Mia Diekow: "Ich habe mich getroffen" (Album)

diekow24 20240517 1553415248VÖ: 22.03.2024; Label: Chateau Lala; Katalognummer: n.b.; Musiker: Mia Diekow (Gesang, div. Instrumente), Filmorchester Babelsberg (div. Instrumente); Bemerkung: Dieses Album ist ausschließlich auf Schallplatte erschienen und ist zudem als Download/Stream zu haben;

Titel:
Seite 1: " OK", "Kinder der Traurigkeit", "Tentakel", "Anne Marie", "Babyschritte"
Seite 2: "Was fällt dir ein mich zu verlieren", "Der Mensch für mich", "New York", "Peter Pan", "Brief an den Vater", "Deine neue Frisur ist seltsam"


Rezension:


"Was ist eigentlich aus Mia Diekow geworden", fragte mich unlängst ein Freund. Sowohl er (2018) als auch ich (2012) hatten mit der sympathischen Hamburgerin bereits Interviews für dieses Magazin geführt und wir beiden waren uns sicher, dass sie mit ihrer wunderbaren Art, Lieder zu schreiben und sie zum Leben zu erwecken, eine feste Größe in der Szene werden würde. Aber irgendwie war nach dem Album "Ärger im Paradies" (2018) plötzlich Ruhe. In mitten dieser Stille und dem Rätselraten zweier Freunde, wo denn wohl die Sängerin abgeblieben ist, trudelte eine Nachricht ins Haus, die von einem neuen Album der Künstlerin berichtete. "Ich habe mich getroffen", so der Titel des dritten Albums, ist inzwischen erschienen. Schon im März. Und wir stellen es Euch heute vor, verbunden mit einer traurigen "Vermisstengeschichte", von der wir bis vor Kurzem keine Ahnung hatten …

Die gute Nachricht ist: Wir haben Mia Diekow wiedergefunden. Sie ist nicht weg … Die Schlechte allerdings ist, dass sie trotz dieser hier nun vorliegenden Veröffentlichung derzeit gar nicht arbeiten kann. Dafür fehlen ihr die Kräfte. Sie leidet an Folgeerkrankungen, ausgellöst durch Corona, die sich ME/CFS und POTS nennen. Noch nie gehört? So geht es auch vielen anderen Menschen, inkl. Ärzten, denn derzeit gibt es für Mia und andere Erkrankte keine richtige Hilfe … keine Heilung. Die muntere, gut aufgelegte und quirlige Mia, die wir vor Jahren kennenlernen durften, ist heute ganz anders. Aber nicht, weil sie das so will oder weil sie es sich so ausgesucht hat, sondern weil ihr das Schicksal das aufgebrummt hat. Und trotzdem ist es jetzt da, dieses neue Album. Aber wie passt das zusammen?

Eigentlich, und so ist auch die offizielle Lesart, ist "Ich habe mich getroffen" ein verschollenes Album. Im Winter 2019 war dieses Werk bereits aufgenommen, und die Künstlerin und Produzentin hatte ihr drittes Album fertig mischen lassen. Im Sommer 2020 sollte es zur Welt kommen, aber da machte ihr das Leben einen Strich durch die Rechnung. Gerade wurden wir von dem Corona-Virus heimgesucht, da erkrankte Mia auch schon im März 2020, gleich mit der ersten Welle, an diesem Ding namens "Covid-19". Die Folgen waren die eingangs genannten zwei chronischen Erkrankungen, die unter dem Sammelbegriff "Long Covid" laufen. Es bedeutet, dass dieser Scheiß ihr die Lebensenergie geraubt hat, so dass sie sich an guten Tagen mal waschen und was zu essen kochen kann, an Schlechten dann allerdings auch wieder nicht einmal daran denken kann, diese für uns so selbstverständlichen Dinge zu erledigen. "Ohne eine funktionierende Therapie, ohne wirksame Medikamente werde ich keine Musik mehr machen können", macht Mia Diekow, die durch ihr Schicksal auch Mitbegründerin von "Long Covid Deutschland" (LCD) wurde, deutlich. Nur durch eine Crowdfunding-Aktion und mit Hilfe Dritter ist es ihr nun doch noch gelungen, "Ich habe mich getroffen" zu veröffentlichen.

"Ein Schmuckkasten funkelnder Chanson-Juwelen und vom Deutschen Film Orchester Babelsberg getragener Bühnen-Poesie", beschreibt der Pressetext das Album. Und ja, da hat dieser Text recht … es ist ein klassisch zeitloses Pop-Album mit vielen Einflüssen anderer Spielarten geworden. Keine gleichschenkeligen Dreiecke, wie wir sie aus dem Tagesprogramm der vielen Rundfunkstationen kennen, sondern echt farbenfrohe Musik. Über jedem Ton eines jeden Songs schwebt die unverwechselbar warme Stimme der Diekow, die mit ihrem "Intrument" in Höhen vordringt, in denen man sonst nur Inga Humpe, Kate Bush oder Katie Melua antreffen kann. Und bei allen vergleichbaren Stimmen, die man hier noch nennen könnte, verbietet es sich doch, Mia Diekow neben andere Künstlerinnen zu stellen. Ihr Tun ist einzigartig, und das war es schon auf den anderen Platten.

