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Teil 2
Der zweite Teil von Michael Heubachs Autobiographie. Vom Beobachten des Schlaggitarrespielens zurück an die Blockflöte - von der Kirchenorgel zum Fagott. Von der Kinderklasse zur Spezial für Musik. Über "Feindsender" und Pförtner, Kinderferienlager und erste "Muggen"...
Der zweite Teil von Michael Heubachs Autobiographie. Vom Beobachten des Schlaggitarrespielens zurück an die Blockflöte - von der Kirchenorgel zum Fagott. Von der Kinderklasse zur Spezial für Musik. Über "Feindsender" und Pförtner, Kinderferienlager und erste "Muggen"...
Schlaggitarre, englische Texte, Orgelspiel und andere Einflüsse
Mit elf war ich in einem Kinderferienlager und das sah so aus: Dort hatten wir einen Helfer, der auch Gitarre spielte, die sogenannte Schlaggitarre. Dem sah ich oft beim Spielen auf die Finger. Irgendwie hat er gemerkt, dass ich Interesse zeigte und schrieb mir ein paar Texte der Songs auf, die er spielte. Natürlich waren die alle in Englisch, aber das machte nichts, denn er schrieb sie phonetisch auf: "Bebi juh kenn du itt"! Zuhause suchte ich mir dann die Griffe zusammen und lernte so das Gitarrenspielen in der Basisversion. So konnte ich mich bei allen gängigen Schlagern und Volksliedern auf der Gitarre begleiten, denn mit dem Erkennen der Harmonien hatte ich keine Schwierigkeiten. Ach, wenn ich da schon ein paar Jahre älter gewesen wäre - die Mädchen hätten mir zu Füßen gelegen und mir heimlich ihre Poesiealben gezeigt, in die ich einen Vers setzen durfte. Ich hatte nicht das Glück und dachte mir: Einmal verliert man und einmal gewinnen die anderen. Die anderen waren die mit der besser angemalten Klampfe. Trotzdem war die erste Bekanntschaft mit einer Gitarre für mich in meinem Kinderklassendasein prägend!
Mit elf war ich in einem Kinderferienlager und das sah so aus: Dort hatten wir einen Helfer, der auch Gitarre spielte, die sogenannte Schlaggitarre. Dem sah ich oft beim Spielen auf die Finger. Irgendwie hat er gemerkt, dass ich Interesse zeigte und schrieb mir ein paar Texte der Songs auf, die er spielte. Natürlich waren die alle in Englisch, aber das machte nichts, denn er schrieb sie phonetisch auf: "Bebi juh kenn du itt"! Zuhause suchte ich mir dann die Griffe zusammen und lernte so das Gitarrenspielen in der Basisversion. So konnte ich mich bei allen gängigen Schlagern und Volksliedern auf der Gitarre begleiten, denn mit dem Erkennen der Harmonien hatte ich keine Schwierigkeiten. Ach, wenn ich da schon ein paar Jahre älter gewesen wäre - die Mädchen hätten mir zu Füßen gelegen und mir heimlich ihre Poesiealben gezeigt, in die ich einen Vers setzen durfte. Ich hatte nicht das Glück und dachte mir: Einmal verliert man und einmal gewinnen die anderen. Die anderen waren die mit der besser angemalten Klampfe. Trotzdem war die erste Bekanntschaft mit einer Gitarre für mich in meinem Kinderklassendasein prägend!
Nach einem Jahr durfte ich die Kinderklasse wieder verlassen und das kam so: Weil mir die Art des strengeren Unterrichtes missfiel, verspürte ich auch wenig Lust, mein tägliches Übungspensium zu absolvieren. Ich hing eigentlich immer noch an Fräulein Karl wie an einer Jugendliebe, obwohl ich sie durch mein Schwänzen auf's Schändlichste hintergangen hatte. Ich meckerte deshalb oft an dem, was ich aufhatte.
