Rammstein: "Zeit" (Album)

rammsteinzeit 20220506 1521244273VÖ: 29.04.2022; Label: Universal Music Group; Katalognummer: 0602445084999; (CD) und 0602445085019 (Schallplatte) Musiker: Till Lindemann (Gesang), Richard Kruspe (Gitarre), Paul Landers (Gitarre), Oliver Riedel (Bass), Christian "Flake" Lorenz (Keyboard, Synthesizer, Klavier), Christoph "Doom" Schneider (Schlagzeug); Bemerkung: Dieses Album ist auf CD und Doppel-Vinyl erschienen;

Titel:
Armee der Tristen • Zeit • Schwarz • Giftig • Zick Zack • OK • Meine Tränen • Angst • Dicke Titten • Lügen • Adieu


Rezension:
Hatten wir Schuld auf uns geladen? Unsere Väter des oft Kribbeln und manchmal auch absichtlich Unbehagen erzeugenden Industrial Rocks gaben uns jedenfalls lange Zeit kein täglich Brot mehr. Was war das doch für eine trostlose Phase in den Jahren zwischen 2009 und 2019, sowohl im Himmel als auch auf Erden, so dass manch ein Zeitgenosse schon ihre Schöpfungskraft und Herrlichkeit anzweifelte. Einige mutmaßten sogar, Gott sei tot und RAMMSTEIN würde sich gar wegen versiegter Kreativität auflösen. Setzte uns das Berliner Ensemble damals satte 10 Jahre auf Nulldiät, holen sie seit 2019 wieder die Keule raus und kloppen damit fleißig um sich. Zuerst erreichte uns plötzlich und unerwartet das Liedgut des unbetitelten weißen Albums mit solch bleibenden Kompositionen wie "Radio", "Ausländer", "Deutschland" und "Puppe", und kaum zwei Jahre später (ok, drei …) wird die Gemeinde einmal mehr mit einem exakt 11 neue Lieder umfassenden Werk, dieses Mal "Zeit" genannt, weiter ernährt. Weg sind die Gedanken an die lange Dürre oder an mögliche Auflösungsambitionen des Sextetts, und all die Zweifel haben längst Platz für ein Gefühl der Zufriedenheit und für andere durch ihre Musik verursachten Todsünden gemacht.

Das Album kündigte sich bereits vor Wochen schon mit der Single "Zeit" an, und wieder eckten die Herren mit einem Video in gewissen Kreisen an. Zwar nicht so übel wie vor drei Jahren mit "Deutschland", aber doch gefühlt mit Ansage. Kein neues RAMMSTEIN-Album ohne ein vorheriges Beben im Land. Grund dafür war dieses Mal eine Geburtsszene, die nicht jedermanns Geschmack war, aber derlei "Mimimi"-Wortmeldungen aus der Heimat ist man im Hause RAMMSTEIN ja schon gewohnt und diese dürften dort auch nicht mehr groß für Gesprächsstoff sorgen. Mit dieser anfangs ein wenig an "Wilder Wein" erinnernden, aber im Verlauf mit mächtig viel Druck auf Stromgitarre und Schlagwerk doch in ein anderes instrumentales Fahrwasser steuernden Hymne setzt die Band den Faden in rot fort, den sie vor drei Jahren begonnen hatten zu spinnen.
Bei "Zeit" handelt es sich aber nicht um den Opener, denn ihr neuestes Werk leiten Lindemann & Co. mit der düster klingenden "Armee der Tristen" ein, dessen Inhalt genauso aufs Gemüt drückt wie die musikalische Umsetzung.
Mit "Schwarz" schließt sich eine weitere balladeske Nummer an, ehe mit dem flotten "Giftig" erstmals ein echter Überraschungsmoment auf den Hörer wartet. Nicht nur, dass es hier spür- und hörbar lauter und von der Schlagzahl her flotter als vorher wird, auch Flake packt nun seine Trickkiste aus und darf sich in Sachen Keyboard-Klängen mächtig austoben. Am Ende drückt uns die Formation mit dem fetten Druck dieser Rocknummer ins kuschelige Polster der heimischen Wohnlandschaft und wird uns vor der Bühne bei einem der kommenden Konzerten damit gepflegt ans Tanzbein greifen. Feiner rammsteinscher Stoff der klassischen Art, der laut genossen werden möchte und sich nahtlos in die Riege der großen Nummern einreiht.
Dies tut übrigens auch die zweite Single-Auskopplung aus dieser Langrille, "Zick zack", dessen Video für meinen Geschmack eins der besten Clips der Szene aus den vergangenen gefühlt 30 Jahren darstellt. Ein herrlicher Hieb in Richtung derer, die nicht in Würde altern können und diverse Fehler der Natur gern durch Chirurgenhand gerade- bzw. straffziehen lassen. Ebenso wie "Giftig" dürfte "Zick Zack" ein kommender Evergreen der Berliner sein.
Einmal Fahrt aufgenommen, wird auch mit "OK", das hier nicht für "Alles in Ordnung" sondern vielmehr als Abkürzung für "Ohne Kondom" steht, amtlich gerockt und dem Hörer kraftvoll der fette Sound um die Ohren gehauen.
Zumindest musikalisch latscht das Orchester dann im folgenden Stück "Meine Tränen" gepflegt auf den Anker, nicht aber was den inhaltlichen Stoff betrifft. Hier geht es nämlich um das eher gestörte Verhältnis eines Mannes zu seiner Mutter, bei der er trotz fortgeschrittenen Alters noch immer wohnt und von der er auch gelegentlich noch körperliche Züchtigung erfahren muss. Möge sich jeder Hörer selbst ein Bild davon machen, was die RAMMSTEINE uns mit dem Lied für eine Botschaft mit auf den Weg geben möchten.
Die Reise wird mit dem Stück "Angst" fortgesetzt, einer weiteren für die Gruppe typischen Klang-Kollage aus Beats und harten Gitarren, das vom "schwarzen Mann" handelt, über dessen Treiben uns schon in Kindertagen erzählt wurde und dessen Geist uns auch im Erwachsenenalter noch begleitet.
Bayrisches Volksliedgut meets Industrial könnte die Überschrift über der nächsten Nummer sein, denn "Dicke Titten" startet mit einem Volksmusik-Intro, das dann jäh von fetten Gitarrenklängen abgelöst wird. Dem Hörer wird mächtig eingeheizt und es rappelt ordentlich. Musikalisch wie inhaltlich. Immerhin geht es um die Suche nach einer die Sinne nur in eine Richtung ansprechenden Partnerin fürs Leben, die außer den im Titel schon angesprochenen Attributen nix weiter mitzubringen hat, um den Herrn zufrieden zu stellen. Fetzt, das Ding. RAMMSTEIN eben!
Kurz vor Schluss erreichen uns noch "Lügen", nämlich die die Frauen von ihren Männern gern hören. Diese betet der Herr Lindemann hier auch fleißig runter, um am Ende der Aufzählung völlig freimütig einzuräumen, dass dies "alles Lügen" sind. Verpackt in leisen Strophen und in lautem Refrain.
Das Kapitel "Zeit" beenden die sechs Musiker mit dem Song "Adieu", mit dem sie das Auditorium mit mehreren Fragezeichen zurücklassen werden. Ist dies der Abschiedsgruß an die Hörer? Ist das hier der letzte neue Song der Band, den wir gerade erlebt haben? Hört die Band etwa auf? Darauf gibt es im Song zwar keine Antwort, aber die Zeile "Adieu, Goodbye, Aufwiederseh'n - den letzten Weg musst Du alleine geh'n" klingt stark nach Abschied, und der wäre im Fall von RAMMSTEIN wirklich sehr traurig.

