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"Loslassen" Karussell Monopol Records 17. Juni 2011 1. Oben sein? |
KEIN JAHRMARKT KEIN RUMMEL KEINE LETZTE RUNDE - DAS KARUSSELL
Loslassen... und weitergehen...
Es ist schon sinnvoll, alten Zeiten nachzutrauern. Nämlich dann, wenn sie in gar keiner Weise wiederholbar sind. Es ist dann sinnvoll, wenn sie sich nicht mit dem Heute zu vereinigen vermögen, aus welchen Gründen auch immer. Das Leben jedes einzelnen ist voll mit solchen Einschnitten. Das Leben einer Band ist es wohl auch.
Das trifft sicherlich in großem Maße auf musikalische Unternehmungen aus dem östlichen Teil Deutschlands zu. Doch Leben heißt auch weitergehen. Insofern wundert es nicht und recht wenige, wenn auch die musikalischen Träger des damaligen zeitgenössischen Geschmacks wiederkehren. Erst die Gefälligen, dann die Eckenkantigen. Letztere in letzterer Zeit vermehrt. TRANSIT ist ein Beispiel dafür und auch KARUSSELL. Und beide sind beispielgebend dafür, dass ihre Protagonisten wohl wissen und auch zu zeigen sich nicht scheuen, dass mittlerweile über zwanzig Jahre ins Land gegangen sind. Sie haben nicht nur losgelassen, sie sind auch weiter gegangen. Und werden es mit Sicherheit auch künftig tun. Es gibt auch jede Menge negativer Beispiele für's Nichtweitergehen oder sogar für's Schritte zurückgehen, doch die gehören nicht hierher, denn hier geht es um die neue CD der Band KARUSSELL.
Auf dieses Produkt musste man lange warten und - ähnlich wie bei TRANSIT - vor allem hat wohl vor einigen Jahren noch keiner mehr wirklich damit gerechnet, dass es von KARUSSELL ein neues Produkt, eine CD geben wird. Nun ist sie da und noch erfreulicher ist, dass diese Band dann auch noch anstatt im alten Mus herumzurühren oder sich gen Mainstream (ja schlimmer noch gen Schlager) hinzubewegen, sich jung frisch und zeitnahe zeigt, rebellisch und im Kopf scherenlos. Dass sie aus ihren Wurzeln herauswachsen kann mit frischen Knospen und Blättern, auch ganz neuen Zweigen, ohne zu vergessen, dass sie Wurzeln hat und wie diese sich anfühlen. Und wohl sicher auch gerade deswegen einen der erstaunlichsten Tonträger dieses Jahres veröffentlicht hat (Erscheinungsdatum: 22.7.2011). Mit "Loslassen" hat sich KARUSSELL nicht im Geringsten neu erfunden, die Band ist einfach weiter gegangen. Als hätte es keinen jahrelangen Stillstand gegeben, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Was es auf gar keinen Fall ist. Aber dass es sich so anfühlt beim Hören dieser CD, das tut gut und erscheint mir als etwas ganz Besonderes. Und wird es allen anderen - den "alten" und den neuen Fans - mit Sicherheit auch so erscheinen.
Der Titel der CD ist sicherlich nicht programmatisch gemeint, könnte aber so gedeutet werden. Wenn man es möchte. Dies jedoch wohl in einem recht positiven Sinne, nämlich in dem bereits von mir erwähnten "Loslassen und weitergehen"-Sinn. Die Band hat etwas - und es scheint mühelos, auch wenn dies wohl vermutlich nicht mühelos war - geleistet. Sie hat sich selbst bewahrt und ist dennoch nahe am Rockmetronom der Zeit. Diese Leistung hat sie anderen Bands gleichen Alters und ähnlicher geographischer Herkunft voraus, auch einigen derzeit Hochgejubelten. Sie ist bodenständiger und eindeutiger zu identifizieren als diese. Sie ist eine gesamtdeutsche Band geworden und zeigt mit der neuen CD, wie einfach das sein kann, ohne auch nur ein Quentchen ihres eigenen Selbstverständnisses aufzugeben. Einen sicherlich nicht unwesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat der junge "Zweitfrontmann neben dem Zweitfrontmann Oschek", wie er sich selbst bezeichnete, Joe Raschke. Sein jugendlicher Wille und auch sein Gestaltungsmut haben die Band auf respektvollste verjüngt, ohne dass auch nur ein einziger Rückgratwirbel etwas an Elastizität verlieren musste. Somit ist KARUSSELL aus sich selbst heraus eine Entwicklung eröffnet worden, in der über Dilemmas wie Rockerrenten oder andere Verwerfungen hinaus ganz locker eine Art Ewigkeitsgarantie aufgestempelt wurde. Die Fans werden es ihnen danken und eben diese CD ist das musikalische Versprechen dazu.
