Joachim Witt: "Der Fels in der Brandung" (Album)

lp29 20230925 1486708088VÖ: 15.09.2023; Label: Warner Music; Katalognummer: 5054197645976 (CD) und 5054197645952 (Vinyl); Musiker: Joachim Witt (Gesang), weitere Studiomusiker nicht bekannt; Gäste: Marianne Rosenberg, Velile Mchunu, Michelle Leonard (alle Gesang); Bemerkung: Das Album ist digital (Download, Stream), auf CD und als limitierte Auflage in rotem Vinyl als Schallplatte erschienen;

Titel:
" Signale", "Weg ins Licht", "Sebelele", "Schwör mir", "In unserer Zeit", "Jung", "Revolution", "Hörst Du mich", "Bäume", "Propaganda", "Träume im Gegenwind"


Rezension:


Wenn Joachim Witt ein neues Album heraus bringt, freue ich mich immer. Aus vielerlei Hinsicht, denn nicht nur die neuen Songs haben einen hohen Unterhaltungswert, sondern auch das Tamtam drum herum. Zum Einen gibt es neuen Stoff für die Ohren und den Kopf aus der Feder eines unserer kreativsten und fleißigsten Musiker. Und dieser Stoff ist bei jedem neuen Ausflug des gebürtigen Hamburgers in Bezug auf Arrangement und Wahl des Genres immer wieder anders und neu. Wiederholungen? Nö! Eintönigkeit? Niemals! Vielmehr darf man sich regelmäßig über neuen Mut zu grenzüberschreitenden Experimenten freuen, über das Mischen von Altem und Neuem, von Zeitgenössischem und Traditionellem, von Feuer und Wasser. Und auf Stylehopping, denn wenn eine Baustelle abgeschlossen ist, eröffnet Witt auf der nächsten Platte eine Neue.

Zum Anderen ist es auch immer wieder lustig zu beobachten, wie manch ein "Fachjournalist" dann hilflos da steht und vergeblich versucht, das Anliegen des Herrn Witt zu begreifen. Manch ein "Plattentester" rennt dann gepflegt in eine Sackgasse, und flüchtet wegen seines fehlenden Talents, Inhalte und Musik zu interpretieren oder gar zu verstehen, in sarkastische, teils böse Verrisse, die immer wieder am Thema vorbei gehen. Dabei sind es keine Nebelkerzen, die Joachim da in den Raum stellt, sondern immer wieder neue künstlerische Häutungen und Metamorphosen, mit denen man sich einfach nur mal auseinandersetzen muss. Ist doch eigentlich ganz einfach. Nur leider nicht für jeden.

Auch dieses Mal versucht man seine Musik wieder in eine Kategorie zu pressen, obwohl das erneut kaum bis gar nicht möglich ist. Dies gelang bei den letzten Werken schon nicht, und auch jetzt wird's wieder komisch. Tappte man bei den Rübezahl-Scheibletten schon im Dunkeln, hat man auch bei "Der Fels in der Brandung", seinem neusten und inzwischen 20. Studioalbum, noch immer kein Licht am Fahrrad. Nun ist es angeblich Schlager, den er macht. Wirklich? Natürlich nicht, soviel sei an dieser Stelle schon verraten. Allein seine Botschaften und Anliegen, die - wie von ihm gewohnt - in wunderbare Worte gekleidet wurden, lassen die Lieder vom typischen Schlager so weit weg sein, wie mich vom Besuch eines Ross Antony-Konzerts. Auch musikalisch liegen zwischen seiner Musik und der im Schlager-Bereich oft am Küchentisch oder im Wohnzimmer von irgendeinem "Produzenten" zusammengedengelten Trallala-Sound ganze Dimensionen.

