nicht immer full power spielten, gab's bestimmt auch Stellen, wo man etwas differenzierter Musik machen konnte. Bloß gut, dass wir ahnungslos waren, was an Beschallung möglich war!
 

Ich hatte das Glück, an einem Nachmittag des Jahres 1965 in dem "Beatschuppen" (wie wir sagten) eine prominente Leipziger Band zu hören, die "The Starlets" hieß - damals hatten fast alle neugegründeten Beatbands ein "The" vorneweg, das war trendy. Deshalb kam ich auf die Idee, dem Englisch-Wahn mit "The" nicht zu folgen und dafür einen deutschen Namen für die Band zu erfinden: Beat-Blas-Sing-Verein, kurz BBSV - es war gar nicht so lange zurück, dass ich noch den Namen "The Rolling Thunders" in die Waagschale warf. Damit wollte ich gleichzeitig das spießerische Vereinswesen auf die Schippe nehmen, denn "Beat" und "Verein" sind eben zwei Paar Schuhe!
Wir spielten Hits, von denen wir uns die Texte abhörten oder irgendwoher besorgten. Es gab bei uns auch die ersten eigenen Songs. Der Mitministrant Walter Pannicke war ein sehr begabter Songerfinder. Seine Songs waren sehr an den Beatles angelehnt, sie hatten aber irgendetwas ganz bestimmtes Eigenes. Er spielte jedoch nicht fest in der Band mit, und so wurden seine Titel nicht gespielt. Dafür lieferte "Sterilien" auch ein paar eigene Songs ab, die er selbst sang. Sprache? Natürlich Englisch! Aber nicht das Queen's English war es, sondern eher ein Dialekt, der auf den Fidschiinseln gesprochen wurde... Mit anderen Worten, es verstand ihn kein Schwein, aber er klaaang! Da gab es Lieder, die klangen wie Jonny Cash in seinen tiefsten Südstaatenzeiten, obwohl es nur Klanggebilde waren. Ich sang auch ein paar Songs, wobei ich mit dem Terminus singen vorsichtig umgehe. Da gab es doch ab und zu ein paar Stimmlagen, die an meiner Grenze lagen, und die ich nur noch "rausrufen" konnte. Aber Jochen war auch nicht besser, hatte aber ein besseres Timbre als ich. Weil wir viele Songs coverten und deshalb in der Originaltonart spielen mussten, konnten wir auch nur durch Herausschreien der hohen Töne den Anschein erwecken, hier sind die Beatles am Werk - die Beatles nach einer missglückten Stimmbandoperation. Das obere Bild wurde zur Faschingszeit aufgenommen. Unser Drummer Alfred Mechsner (re) hatte eine Perücke auf und die brauchte er schon damals, weil ihn Gott aus einer unergründlichen Handlungsweise mit Haarentzug bestraft hatte. Eigentlich waren wir ja eine Kirchenband, spielten aber auch ab und zu mal woanders. Einmal hatte irgendjemand einen Auftritt für eine Betriebsfeier aufgerissen. Wir reisten an, bauten auf und wollten gerade zu spielen anfangen, als ein Anzugträger mit bürokratisch ernster Miene an den Bühnenrand trat und im breitesten Sächsisch zu uns hinauf rief:
 

"Isch bin vom Rat des Kreises Leipzisch, Abteilung Kultur. Zeichn Se mal ihre Schpielerlaubnis!
"

"...?..."
 

"Ihre Spielerlaubnis. Bitte! Oder hamse keene?"
 

"Naja, wir dachten..."
 

"Herrnse off zu denkn, das machen mir für Sie! Hamse nun oder hamse nicht, die Schpielerlaubnis meene ich?"
 

"Eine Betriebsfeier ist doch keine öffentliche Veranstaltung und da dachten wir..."
,
 

wollten wir uns rausreden.
 

"Noch mal: Denkn machn mir für Sie. Das wird ä Nachschpiel ham, worauf Se sich verlassn gönn! Baggn Se ein und verlassn Se den Saal! Isch gehe erscht wieder, wenn hier alles weg is!"
 

So packten wir unsere Instrumente wieder ein und verließen den Ort unseres Verbrechens, anstatt illegal zu spielen. Eigentlich waren wir ja ganz gehorsame Bürger - die Revolution machten wir nur bei heruntergelassenem Rollo.
 