"Bei Fräulein Karl konnte ich schon Beethoven-Sonatinen spielen und hier muss ich den ollen Hanon machen mit seinen blöden Fingerübungen. Und ich will endlich Saxophon lernen, das habt ihr mir versprochen!" - Hanon war eine Klavierschule zum Fingergeläufigkeitstraining. "Nein, wir haben gesagt, wenn du gut auf der Blockflöte wirst, könnten wir später mal in Augenschein nehmen, dass..." - "Ihr seid gemein... erst versprechen und dann nicht halten!"
Bums - und zu war die Tür. Mein Protest hatte gewirkt und ich war endlich wieder frei vom Kinderklassenstress. Ein Jahr genoss ich diese Freiheit, bis meine Mutter auf den Dreh kam, ich müsse doch wieder mal ein Instrument lernen, und da böte sich doch - Kirchenorgel (!) an. Na gut, nun also Kirchenorgel. Ich war ja als Katholik mit der Orgel sozusagen groß geworden, hatte sie mich doch dazu bewogen, auf gute und weniger gute Choralvorspiele zu achten und mitzubekommen, dass die Gemeinde immer der Orgel hinterher schleppte und der arme Organist immer etwas "vor dem Beat" sein musste, damit die Herr- und Damenschaften nicht einschliefen. Da konnte man sehen, welche Macht ein einzelner Musiker über das Volk haben kann! Durch das viele Kirchenliederhören lernte ich das Harmonisieren, das Gestalten von Vorspielen und auch mit der Gregorianik kam ich in Berührung! Die Gregorianik hatte eine gewisse Melancholie in sich, die meinem damaligen Gemütszustand sehr entgegen kam. Meine Mutter hörte ja ausschließlich Klassik, und so kannte ich eine ganze Menge Musik dieser Art. Ich glaube, einmal täglich wurde "Les Préludes" von Herrn Liszt aufgelegt, in Mono, kratzend, scheppernd, trotzdem eine tolle Musik! Aber vor allem Beethoven hatte es mir angetan, die Gegensätze in seiner Musik! Ich habe später versucht, so etwas in einem 3:30-Song unterzubringen, teilweise mit fraglichen kommerziellen Erfolg. Aber die Einflüsse waren immer erkennbar.
Songs wie die "Tagesreise" wären ohne kirchlichen Hintergrund plus Beethoven undenkbar gewesen! Die Orgel von meiner Stammkirche St. Laurentius in Leipzig-Reudnitz wurde sozusagen mein neues Arbeitsinstrument. Ich hatte einen Orgellehrer, der mir mit beamtenmäßiger Humorlosigkeit beibrachte, wie man zu den zwei Händen noch die richtigen Pedale mit den Füßen zu treten hatte. Am besten gefiel es mir, wenn ich alle Register ziehen konnte, was "tutti" hieß, um meinen musikalischen Eingebungen vollen Lauf zu lassen. Leider war der Song "A Whiter Shade of Pale" noch nicht geschrieben, sonst wäre die Kirche ins Wanken geraten. Aber das Intro von Bachs d-Moll-Toccata tat's auch. An dieser Stelle möchte ich bemerken, dass mich das alles nicht dümmer gemacht hat - im Gegenteil, denn später konnte ich oft auf die mir einst einigermaßen verhassten Kenntnisse zurückgreifen. Mit dieser Art von Orgel konnte ich mich auf die Dauer nicht so richtig anfreunden, es war mir alles zu streng und vor allem zu wenig transportabel! Aber die E-Orgel wartete schon in ihren Startlöschern, hieß Hammond, war unerreichbar und nur durch Lite-Versionen denkbar.
Der Weg ins Internat
Nach einem Jahr der Einführung in die "Kunst des Orgelspielens" las meine Mutter in der Zeitung eine Annonce, wo man um begabte Schüler für eine Spezialschule für Musik warb. Ich befand mich damals gerade in der beginnenden Pubertät mit allen ihren negativen Auswirkungen auf Lehrer, Mutter und die gesamte Gesellschaft - mit anderen Worten, wenn alles so weitergelaufen wäre, hätte ich es vielleicht zum Al Capone des Ostens gebracht... Ich gebe zu, an dieser Stelle staple ich mächtig hoch; man sollte es eher als eine Klangstudie betrachten. Mein Klassenleiter an der 25. Polytechnischen Oberschule in Leipzig prophezeite meiner Mutter, nachdem sie wieder mal in die Schule bestellt worden war, ich hätte das Zeug zu einem großen Kriminellen oder großen Was-Weiß-Ich. Ich müsse mich entscheiden! Ich entschied mich für Was-Weiß-Ich. So nutzte ich also meine vielleicht letzte Chance, mein Leben in guten Bahnen verlaufen zu lassen: Die Spezialschule für Musik Halle, an der Saale hellem Strande.