Aber Joachim hat mit Marianne Rosenberg eine Kollegin mit ins Studio genommen, die ebenfalls immer wieder diesem Fach zugeordnet wird, weshalb manch ein Pressevertreter dann schon fast aus einem pawlowschen Reflex heraus reagiert und das gesamte neue Liedgut in diesen Bereich der Musik kategorisiert. Dabei ist das auch in Bezug auf Marianne kompletter Unsinn, hat sie sich in den vergangenen 50 Jahren ebenso wie Witt musikalisch auch schon in verschiedenen Sportarten ausgetobt, brilliert und damit eindrucksvoll gezeigt, dass ihr eine einzige Schublade wie der Schlager viel zu eng ist. Aber egal … "In unserer Zeit" heißt der Song, den die beiden Urgesteine deutscher Pop-Musik zusammen eingesungen haben, und obwohl es für meinen Geschmack der schwächste Song auf dem Album ist, liegt er ganz weit entfernt von der zuckerwatte-klebrigen Kunststoffwelt von Flori Silbereisen und Giovanni Mozarella. Dass die Beiden dann aber doch damit in Verbindung gebracht werden, liegt sicher auch ein Stück weit daran, dass sie unlängst mit eben diesem Song in einer der Samstagabendshows von Deutschlands jüngstem Greis (Silbereisen) auftraten. Das macht es den Kritikern natürlich noch leichter, ein falsches Etikett zu finden, und wenn es dann inhaltlich auch noch um Zusammenhalt und den Bau einer Welt geht, in der sich alle verstehen und lieb haben, erfüllt das für sie natürlich sämtliche Kriterien. Aber am Ende ist es doch Pop-Musik, was wir da hören, und nichts anderes. Und der Rest der Platte?

Ebenso! Joachim hat seine Liebe zur elektronischen Musik scheinbar wiederentdeckt. Elektronische Musik in all ihren Facetten … Die hatte er in den 80ern und frühen 90ern ja schon einmal auf Alben wie "Mit Rucksack & Harpune" oder "Kapitän der Träume" ausgelebt und richtig geile Perlen des Pop hervor gezaubert. Dies tut er anno 2023 einmal mehr.
"Signale" ist der Einstieg in die neue Abenteuerreise mit altbekannten Zutaten. Künstlich erzeugte Bläser, wie sie in den End-80ern Standard und damals auch noch "en vogue" waren, empfangen einen, bevor ergänzend ein stampfender Beat und dezent eingestreute Gitarren zusammen den Teppich für Joachims Kritik an unser aller Umgang mit der Welt und der Natur, sowie an unserem Leben auf der monetären Überholspur bilden. Das, mein lieber Joachim, wäre eine geile erste Single gewesen. Aber mit soviel unbequemer Wahrheit kommste natürlich nicht zum Flori in die Show und in den Fernsehgarten erst recht nicht.
Letzteres gelang ihm aber mit dem Titel "Schwör mir". Man kann über die Sendung und deren Gastgeberin ja denken was man will, aber man kann Joachim nur einmal mehr dazu beglückwünschen, dass er dort einen Fuß in die Tür und die Chance bekommen hat, ein zusätzliches Publikum zu dem der letzten Jahre mit seiner Musik zu erreichen. In diesem Stück sind es die künstlich erzeugten Streicher, die die Grundlage für eine ruhige, zurückgenommene und balladeske, aber trotzdem tanzbare Pop-Nummer bilden. Aus dem Lied hört man deutlich die Witt'sche DNA heraus, die Handschrift ist sofort erkennbar. Inhaltlich wird hier das Alter zum Thema gemacht und dazu der Wunsch hinterlegt, der Partner möge bei einem bleiben, wenn der Herbst und der Winter des Lebens Einzug halten. Dick aufgestrichener Pathos und ein metaphorisch großzügiger Umgang mit großen Worten kennzeichnen diese Nummer, die für meinen Geschmack völlig zurecht als Single ausgekoppelt wurde und auf einer irgendwann zu erwartenden neuen Best Of des Musikers einen guten Platz neben den großen Werken einnehmen wird. Eins der stärksten Lieder auf dieser Platte!
Auch im Titel "Jung" ist das Alter erneut Thema. Die Jugend geht viel zu schnell vorbei, die Unbefangenheit und die Unbekümmertheit verschwinden irgendwann, und dass man sie mal hatte, merkt man erst, wenn sie weg sind und man die Jugend hinter sich gelassen hat. Hämmernde Beats, Synthie-Teppiche und elektronische Spielereien für des Genießers Ohren rahmen dies wunderbar ein. Ein weiteres tolles Stück.
Eine wunderbare Melodie wird mit einer E-Gitarre im von Weltmusik angehauchten Song "Sebelele" geformt, das in Gänze von Joachim im Duett mit Velile Mchunu vorgetragen wird. Die Südafrikanerin kennt der eine oder andere Leser sicher noch als Sängerin des Songs "Helele", der zur Fußball-WM 2010 erschien und zum Hit wurde. Nun zeigt sie sich hier zusammen mit Joachim Witt, der eine ganz wunderbare und kraftspendende Hymne entstehen lässt. Irgendwo da hinter dem Horizont ist diese eine Person, die einen auch nach einem starken Sturm wieder aufstehen und weitermachen lässt. Zusammen mit dieser grandiosen Musik bildet der Text eine Woge aus Gefühlen, die Dich einfach nur mitreißt. Hammer!
Ebenso mitreißend ist "Hörst Du mich", das mit Geigenklängen und der Stimme einer Dame namens Michelle Leonard als Duett-Partnerin Witts dicke Backen macht. Musikalisch erinnert der Song durch die Geige (scheinbar echt und nicht aus dem Computer) stark an Musik der Gruppe CITY. Dennoch ist es nur eine Parallele, die rein zufällig ist, denn "Hörst Du mich" ist typisch Witt, wie so vieles auf dieser Platte, vermischt mit neuen Einflüssen und guten Ideen, die vielleicht schon mal ein anderer Künstlerkollege hatte. Im Text ist es stark bewölkt mit leichten Auflockerungen, aber man wird das Gefühl nicht los, als habe Joachim hier mal länger mit Nino de Angelo telefoniert und einen Ideenaustausch betrieben. Das hat was!
Weitere Highlights und Überraschungen warten in Liedern wie "Bäume", "Propaganda" oder "Träume im Gegenwind", die hier jetzt aber nicht auch noch näher vorgestellt werden sollen. Das Album ist in Sachen Musik und Inhalt gut gefüllt, macht Spaß und überrascht einmal mehr durch seine Andersartigkeit im Vergleich zu seinen Vorgängern.