"Warme Lebensklugheit" nennt der gleiche Pressetext das, was sie da singt, und auch da mag man sich keine andere Formulierung einfallen lassen, um Textinhalte wie den des Stücks "Anne Marie" zu beschreiben, in dem die Geschichte der Freundin erzählt wird, die sich selbst kleiner macht als sie ist. Diese Freundin hat ihr Herz an einen vergebenen Mann gehängt, der - libidonös unterzuckert - mit ihr beziehungstechnisch eine Zweigstelle eröffnet hat. Die offizielle Partnerin will er für sie, die ein Schattendasein fristet, nicht verlassen, aber trotzdem verbiegt sich die Zweitbesetzung für diesen Kerl so dermaßen, dass man sie selbst nicht mehr erkennen kann. Diese Geschichte und die aufmunternden Worte der Diekow sind lebensnah, aufbauend und mutmachend für jede Frau, die gerade Gleiches erlebt oder schon erlebt hat. Und vor allen Dingen sind ihre Worte ganz großartig gewählt. Verpackt ist diese Story in eine ruhige, an klassischer Musik angelegte Popmusik, die ganz sacht dahin schwingt. Für mich der Favorit auf der Platte …
Gleiches gilt auch für das Stück "Ok", das das Album eröffnet. Vom Stil her mag man gleich an die Gruppe LAING denken, besonders, wenn der Chor einsetzt, aber musikalisch ist das eine ganz andere Baustelle. Es rappelt, klappert, groovt mit seiner handgemachten Musik und nimmt Dich vom ersten Ton an mit. Ein Ohrwurm mit dem ausgestellten Rezept für ein gesundes Selbstbewusstsein.
Mit zerbrechlicher und zugleich glockenklarer Stimme räumt sie in "Mosaik" mit einer toxischen Liebe auf und gibt trotzig zu verstehen, dass sie froh ist, diesen Ballast, der sie runter zog, los zu sein. Orchestral unterstützt ist es ein musikalischer Befreiungsschlag geworden, ein Wiederaufstehen und Krone richten.
"Babyschritte", ein Song über Entschleunigung und zu sich selbst finden, empfängt den Hörer mit einem 70er-Jahre-Orgelsound, Streichern und einem Chor, und wieder ist man überrascht von dieser unkonventionellen Art des Liedermachens, das so gar nicht in das gängige Klangbild unserer Zeit passen will und doch so frisch, knackig und gut klingt. Gleiches gilt auch für "Kinder der Traurigkeit" mit seinem locker-flockig klingenden Refrain und seinem stampfenden Beat, genau wie Mia Diekows Version des Jazz Klassikers "The Man I Love" von George Gershwin, die bei ihr "Der Mensch für mich" heißt, und all die anderen Song-Perlen auf dieser Platte. Und diese möge der geneigte Leser nun für sich selbst entdecken und sich davon erobern lassen, denn der hier in Teilen bereits zitierte Pressetext verspricht wirklich nicht zu viel, wenn davon die Rede ist, dass sie uns "… wie eine Show-Masterin durch ein nass perkussives Dickicht führt, von dessen Blättern Wort-Choräle tropfen."

Mia Diekow vermag es mit Leichtigkeit, in Dir als Hörer das Kopfkino auszulösen. Ihre Lieder verlangen nach Aufmerksamkeit und Ruhe beim Hören, zaubern Dir dann als Belohnung die dazu passenden Bilder vor das innere Auge und ein Lächeln ins Gesicht. Ihre Stimme verführt Dich wie eine Sirene, darum solltest Du beim Hören auch nicht unbedingt mit einem Kahn auf dem Rhein umher schippern ;-) Die Wahl des Deutschen Film Orchesters Babelsberg als Begleitung für diese Lieder war eine vortreffliche. Das passt super zusammen, das hat Charme, das hat eine fast nicht mit Worten zu beschreibende Magie, die man einfach selbst auf sich wirken lassen muss.

Leider kann man dies nur über diese CD bzw. die Schallplatte tun, denn live wird Mia ihre neuen Lieder (vorerst) nicht präsentieren können. Darum - und auch diese Idee bringt der hier schon so oft erwähnte Pressetext mit - sollten wir dafür sorgen, dass die Lieder von "Ich habe mich getroffen" auch ohne Live-Konzerte raus in die Welt getragen werden. Kauft die Scheibe und spielt die Lieder, die dafür auch gemacht wurden. Spielt sie Euren Freunden vor, wünscht Euch die Lieder im Radio, genießt sie und vergesst dabei nicht zu erzählen, dass Mia Diekow und all die anderen Menschen, die das gleiche Schicksal ereilt hat, Hilfe brauchen. Die Hoffnung, dass sie irgendwann wieder vor uns stehen und singen kann, bleibt … Alles Gute, Mia, und Danke für dieses tolle Album!
(Christian Reder)





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