Die Spielerlaubnis war in der DDR eine Erlaubnis für Musiker, um öffentlich auftreten zu dürfen. Um sie zu erlangen, musste eine Prüfung vor einer Einstufungskommission abgelegt werden. Dann wurde festgelegt, welche Kategorie der Besoldung auf den Prüfling zutraf. War es ein Stundensatz von vier Mark, hatte er die Unterstufe, bekam er 6,50 Mark gehörte er der Mittelstufe an, bekam er 8,50 Mark war es die Oberstufe. Die Königsklasse war die Sonderklasse mit 12,- Mark - da konnte man mit dem Geld geradezu um sich werfen - war nur wenigen vergönnt. Und die hatte außer handwerklichem Können oft auch das Image einer guten Band.
 

Woher das Geld zu Zeiten des BBSV für unsere Instrumente kam, ist mir nicht mehr in Erinnerung geblieben. Wir hatten ja ein paar Auftritte, deren Erlös wir aber in ein Mikrophon gesteckt hatten. Es war eine ganz schöne Krücke, wie wir es selbst damals bemerkten, aber eben besser als gar nichts. Es gab Schlimmeres, z.B. das Mikrophon für Tonbandaufnahmen. Das klang dann wie ein Telefonhörer.
 
 
Wir nahmen sogar mal an einem Ausscheid der Kirchenbands aus ganz DDRnien teil, bei dem die Auszeichnung "Goldene Note" verliehen wurde. Um es vorweg zu nehmen: Wir gewannen sie! Ich kann zwar nicht mehr sagen, worauf das zurückzuführen war, aber irgendwas wird schon den Ausschlag gegeben haben - es wird so gewesen sein wie mit dem Einäugigen unter den Blinden. Der Bigband-Leader Günther Hörig aus Dresden fand sich mit ein paar Orchestermitgliedern ein, die auch gleichzeitig an der Pop-Abteilung ihrer Hochschule tätig waren. Bei einem musikalischen Frühschoppen, an dem alle Musikanten teilnahmen, brachte man uns ein paar Tricks und Kniffe bei, und ich muss sagen, es war ein Weg zur Erkenntnis! Ich lernte ein paar neue erweiterte Bluesharmonien, die es bei den Beatles und Konsorten nicht gab. Zum Ausscheid spielten wir nur Instrumentals, da keiner eine wirklich gute Vorsingstimme hatte. Ich brillierte mit dem Klavier-vorspiel von Michel Polnareffs "Love Me, Please Love Me", das mit einem schnellen Arpeggio begann und was von mir fehlerfrei kam. Das dachte ich mir zumindest. Hinterher bemerkte G. Hörig, ich hätte zu viel Pedal genommen, es wäre ein arpeggiertes Schwimmfest gewesen und ich hätte damit alles verwischt. Recht hatte er! Dafür habe ich beim zweiten Titel ins Saxophon gehupt, als ich einen Chorus spielte, der nach Freejazz oder Was-weiß-ich klingen sollte, die Hauptsache progressiv!
 

An dem Ausscheid nahm auch ein junger Pianist teil, der schon beachtliche technische Fähigkeiten vorweisen konnte und etwas Jazziges spielte. Sechs Jahre später spielten wir gemeinsam bei einer Band, die LIFT hieß! Es war Wolfgang Scheffler. Trotz alledem - wir bekamen also die Goldene Note! Beflügelt durch diesen Erfolg werkelten wir noch, bis das Unternehmen BBSV 1969 sein Ende fand, weil drei von uns zur Fahne mussten. Das war ein Ausflug zu den Zeiten meiner ersten popmusikalischen Vereinigung, doch nun zurück zu meiner Zeit am der Spezialschule für Musik:


Internatsleben mit Höhen und Tiefen
Da ich zu den "Gründungsmitgliedern Tanzmusik" gehörte, galt ich als Vorbild für einige nachfolgende Schüler, die es mir - nach Jahren - gebeichtet haben. So zum Beispiel "Hans die Geige" Wintoch, der vier Jahre jünger war als ich und die 10. Klasse wegen schlechtem Benehmens nicht in Halle abschließen durfte. Er spielte bei vielen bekannten Rockbands, bis er ein Soloprojekt aufmachte. 1985 ging er mit mir noch einmal zu LIFT - alte Liebe rostet nicht! Ebenso Paul. Paul hieß eigentlich Lothar Schulze. Schulze! - diesen Namen legte er mit seiner ersten Ehe ab und nannte sich schnell Lothar Kramer. Bei Stern Meißen, der Band, die mit neu erfundenen Spitznamen nur so um sich warf, erhielt er den Namen Paul. Paul war in der sechsten Klasse, als ich die Zehnte besuchte. Er war ebenfalls Fagottist, hatte ebenfalls ein absolutes Gehör (noch besser als meins), wurde auch wegen seines Benehmens der Schule verwiesen, spielte in berühmten Bands wie Klosterbrüder und Stern-Combo Meißen Keyboards, wurde später ein begehrter Tonmeister und arbeitet als solcher beim MDR. Meine Klassenkameradin Eva Neumann wurde Flötistin der Gruppe KREIS und hieß, nachdem sie den Keyboarder und Chef Arnold geheiratet hatte, Fritzsch. Und der heiratete später die Moderatorin der Abendschau vom rbb... klatsch, klatsch, klatsch... Mit ihm durfte ich 1988, zur Zeit der Perestroika, eine Woche in Moskau verbringen, um die dortige Popszene zu beobachten. Aber das ist eine andere Geschichte.
 

Wenn hier jemand bei der Aufzählung der Personen an die Gründerjahre der DDR-Popmusik denkt - und ich meine nicht die Schlagermusik - liegt nicht falsch damit. Ein paar Wegbereiter kamen auch von der Spezialschule für Musik Halle. Es gab in der DDR noch drei weitere Spezialschulen und an jeder hat es popmusikalisch gebrodelt, wenn auch erst später und nicht wie in Halle. Um das Maß vollzumachen: Ein weiterer Fast-Promi aus Halle war Lise Rezniczek, Piano, die dann die Gruppe Mona Lise gründete und es vorzog, nur mit Frauen aufzutreten. Sie wurde später Musiklehrerin und war maßgeblich an der Umbenennung ihres Gymnasiums beteiligt, das dann den Namen "John Lennon" trug. An diesem Gymnasium unterrichteten auch meine zweite Frau Ulrike und meine letzte Freundin, womit sich der Kreis erst mal schließt.
 

Von meinen Mitschülern hatte ich mir auch manches abgeguckt und abgelauscht. Ich hatte sogar Vorbilder an der Schule. Da gab es einen Klavierschüler in meiner Klasse, der über eine ausgezeichnete Technik verfügte. Er spielte u.a. Chopin-Etüden, die nur Meister ihres Fachs beherrschten. Er beherrschte sie! Und ich kaufte mir heimlich die Noten und setzte mich ans Klavier und fing an - zu üben! Ich und üben, man glaubt's kaum! Es war mir unbegreiflich, wie einer so schnell diese Etüden spielen konnte. Irgendwann gab ich es auf, durch Schnelligkeit Frauenherzen erobern zu können. Nicht mal für Kleinkinder hätte meine Spielweise gereicht. Nie wieder Etüde Nummer 10! Das Gleiche wiederholte sich mit George Gershwin. Ich war damals Gershwin-Fan und vor allem die "Rhapsodie in Blue" hatte es mir - gefolgt von seinem Klavierkonzert - angetan. Auch hier besorgte ich mir die Noten und schloss mich in meinem Übungszimmer ein, zog die Vorhänge zusammen, drückte das leise Pedal am Klavier und begann, die Noten in Töne umzusetzen. Kinder, war das schwer, denn es ging nicht zu wie in der Klassik, wo mir jeder Akkord bereits bekannt war, nein, da gab es immer neue und einer verzwickter als der andere. Nach einiger Zeit stellte ich fest, dass die Klaviertasten komischerweise sehr weit auseinander zu liegen schienen, weshalb meine Handspanne für einige Akkorde nicht ausreichte. Aber dann kam die niederschmetternde Erkenntnis: Meine Hände waren weder für Chopin noch für Gershwin geeignet. Ein geschickter Chirurg hätte da vielleicht was ändern können, aber der müsste noch geboren werden. So viel Zeit hatte ich nicht.