Musikalisch setzte KARUSSELL mit ihrer neuen CD vorrangig da an, wo sie sich befanden, als Cäsar diese Band verließ. Doch kleine Erinnerungsfetzen an die Zeiten mit Tom Leonhard und mit Dirk Michaelis an der Vorderfront müssen auch nicht vermisst werden. Joe Raschke bewältigt dies gesanglich und interpretatorisch und lässt es an nichts fehlen, hauptsächlich nicht an sich selbst und das ist das Prägnanteste an dieser auf CD gepressten Zwischenstation der langlebigen Band. Reinhard "Oschek" Huth singt vermutlich in 35 Jahren noch genauso wie er bereits vor 35 Jahren sang. Das ist nicht nur ein stimmliches Wunder, es ist ein neben dem neuen "Zweitsänger" ein unbezahlbarer Glücksfall. Zumal auch jene Themen, denen er sich auch auf dieser CD gesanglich und auch kompositorisch zuwendete, diejenigen sind, für welche er schon immer ein wunderbarer Interpret war: Für die Reibungspunkte des Lebens.
Die Titel sind - fast durch die Bank weg - "karussell-typisch" und (auch dies ist "karussell-typisch") zeitlos und direkt am Puls der Zeit zugleich. Manches ist vielleicht Schnickschnack ("Hoffnungslos Uferlos"), aber selbst der macht Laune. Manches kommt wie ein Hör-Bonbon daher ("Verrückter Vormittag"), das fast in Richtung E-Musik tendiert. Die Band ist jedoch im Großen und Ganzen fröhlich, rockig, ehrlich, bodenständig und wild auf die Musik, die sie da spielen. Diese Spiel-Laune kommt auch auf diesem Studio-Album durch und das ist eine ganze Menge wert. Nicht alles ist gelungen. Oder gelungen ausgesucht. Bei 16 Titeln mit Sicherheit als normal zu bezeichnen. Bei manchen Titeln ist musikalisch zuviel Reminiszenz für meinen Geschmack ("Lied für euch", das mich zu sehr an Renfts "Zwischen Liebe und Zorn" erinnert), bei manchen textlich ("Zweitgesicht", bei dem der "Zweifel" ein wenig hochkommt). Diese Versuche sind mehr als legitim, beim Beispiel "Lied für euch" vermute ich gar, dem autobiographisch anmutenden Text Oscheks folgend, Absicht des Komponisten Wolf-Rüdiger Raschke.
Dass mir persönlich zwei Titel insgesamt überhaupt nicht gefallen, ist für eine CD mit dieser Titelanzahl fast nicht mehr auffällig ("Oben sein?", "Deine Farben"). Eine gute Band muss mich auch an ihr reiben lassen. Was ich nicht verstehe ist, dass Joe Raschke mir mal sagte, dass "Loslassen" nicht der stärkste Titel dieser CD ist. Vielleicht haben wir unterschiedliche musikalische Vorlieben. Aber ich halte gerade diesen Titel für einen der stärksten auf dieser CD, denn er geht unter die Haut, auch nach mehrmaligem Hören. Doch leider - und insofern gebe ich Joe Raschke halb recht - muss er sich diesen Rang auf meiner persönlichen Favoritenliste mit einem weiteren Titel teilen: "Stern der Liebe". Und spätestens jetzt weiß man, was für einen großartigen Sinn es hat, dass die beiden (Joe Raschke und Reinhard "Oschek" Huth) sich die Front teilen. Überhaupt ist die Gesamtbesetzung der "neuen" Band ein absoluter Glücksgriff. Musikalisch ist diese CD für mich eine mir fast unheimlich erscheinend großartige Produktion. Auch thematisch finde ich die Widerborstigkeit und beobachtende Genauigkeit bis in tiefste Gefühlsebenen wieder. Das Schauen auf die Menschen, in die Menschen, auf die Zeit. Und auch immer wieder tief den Finger in den Wunden. Einfach großartig und so wie man es von KARUSSELL immer schon kannte und natürlich weiter kennen möchte. Textlich sind leider zu viele nicht nur handwerkliche Fehler gemacht worden. Das Aneinanderreihen von Klischees, wie mitunter geschehen ("Deine Farben") ergibt leider noch keinen guten Text, obschon die Ideen zu den Texten fast immer überzeugen und für diese sprachlichen Misslichkeiten und teilweisen Verfehlungen in der Umsetzung ein wenig revanchieren. Dem Gesamtwerk tut es jedoch keinen Abbruch. Eher im Gegenteil. Es schürt ja doch sogar noch Erwartungen, denn dieses Werk impliziert auch die Sicherheit, so wie es daherkommt, dass da noch viel mehr zu erwarten ist. Und diese Erwartung habe ich. Doch erst einmal kann ich eine der gelungensten musikalischen Produktionen im ersten Halbjahr (denn man weiß ja nie, was noch so kommt) genießen, die ich hören darf. Und empfehle sie mit wehenden Fahnen gerne an jeden weiter.
KARUSSELL hat sich nun auch mit einem Album nach langer Zeit der Abstinenz zurückgemeldet. Und sie haben das so getan wie es sein soll. Für sich selbst und für all die Menschen, die diese Band bereits lieben und mit großer Sicherheit auch für all die, welche sie mit Sicherheit noch lieben werden. Eine großartige deutsche Band!
(Andreas Hähle)