"Zeit" liefert dem Fan, was er von seiner Band erwartet. Den Sound, den Inhalt und all das Drumherum, das er seit fast 30 Jahren kennt. Hier wird sich nicht verbogen und irgendwelchen Trends angeschlossen schon mal gar nicht. Die Zeiten, in denen man mit "Dicken Titten" oder "OK" die Republik empören, sie womöglich sogar in "Angst" und Schrecken versetzen konnte, sind inzwischen längst vorbei. Aber Texte mit Ecken, Kanten und Widerhaken können Lindemann und seine Kollegen immer noch liefern, und an mancher Stelle bei den Hörern damit gereizte Haut hinterlassen. RAMMSTEIN ist nach wie vor ein Garant für erstklassige Rockmusik und ein Lieferant für echtes Kulturgut. Da ist "Zeit" nur ein weiterer dicker Strich unter der Gesamtrechnung, die die Band in den 90ern anfing aufzumachen. Kopiert haben sie schon viele, aber das Original dabei nie erreicht. Sie setzen immer noch selbst die Maßstäbe, auch wenn auf den ersten Blick vielleicht nichts Neues mehr zu entdecken ist. "Zeit" scheint die direkte und ohne große Unterschiede aufweisende Fortsetzung seines Vorgängers aus dem Jahr 2019. Auf den zweiten Blick findet man dann doch die kommenden Klassiker, die man mit RAMMSTEIN genauso verbinden wird wie "Engel", womit einst alles begann. Die Platte besticht durch ihre Wertigkeit und die perfekte Produktion. So möge "Adieu" nicht das Schlusswort sein, denn die deutsche Kulturlandschaft würde einen weiteren nicht aufzufangenden Verlust erleiden, gingen die Musikanten nach "Zeit" in Rente. Sie entschädigen die Fans mit ihrer Musik nämlich für all die vielen biblischen Plagen in Musikform, die uns seit Jahren schon Woche für Woche von der Industrie vor die Füße gerotzt werden und halten so das natürliche Gleichgewicht der deutschen Musikszene aufrecht. Sowas wie diese Band wird heute nicht mehr nachwachsen! Achso: Unbedingt die Platte kaufen. Sie gehört in jede gut sortierte Sammlung, direkt neben die Scheiben der Beatles, Stones und den anderen schon vorhandenen RAMMSTEIN-Werken. Amen!
(Christian Reder)





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