Bei der Aufnahmeprüfung spielte ich fein meine Klavierstücke vor, glänzte in Theorie und bei Gehörübungen, musste kein Gedicht aufsagen und sah mich schon als künftigen Klavierschüler Chopin-Etüden spielend an der für mich damals hochdotierten Schule, als sich ein Professor für das Fach Trompete an mich wandte und sagte: "Mach doch bitte mal deinen Mund auf! Nicht aufreißen, ich will ja nur die Zähne sehen." Dann fasste er mein Kinn an und drückte Daumen und Zeigefinger zusammen, bis er Einblick in die Beschaffenheit meines Mundraums hatte. Ich kam mir vor wie auf einem Pferdemarkt. Nachdem er mir einige "Hm…" und "Jaaa…" zugeraunt hatte, ließ er wieder ab von mir und sagte: "Du wirst Fagottist!" Damit begann Phase zwei meines Lebens, 1963, mit der 8. Klasse.
Das unbekannte Ding und der Mäkler in mir
Als ich meinen ersten Fagottunterricht hatte, packte mein Hauptfachlehrer, Herr Angerhöfer, sein mitgebrachtes Fagott aus, ich sah es ungläubig an und sagte ehrlich erstaunt: "Ach, das ist ein Fagott?" Im Nachhinein muss ich sagen, ich hatte es nie geliebt und es mich wahrscheinlich auch nicht. Nach acht Jahren habe ich das Ding nicht mehr angerührt - doch, ein letztes Mal beim Verkauf! Aber heute, wo ich genügend Abstand habe, höre ich mir gern Fagottkonzerte im Radio an und freue mich, dass ich nicht mehr üben muss!
Nichtüben macht den halben Meister
Bei uns an der Spezialschule war alles gut organisiert. Wir hatten in zwei "Nebenvillen" in der Reichardtstraße um die Ecke Unterrichts- und Übungsräume. An jeder Tür war ein Plan angebracht, auf dem zu ersehen war, wer gerade in diesem Raum seine Übungen zu verrichten hatte. Unsere Schulunterrichtsstunden waren reduziert, damit wir noch genügend Zeit zum Üben finden konnten. Dabei kamen am Tag zwischen zwei und drei Übungsstunden zusammen. Manche übten mehr, freiwillig natürlich. Ich gehörte nicht dazu. Freiwillig. Ich verbrachte meine vorgeschriebenen Übungsstunden oft mit Lesen oder freier Improvisation am Klavier. Mein Hauptfach Fagott stand ja eigentlich an erster Stelle, ich übte aber gerade mal so viel, um bei meiner nächsten Hauptfachstunde fehlerfrei durchzukommen, was ich nie schaffte. Für den Klavierunterricht fiel mir ein Trick ein: Es gelang mir, meinen Klavierlehrer bei Tonleitern und anderen Fingerübungen aufzuhalten, sodass er von den meistens drei aufgegebenen Stücken nur noch zwei vorgespielt bekam. Er sagte dann zum Schluss immer: "...und den Beethoven weiter üben, nöööch!" ("Nöööch" war sein Spitzname). Bis er eines Tages bekundete: "...und den Beethoven können wir ja nun abschließen!" - Ich hatte den Beethoven nie geübt! Ich gebe zu, das war nicht die Regel, aber als Ausnahme macht sich doch so etwas schon ganz gut, oder? Ich konnte mit meinem Fagott keine Ehe eingehen. Mir machte Musiktheorie sehr viel Spaß, lernt ich doch, wie man vertrackte Rhythmen klatscht und aufschreibt oder erweiterte Kadenzen setzt. Ich versuchte dann immer, bekannte Songs aufzuschreiben, stolperte aber manchmal über Probleme bei der Notation.