Hochschule für Musik Leipzig - Lehrjahre
Wir waren ein gemischtes Studenten-Völkchen und es kam mein Studienjahr nur bei den Vorlesungen zusammen. Schon die Seminare waren anders besetzt. An der Hochschule gab es keine Arbeiterklasse, aber dafür die Klasse der Streicher, der Bläser, der Sänger und die Restklasse der Dirigenten und Komponisten. Und jede Klasse dachte von sich, sie wäre die auserwählte! Am schlimmsten waren die Sänger, die hatten alle schon 'nen Schuss weg (wenn ich mir diese etwas flapsige Ausdrucksweise mal erlauben darf). Die sangen ständig, wo sie auch waren "mi-mi-miii" oder andere Sangesübungen, hatten ständig Halsschmerzen oder zumindest Angst davor und trugen ständig ihre Nasen, die aus dicken, mehrfach gewundenen Schals hervorguckten, der Sonne entgegen, wie es sich für ein ausgewähltes Volk eben gehört. Sie fühlten sich als Inkarnation der Kunst im Allgemeinen und im Besonderen. Die Streicher waren so naja, denn die mussten am meisten üben, weil sie sich das dafür entsprechende Instrument ausgewählt hatte. Wir Bläser besaßen ein eigenes Gebäude, es war auch eine ehemalige hochherrschaftliche Villa mit zwei Etagen. Es hieß bei uns das Bläserhaus. Wir kamen alle gut miteinander aus, schon wegen des Klassenerhalts.
 

An meinem ersten Tag im Bläserhaus machte ich Bekanntschaft mit einem Hornisten aus dem 3. Studienjahr und der hatte - lange Haare! Richtig lang! Ich schämte mich zutiefst, meine Haare dem Friseur überlassen haben zu müssen und schwor meinem Direktor aus Halle, der mich zu diesem Schritt gezwungen hatte, tiefste Rache! Ich hatte den Hornisten dann nach ein paar Jahren in der Haarlänge überholt und die Welt sah wieder besser aus. Lange Haare waren nämlich nicht nur eine Haartracht, sondern auch eine Philosophie! Das war in der Geschichte nichts Neues, denn schon immer hatten auch Bärte eine gesellschaftliche Funktion, wenn der Mann nicht gerade zu faul war, sich zu rasieren. Die Punkbewegung Anfang der 80er mit all ihren haargestalterischen Möglichkeiten und Auswüchsen zeugte auch von der Einstellung zur Gesellschaft. So auch bei uns: Die Haare waren das Aufbegehren des unterdrückten Jungvolkes gegen die schnöde bürgerlich-spießige Welt. Außerdem muss ein richtiger junger Mensch gegen etwas sein, egal gegen was, denn sonst ist er zwar jung, aber nicht so richtig...


Klamotten als Zeichen des Andersseins
Um es kurz zu machen: Es war einfach schick, anders zu sein! So kaufte ich mir einen Poncho, der zu dieser Zeit bei Männern noch vollkommen unüblich war, denn ihre Blütezeit hatten sie - als Umhang deklariert - bis zum 19. Jahrhundert. Ich kannte ihn vor allem aus Mantel- und Degenfilmen. An der Hochschule gab es auch kaum Baskenmützenträger und wenn, trugen sie dazu keine Jeans oder Kutte. Vielleicht entschloss ich mich auch deshalb dazu, zu den Baskenmützenträgern zu gehören. Um bewusst oder unbewusst anders sein zu wollen, musste man aber erkannt haben, dass die Mehrheit eigentlich im Gleichschritt lief, und das war schon der erste Schritt zur Individualität. Vieles hat man diesbezüglich aus dem Bauch heraus gemacht, ohne zuvor dicke Sartre-, Heidegger- oder Marcuse-Bücher gewälzt zu haben - und außerdem gab's die ja ohnehin nicht in Gottes erster Sozialistischer Deutscher Republik, die standen auf dem Stasi-Index. Wir hätten lieber das Buch Walter Ulbrichts "Mein Leben mit und ohne Hobel" lesen sollen, in dem er beschrieb, wie ein Tischler es ohne Handwerkzeug zum SED-Chef bringen konnte. Wir hatten aber Glück - das Buch ist nie geschrieben worden. Meiner Auffassung waren vielleicht drei Studenten. Oder vier. Oder fünf? Es ist aber verständlich, wollten doch 99,99% von ihnen einen Beruf ergreifen, der das Individuum außen vorlässt, schließlich gab es ja Dirigenten und Chorleiter.
 