Trotzdem ist "Der Fels in der Brandung" nicht Joachim Witts bestes Album. Da gab es unter den Scheiben davor durchaus stärkere Werke. Und doch beweist der Musikant einmal mehr Mut und Risikobereitschaft, erfolgreiche Phasen auf dem Höhepunkt zu beenden und zu verlassen, um was Neues anzupacken. Zutaten, die bei anderen Rezepten früher mal für das gewisse Etwas sorgten, werden wieder hervor geholt und mit anderen, teils Neuen, teils von anderer Stelle her bekannten Einflüssen, gemischt und zu etwas ganz Neuem abgeschmeckt. Das Ergebnis kann sich Hören lassen, auch wenn der Schnitt vom Rübezahl zum "Wellenbrecher" ziemlich groß und gewöhnungsbedürftig ist. Dies mag jeder für sich selbst entscheiden, wie es ihm mundet. Mir schmeckt's im Großen und Ganzen gut, es fehlen mir nur etwas die Gitarren, die über all die letzten Jahre bei Joachim immer gut im Vordergrund standen. Auch die Wahl von elektronischen Hilfsmitteln beim Erzeugen von Bläser- oder Streicher-Sounds trifft nicht ganz so meinen Geschmack. Deren Verwendung mag seine Gründe in zu hohen Produktionskosten beim Einsatz echter Instrumente und deren Spieler haben, aber der Wunsch, dass man dies gern "in Natur" hätte, darf - so denke ich - doch mal geäußert werden, oder? Ob hier überhaupt Menschen aus Fleisch und Blut die Musik eingespielt haben, ist nicht bekannt, denn es gibt auf der mir vorliegenden Version des Albums keinerlei Hinweise oder Credits, die darüber informieren, wer denn hier neben Witt und den Gastsängerinnen zu hören ist. War des der Computer, ist das zumindest gut "versteckt" worden - man hört es nicht. Wegen den Helferlein bei den Streichern und den Bläsern, die man deutlich heraus hört, inkl. des Vocoder-Einsatzes, gibt es leider Abzüge in der B-Note und eben die gerade geäußerte Erkenntnis, dass es eben nicht das stärkste aller Witt-Alben geworden ist. Macht aber nix, denn trotzdem ist es eins, über das man sich freut. Sowohl was den Inhalt als auch die "Nebenkriegsschauplätze" betrifft. Es macht eben immer wieder Spaß, wenn Joachim was Neues raus haut …
(Christian Reder)





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