Die Revolution lockt ihre Kinder
Währenddessen geschah einiges, was meine politische Haltung dem Staat gegenüber stark beeinflusste. 1965 setzte der damalig Parteichef Walter Ulbricht, der Herr Niemand-hat-die-Absicht-eine-Mauer-zu-errichten, ein Beatverbot durch, das alle Gruppen einschloss, die eine solche Stilrichtung verfolgten. In Leipzig betraf das u.a. auch die Butlers, aus denen dann nach erzwungener Umbenennung die Klaus-Renft-Combo wurde. Es wurden heimlich Flugblätter gedruckt und verteilt, auf denen zu einer Protestdemonstration aufgerufen wurde. Ich war zufällig in Leipzig und begab mich neugierig zum Leuschnerplatz, wo alles beginnen sollte. Da stand eine Menge Jugendlicher einem riesigen Aufgebot an Polizisten gegenüber. Es waren Hundertschaften, die von Mannschaftswagen sprangen, mit Hunden und Schlagstock bewaffnet die Straßen absperrten und die Demonstration aufzulösen versuchten. Ich glaubte, ich wäre im falschen Film! Sie trieben die Demonstranten vor sich her, die Schutz in der Innenstadt suchen wollten. Ich presste mich in einen Hauseingang, um den Wasserwerfern zu entgehen. Neben mir stand ein Mensch mit aufgerissenem Mund, der das nicht fassen konnte. Er stelle mir ein paar Fragen und ich hörte seinen österreichischen Akzent heraus. An diesem Tag fand im Stadion die Fußballbegegnung DDR - Österreich statt, und er wollte eigentlich dorthin. Sein DDR-Bild wird sich unauslöschbar in seine Erinnerungen eigefräst haben. Viele Demonstranten wurden brutal an den Haaren zu bereitstehenden LKWs geschleift und dann abtransportiert - "ab in die Braunkohle" - das hieß "Bewährung in der Produktion". Es gab etliche "Zuführungen", wie es im DDR-Polizeijargon hieß. Das Beatverbot lockerte sich erst Ende der 60er Jahre und endete mit dem Tod Ulbrichts 1973.
Die Band mit einem geplatzten Auftritt
Im 10. Schuljahr gründete ich eine Band am "KON", wie wir für die Spezialschule immer sagten, weil es früher und in meinem ersten Jahr auch noch ein Konservatorium war. Wenn ich sage "Band", habe ich damit sehr weit hoch gegriffen, und es war eigentlich auch kein Gründen, sondern ein "Haste-mal-Zeit" und "Könntest-du-das-mal-spielen". Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen: Da wurde ein (klassischer) Schlagzeugschüler aus der Achten genommen. Er brachte aus dem Instrumentenfundus des KON eine große Trommel mit, die bei 1.-Mai-Umzügen ihre Berechtigung gefunden hätte. Außerdem besorgte er auch noch ein paar Becken, die in einem Blechkombinat hergestellt schienen, und eine Marschtrommel, die Konzerttrommel hieß und am ehesten dafür geeignet war. Dieser Schlagzeuger war begabt, man konnte ihm alles vorlegen oder sagen, aber er war halt ein Klassiker mit Beatambitionen. Ein Kontrabassist aus der Neunten kam hinzu, der alles so spielte, wie es auf dem Notenpapier stand und mehr nicht; ein jazzinteressierter Posaunist und nicht zuletzt noch mein bester Freund "Mücke" als Trompeter. Die Leute, die es gewagt hatten, an der Spezialschule "Tanzmusik" zu machen - und das natürlich illegal, weil verboten -, haben später alle irgendwie Karriere gemacht. Unser Repertoire war nicht allzu toll. Wir spielten aktuelle Hits nach, die ich arrangierte. Herb Alpert war damals ein angesagter Trompeter, der einen ganz eigenen Stil verfolgte, und den galt es zu imitieren. Die Titel kannte ich aus dem Radio. Es gehörte zu meiner Freizeitbeschäftigung, Hitparaden, die man heute Charts nennt, abzuhören. Dazu gab's im Internat nur eine Möglichkeit: Man musste an das Radio im Klubraum rankommen und der war abgeschlossen. Die Schüler sollten üben und nicht unbeaufsichtigt Radio hören! Am Wochenende nachmittags oder abends nach dem Abendbrot wurde zum Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel für brave Schüler der Klubraum geöffnet. Wir durften auch Fernsehen oder, wer wollte, eben Radio hören. Der Fernseher war unter einer furnierten Holzkiste verborgen und mit einem Vorhängeschloss versehen, damit ja keiner ohne Genehmigung sich an diesem Gerät vergreifen konnte. Es gab natürlich nur einen Fernsehkanal und der hieß Deutscher Fernsehfunk.