Als Orchestermusiker musst du dich dem Dirigenten unterordnen und das bedeutet Disziplin. Disziplin legst du auch als Chorsänger an den Tag, soll ein homogener Klang entstehen. Die Ausnahmen machen höchsten Dirigenten und Tonsetzer. Der Dirigent hat die Macht. Der Tonsetzer wiederum hat Macht, weil andere das spielen müssen, was er geschrieben hat. Erst in meinem 4. Studienjahr, das war 1970/71, kam eine neue Klasse hinzu: Die Klasse der "Tanzmusiker", heute würde man Popmusiker dazu sagen. Damit kam mir eine neue Erkenntnis: Popmusiker haben nicht alle lange Haare, sind nicht alle oppositionell und tragen auch nicht alle die entsprechend "andere" Kleidung, nein, sie sind genauso spießig, geschmacklos, ungebildet und arschkriechrisch wie alle anderen "Bürger" auch.
 

Aber ich wollte ja eigentlich was über meine Fächer sagen: Wir hatten ja keine Wahlmöglichkeiten. Das Einschreiben in ein Fach gab's nicht, denn neben dem Hauptfach mussten alle anderen Fächer ebenso belegt werden. Alle sollten bei Klavier, Musiktheorie, Kunstgeschichte, Pädagogik, Gehörbildung und Psychologie anwesend sein; dazu kamen noch die jeweils ein Jahr dauernden Fächer Marxismus-Leninismus, Gesellschaftswissenschaft, Politische Ökonomie und Philosophie. Wer ein Orchesterinstrument lernte, saß ab dem 2. Studienjahr im Orchester, falls sein Instrument gebraucht wurde. Ich hatte noch ein zweites Nebeninstrument: Schlagzeug! Das war eine Notlösung für Fagottisten, denn wer keine Stelle als solcher fand, hatte die Möglichkeit als Schlagzeuger und Fagottist in ein Orchester aufgenommen zu werden. So lernte ich alle Schlagwerke, die in der normalen Orchesterliteratur vorkommen: Kleine Trommel, Pauken und Xylophon - das waren die Instrumente, die man wirklich lernen musste. Da blieben noch Glockenspiel und auch die Triangel, die aber nur ein Semester, weil's dafür keine Literatur gab und keiner größeren Ausbildung bedurfte. Mir machte Schlagzeug eigentlich Spaß. Ich hatte auch einen Lehrer, der Solopauker des Gewandhausorchesters war und schon kurz vor der Rente stand. Der nahm alles ganz locker, wusste er doch, dass ich es mit diesem Fach nicht ganz so ernst ge-nommen hatte. Nach drei Jahren schloss ich das Fach ab. Es hat mir später viel geholfen, was die Arbeit mit Drummern betraf.


Zähmung eines Aufsässigen
Im 1. Studienjahr waren im Hochschulorchester bereits zwei Fagottisten besetzt und ich musste mich diesbezüglich hinten anstellen. Es wurde gerade Tschaikowskis 4. Sinfonie geprobt, bei der ein zweiter Schlagzeuger die große Trommel übernehmen musste. Dafür wurde ich auserwählt. Ich war damals gerade mal siebzehn geworden, aber es war für mich ein Klacks, ab und zu mal einen Schlag auf die große Trommel zu geben. Ich glaube, es waren in der ganzen Sinfonie nur vier Schläge, und die waren alle im letzten Satz. Da es mir langweilig wurde, begann ich den Schlägel lässig in Kreisbewegungen zu versetzen, indem ich ihn mit einer Aufhängeschlaufe, die am Ende des Griffs hing, um meinen erhobenen Zeigefinger rotieren ließ. Das hatte zur Folge, dass sich einige Streicher zu mir umdrehten, denen dann auch einige Bläser folgten. Ich bekam das mit und steigerte meine Showeinlage, bis - der 4. Satz abrupt abgebrochen wurde. "Sie da, wie heißen Sie? Heubach? Kommen Sie mal mit raus!" - O je, erwischt! Und das von unserem Dirigenten, dem Generalmusikdirektor Rolf Reuter, seines Zeichens ein Promi seines Faches. Wir gingen also gemeinsam vor die Tür des Vortragssaales. Er sprach mit mir in einem ganz ruhigen Ton, erklärte mir die Philosophie des Musikerdaseins und machte mir begreiflich, wo die Trennung zwischen Spaß und Ernst zu sein hat. Dann gingen wir nach zehn Minuten wieder zurück in den Vortragssaal und die Probe ging weiter. Und ab da saß jeder Schlag! Und ohne fliegenden Schlägel!
 