Das illegale Hören feindlicher Charts
Keiner von meinen Mitschülern hatte Interesse, Radio zu hören, egal ob Musik oder Nachrichten oder sonst was. Irgendwann riskierte ich, einen meiner Erzieher um den Klubraumschlüssel außer der Reihe zu bitten, um Radio zu hören - und es klappte! Ich ging also samstags oder sonntags am Nachmittag in den Klubraum und stellte mir den verbotenen Sender ein, der die aktuelle Hitparade brachte: Radio Luxemburg! Ich kannte den Sender von meiner Schwester Gisela. Die kam mal aus einem Ferienlager nach Hause - ich muss zehn Jahre alt gewesen sein - und suchte im Radio den Sender, den sie dort "gelernt" hatte: Radio Luxemburg auf der Kurzwelle 2 im 49-Meterband! Den Sender erkannte oder besser "erhörte" man an seinem Fiepen. Der Empfang schwankte periodisch, was dazu führte, dass der Sender einmal weg war und man kurzzeitig nur das alleinige Fiepen hörte, bis er wieder kam. In den Sechzigern wurden Kofferradios aktuell. Am Anfang besaßen nur die "Reichen" eins oder die, die Westverwandtschaft mit Geberfreuden hatten. In meinem unmittelbaren Bekanntenkreis gab's keinen und erst Jahrzehnte später lernte ich einige Berliner kennen, für die das Kofferradio zum Alltag gehört hatte. Die Glücklichen! Aber damals dachte ich, wir armen Ost-Hörer, können wir doch nur auf "Luxi" zurückgreifen, um gute Popmusik zu hören. Damit irrte ich mich aber gewaltig! Selbst die Quarrymen, aus denen später die Beatles wurden, hatten Ende der fünfziger Jahre darunter zu leiden, in England keine Radiostation vorzufinden, die Musik sendete, die den aktuellen Strömungen in den USA entsprach. Also mussten sie auf den nicht-britischen Sender zurückgreifen, der aus den Niederlanden sendete. Dort hörten sie das erste Mal Rock'n' Roll, der sie später zu dem machte, was sie sind. Bis so ein Musikstil bei uns in der DDR anlangte, verging schon eine lange Zeit. Blicke ich auf diese Situation zurück, tröstet es mich ein wenig zu wissen, dass selbst die Giganten der Popmusik am Radio hingen, um der stockkonservativen Radiolandschaft Englands eine Alternative entgegenzusetzen. Wir bauten so ein Radio-Luxemburg-Empfänger nach einem Schaltplan und bugsierten ihn in eine Zigarrenkiste. Wenn der Sender zu fiepen begann, wurde das Radio einfach um 45° gedreht und der Sender so wieder eingefangen. Seit dieser Zeit wusste ich erst, dass es außer Helga Brauer und Bärbel Wachholz, die DDR-Schlager-Schnulzen-Königinnen, noch andere Musik im Radio gab. Woher auch! Meine Mutter hatte ihren Standardsender und der hieß Deutschlandfunk. Da kam keine modische Beatmusik, sondern höchstens Klassik. Ich nahm also am Klubraumradio ein mitgebrachtes Heftchen raus und notierte mir die Platzierung der einzelnen Hitparaden-Songs. Später kam es zu einer "Auswertung" im Internatszimmer. Ich kannte alle gängigen Songs auswendig und wusste, wer gerade sang und war sozusagen eine wandelte Hitparade. Das an einer sozialistischen Spezialschule, die den Nachwuchs an Instrumentalisten für das klassische Fach ausbildete! Natürlich hörte ich dort auch die Nachrichten der unerwünschten Sender, auch vom Deutschlandfunk, um politisch auf dem Laufenden zu bleiben.