Seit dieser Aussprache wurde ich zum Jünger von GM Reuter! Es waren in meinem Leben nur ganz wenige Personen, die mich aufgrund ihrer Persönlichkeit so überzeugt haben. Wir kamen immer gut miteinander aus und ich glaube, er schätzte mich. Er hatte auch so eine gewisse ironische Art, die manchmal bis zum Zynismus reichte, und darin lag eine winzige Gemeinsamkeit. In meiner Erinnerung ist ein Spruch geblieben, den ich auch ganz gern zitiere und der eine philosophische Wahrheit enthält: "Man kann nie früh genug zu spät kommen!" Das brachte er immer dann an, wenn das Orchester nicht richtig zusammenspielte. Zehn Jahre später traf ich ihn in einem Hotel, er erkannte mich sofort und begrüßte mich freundlich. Nach zehn Jahren!
 

Er hatte ja noch andere Dinger drauf. Das Orchester war für ihn seine Familie, die er vor Angriffen seitens des Rektorats schützen wollte. Wir gaben mit dem Hochschulorchester im Jahr zwei öffentliche Konzerte, irgendwo in der Prärie, in einem Großbetriebe oder kleinem Theater. Wir reisten mit einem Bus zum Spielort und anschließend wieder zurück. Es gab für uns arme Studenten keine Spesen und nicht mal zu einer Bockwurst reichte es seitens des Rektorats. Lediglich eine Limo wurde uns spendiert, obwohl durch den Kartenverkauf Geld eingenommen wurde. Um zu zeigen, dass es auch anders ging, lud GM Reuter das gesamte Orchester in den Garten seines Hauses ein. Von seiner Gage, die er uns spendierte - es müssen 1000,- Mark gewesen sein -, besorgte er uns Getränke, ein Ferkel wurde gegrillt, und es spielte eine Band, obwohl Tanzmusik quasi verboten war. Und das alles bei ihm! Damit hatte er natürlich das Orchester voll hinter sich, und er ist in die Annalen der Erinnerungen seiner Studenten eingegangen.


Geduldet, aber unerwünscht: Die Hochschulband
Schon im 1. Studienjahr machte ich den Versuch, irgendeine Band auf die Beine zu stellen. Es fehlten die entsprechenden Musiker, denn keiner wollte stilistisch fremdgehen. Erst in den darauf folgenden Jahren kamen Schüler aus Halle nach, mit denen ich probieren konnte. Wir stellten ein Schlagzeug aus allerlei abenteuerlichen Instrumenten zusammen, dessen Sound eher an eine Feuerwehrkapelle erinnerte als an eine Popband. Ebenso mussten wir einen Kontrabassisten übernehmen, der uns auch in Halle als solcher gedient hatte. Der war unfähig, eine eigene Basslinie zu spielen, alles brauchte er auf Noten. Besonders bei Improvisationen (oder Chorusse, wie wir sagten) spielte er immer das gleiche Schema - es war sehr uninspirierend, um das mal vorsichtig auszudrücken. Ich versuchte mich in den verschiedensten Stilrichtungen bis hin zum Jazz oder was ich darunter verstand. Mir fehlte jegliche Kenntnis von den verzwickten Jazzharmonien, von Skalen und von Polyrhythmik. Woher sollte ich das auch wissen? Aber der Wille war der Weg. Irgendwie kam immer was raus, was einigermaßen interessant klang. Bei der Gartenparty unseres GM Reuter ließen wir neben gängigen Instrumentaltiteln auch so eine Pseudo-Jazznummer gucken und der GM lehnte sich an den Flügel, den er extra aus seinem Haus in den Garten stellen ließ, und ergab sich der Musik. Uns machte es Spaß!
 

Die Hochschule hielt aber im Laufe der Zeit dem Druck der Basis, die wir selbst waren, nicht mehr stand und es begann das Legalisieren der Tanzmusik. An der Hochschule in Dresden gab es schon seit Jahren eine Abteilung Tanzmusik und auch Weimar zog mit. Da mussten die konservativen Gemüter Leipzigs dann doch klein beigeben. Wen aber sollte man die Leitung übertragen? Es gab keine Dozenten für ein solches Fach. Es gab aber einen prominenten Bandleader, der das damals noch existierende Fernsehorchester unter seinen Fittichen hatte: Fips Fleischer! Fips war ein guter Musiker, der auch einst ein ebenso guter Swing-Drummer gewesen war. Er kam gewöhnlich an wie ein Dandy, rauchte teure Zigaretten und tat immer so, als hätte er gerade mit Frank Sinatra im Flieger gesessen und ihm die nötige Inspiration für einen neuen Song gegeben. Er konnte auch immer tolle Sprüche machen und wer die nicht durchschaute, hing an seinen Lippen wie an denen eines Gurus. Mein Freund Mücke stieg nach dem Trompetenstudium in seine Band ein, bis er einen Ausreiseantrag stellte und nach Westdeutschland "entlassen" wurde - das war der erste Emigrant aus meinem Bekanntenkreis, und es folgten noch etliche.


Avantgardistische Versuche als Sturm im Wasserglas
Fips Fleischer als Leiter der Abteilung Tanz- und Unterhaltungsmusik versuchte durch uns, sein Renommee etwas aufzufrischen. So machten wir gemeinsame Gastspiele um zu zeigen, wie progressiv die Abteilung sein wollte. Das war natürlich ein Wunschdenken seinerseits, denn es mangelte an modernen Lehrkräften. Das Progressivste für sie war immer noch der Swing und der roch verdammt nach den 50er Jahren. Als ich 1973 mein Abendstudium beendete, hatte ich das Glück, für das Hochschulorchester und die Bürkholz-Formation ein größeres Stück schreiben zu dürfen, das in einem Großbetrieb aufgeführt wurde. Natürlich wollte ich die musikalische Weltrevolution ausrufen, es kam aber nur eine Bezirksrevolution zustande. An stilistischen Mitteln packte ich eine Menge in die Komposition hinein; ich hatte sogar einen Part mit serieller Musik dabei, wo Hansi frei singen durfte, und zwar viele "falsche" Töne, damit es modern klang. Ja nichts Herkömmliches! Zur Besänftigung gab es auch einen Teil "für's Volk", und der lag uns eigentlich eher. Nun musste ich nur noch einen Titel finden. Nach längerem Überlegen hatte ich es:


Wer möchte, kann hier getrost meine Meinung zum Staat DDR herauslesen, mein Gefühl der Enge, das ich mit diesem Stück zum Ausdruck bringen wollte - so etwas macht sich immer gut bei Interviews zum Jahrestag von Mauerbau und Maueröffnung. Natürlich war das mit der Enge nicht so wörtlich zu nehmen, höchstens im tiefsten Keller meines Unterbewusstseins fühlte ich mich eingezwängt. Das mit der fehlenden Reisefreiheit war mir nicht ganz so wichtig, ich hatte eher andere Probleme, die im Inneren des Landes zu finden waren. Ansonsten war so ein Gerede die blanke Opposition und das Provozieren von Staats- und Verwaltungsbeamten, zu denen für mich alles an der Hochschule zählte, was keine aktive Musik machte. Da sich keiner so einen Titel getraut hat, kann ich wenigsten noch heute von mir sagen: Ich war der Erste! Das ändert nichts daran, dass das DDR-System von mir schon damals das Prädikat "nicht machbar" erhielt!
 

In jenem Jahr offerierte auch Arndt Bause, den ich vorhin schon erwähnt habe, sein "Werk". Es war der absolute Gegensatz zu "Platzangst". Sein Stück war eine Zusammenballung von Schlager, Operette und Musical, es klang schön DDRig, und das besagte, es war weder Friede, noch Freude, noch Eierkuchen. Aber abgerechnet wurde am Schluss: Er wurde Millionär und ich Hunderter (dieses Wortspiel soll mir mal erlaubt sein). Später durften ein paar Musiker der Bürkholz-Formation unter Fips' Leitung den Berufsausweis machen, ohne den in Profi-Bands kein Weiterkommen war (aber davon später mehr). Clever wie er war, nutzte Fips das Image von der Bürkholz-Formation aus und gab sie als Hausband der Hochschule aus. Hier eine Titelaufstellung:


Wir machten unter diesem Namen ein paar Muggen, und bei der Gelegenheit hielt er vor dem andächtigen Publikum... ("Ist das nicht der Fips Fleischer? Und der sieht noch gut aus, so wie im Fernsehn!") ...ein paar einführende Worte und kassierte anschließend außer einer Gage den ganzen Ruhm beim Rektorat. So war er halt, der Fips, alles in allem aber ein guter Kumpel. Außerdem wurde mir wieder mal der alte Spruch in den vorderen Stirnlappen geführt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre oder: Wer unter Fips Fleischer Musik macht, braucht auf Ruhm nicht zu hoffen!
 
 
 

   
   
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