Es gab zu dieser Zeit zwei DDR-Sender, die ihre Hörer in Westdeutschland finden sollten, beim Klassenfeind also. Der eine nannte sich "Soldatensender" und der andere "Deutscher Freiheitssender 904", weil er auf der Mittelwellenfrequenz 904 sendete. Der brachte außer für den Westen zugeschnittene Propaganda auch Beat - ich verwende hier den Begriff "Beatmusik" ganz bewusst nicht, weil er von den Bonzen okkupiert war. Gegen diesen Sender durfte man aber offiziell nichts sagen, weil er ja "von uns" war. Deshalb konnte man mir nicht verbieten, morgens um 7:00 Uhr in den Klubraum zu gehen und diesen Sender einzustellen, der dann über eine Verbindungsleitung zum Lautsprecher in unserem Frühstücksspeisesaal übertragen wurde - für alle. Das war ein Husarenstück, legal natürlich! Ich hatte regelrecht "Radiodienst", denn ich scheine der Einzige gewesen zu sein, der sich mit so einem Gerät auskannte. Das ist keine Überheblichkeit, sondern eine reale Feststellung!
In unserem Internat gab es einen Schallplattenspieler, eine Kompaktvariante, wo der Lautsprecher in den Deckel integriert war. Der Sound war dementsprechend, aber da wir damals keinerlei Vergleichsmöglichkeiten im Sinne von A/B hatten, nahmen wir es halt so hin. Der Plattenspieler wurde auch nur für schulische Zwecke eingesetzt und - für die Pförtnerloge! Wir hatten einen Pförtner für unser Hauptgebäude Advokatenweg 36, der aufpassen sollte, dass nur die Schüler den Komplex verließen, die das auch durften; das ging bis zum Vorzeigen eines Ausgangsscheins! Ich schätze, unser Pförtner hatte gerade die Siebzig überschritten, seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er zwei Weltkriege aktiv miterlebt.
Langspielplatten in der Pförtnerloge und ausgefallene Mugge
Am Wochenende hatte er dienstfrei und für diesen Job wurde immer ein Schüler eingeteilt. Nun sitze mal ein paar Stunden in einer vergitterten Pförtnerloge gleich an den Stufen, die zum Haupteingang hinaufführen! Irgendjemanden vom Erziehungspersonal oder der Lehrerschaft hatte ich bequatscht, mir den Plattenspieler auszuleihen. Von da ab hörte ich immer wieder die gleichen Platten, die mein Eigentum waren oder die ich mir von zuhause entliehen hatte: Die Ausgabe des CSSR-Labels Supraphon von Bob Dylan, der in der DDR nicht verlegt war, weil er nicht ins politische Konzept passte; weiterhin der amerikanische Protestmensch und Begründer des Folk- und Protestsongs Pete Seeger, "Ella und Louis singen aus Porgy and Bess", die Amiga-Ausgabe von "The Beatles" und das Jazzalbum von Count Basie und Lester Young. Ich kannte jeden Ton! Zu meiner kleinen Sammlung zählte auch Gershwins "Rhapsodie in Blue" und sein Klavierkonzert in F. Nach Jahren habe ich manche Stücke wieder gehört, in Stereo; erstaunlich, was da noch alles zu hören war. Wahrscheinlich bin ich durch diese Scheiben auch auf den Jazz gekommen. Das einzige, was ich aus dieser Richtung bereits kannte, war Dixieland, und das war eigentlich Spaß im Gegensatz zu den Stilrichtungen, die es bereits gab. Aber ich interessierte mich für alles, was ich haben konnte, auch Bigbands wie Basie oder Bebop und Cooljazz mit Miles Davis. Wir hätten sogar fast mal eine Mugge gehabt - mit "Mugge" ist hier ein musikalisches Gelegenheitsgeschäft gemeint (dieser Begriff wird noch oft auftauchen). Es sollte 20,- Mark Gage geben. Für alle! Wir zogen heimlich am frühen Abend mit unseren Instrumenten - also Kontrabass und Schlagzeug inbegriffen! - in Richtung Straßenbahn, als wir von einem unserer Erzieher entdeckt und "zurück ins Heim" beordert wurden. Da kam ja einiges zusammen: Entfernung von der Truppe mit dem Ziel, verbotene Musik zu spielen und das auch noch für Geld, Verwendung sozialistischen Eigentums für fragliche musikalische Darbietungen, Verlassen des Objekts ohne Ausgangsschein mit dem Zwecke, Unheil zu stiften welcher Art auch immer! Wir waren froh, dass die Todesstrafe nur noch in sehr seltenen Fällen vollzogen wurde. Dabei hatten wir extra für diesen Zweck noch einen Trompeter aus der Neunten angeheuert (der ist jetzt Solotrompeter beim Berliner Sinfonieorchester). Der sah zwar stilistisch nicht durch, traf aber jeden Ton. Unser damaliger Schlagzeuger ging nach seinem Studium als Chefschlagzeuger ans Gewandhaus, der Trompeter nach Australien und der Posaunist Bernhard Wachsmann war mein späterer Kampfgefährte bei der Host-Krüger-Band. Sein Vater hatte das Polizeiblasorchester Halle unter sich, war also ein ziemlich hohes Tier. Von ihm bekam ich mit 16 Jahren den Auftrag, eine Swing-Nummer von Band runter zu hören und die Partitur gegen Bezahlung bei ihm abzugeben. Ich saß stundenlang an meinem Tonbandgerät und versuchte, vertrackte schnelle Bläsersätze vom Band auf Papier zu bringen. Da kam auf jeden Ton eine neue Harmonie und auch das Schalten des Tonbandgeräts auf halbe Geschwindigkeit half nur manchmal. Mir ist es noch heute nicht klar, wie ich das geschafft habe. Am Schlimmsten war das Raushören des Basses, den konnte man manchmal nur ahnen. Die 160,- Mark war mein erstes schwer verdientes Geld!
Zeiten, in denen lange Haare noch Philosophie waren
Ich war der, der die längsten Haare trug und hatte ein Ding an der Oberlippe, das dann später zum Bart mutierte. Meine Klassenlehrerin stellte mich oben im Internat vor einen Spiegel und fragte: "Nun guck dich doch mal an. Gefällst du dir so?" Und ich antwortete voller Überzeugung: "Aber klar doch!" So was musste ich sagen, ich fand sie nämlich toll und musste nun Männlichkeit demonstrieren oder das, was ich mir darunter vorstellte.
Und viele Jahre später, als es in der Musikerwelt nur so punkte [sprich: pankte], rasierte ich mir den Schnauzer einmal ab in der Hoffnung, nun wieder progressiv auszusehen - Bärte waren anti-punk! Da stellte mich meine damalige Freundin vor den Spiegel und fragte: "Nun guck dich doch mal an. Gefällst du dir so?" Und ich antwortete voller Überzeugung: "Aber klar doch!" Sie drohte mir mit Beischlafentzug und ich ließ mir sofort wieder einen Bart stehen...
Als ich 1967 die Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik Leipzig bestanden hatte, befahl mir der Direktor meiner Spezialschule, die Haare schneiden zu lassen. Anderenfalls könnte ich das Studium nicht aufnehmen. Haare schneiden! Die gingen gerade mal 5 mm über den Kragen, aber das war zu dieser Zeit schon ein Stein des Anstoßes. Ich habe ein Bild aus dieser Zeit (siehe links). Es muss nach dem Friseur entstanden sein, denn es ist kein Kanten mehr zu erkennen. Und ehe man mich nach dem "Kanten" fragt: Das sind die Haare, die geballt über dem Kragen stehen, als Kanten eben. Nach der Pflicht-Haarschneidprozedur war ich dreißig Jahre nicht mehr beim Friseur!