Charly Klauser: "Mehr" (Album)

klauser2022 20221227 1055834659VÖ: 24.06.2022; Label: TÜR AUF Records; Katalognummer: 4056813381429; Musiker: Charly Klauser (Gesang, Gitarren, Bass, Kontrabass, Schlagzeug, Percussion, Flügel), Steffen Graef (Gitarre, Trompete, Chor), Sophia Wahnschaffe, Manuel Sanchez-Schwellenbach, Simon Scheibel (alle Chor); Musik Charly Klauser; Texte: Charly Klauser, Ali Zuckowski, Sophia Wahnschaffe, Johanna Eicker, Johannes Oerding, Keno Langbein, Leon Taylor, Eleonore Klauser; Produktion: Charly Klauser; Bemerkung: CD im aufklappbaren Digipak inkl. Booklet mit Abdruck der Songtexte;

Titel:
"Wenn wir wüssten", "Tür auf, Tür zu", "Mehr", "Alles macht dann Sinn", "Was in aller Welt", "100 Jahre", "Ich muss gar nichts", "Anderer Tag", "Im Überall", "Zuhaus", "Im Überall (Live/Orchester Version)", "Mehr (Akustik Version)", "Zuhaus (Akustik Version)"


Rezension:


Am Rande der Perfektion
Kennst Du das auch? Du hörst ein Lied, und das hebt Dich auf Anhieb aus den Schuhen? Nicht nur die Melodie begeistert Dich, sondern auch die Songidee, das Arrangement, die kleinen Details, die gut durchdachte Dramaturgie und zu guter Letzt auch die Stimme des vortragenden Künstlers bzw. der Künstlerin? Das sind Glücksmomente, und davon bekommst Du auf dem mir vorliegenden Album "Mehr" von Charly Klauser nicht nur einen, sondern gleich (drei)zehn. Dass die Künstlerin obendrein auch noch ein Blickfang ist, soviel Übergriffigkeit sei mir an dieser Stelle erlaubt, ist nur noch eine weitere äußerst angenehme Begleiterscheinung.

Viele von Euch fragen sich jetzt bestimmt, "Charly … wer???", und da ist es an dieser Stelle meine Aufgabe, Wissenslücken zu schließen. Mir ging es bis vor wenigen Tagen nämlich genauso, bis mich mein Kumpel Mike mit der Nase auf dieses wunderbare Album stieß. Aufklärung tat da also auch bei mir not, und die möchte ich nun an dieser Stelle ebenfalls leisten, weil man so eine Stimme, so einen klugen Kopf, so ein Multitalent und so viel Kreativität unbedingt kennengelernt haben muss. Also, ich hab das ja schon, jetzt bist Du dran.

Die technischen Daten sind schnell angegeben: Charlotte "Charly" Klauser ist Baujahr 1990 und als Tochter einer aus Kasachstan stammenden Musiker-Familie in Bergisch Gladbach zur Welt gekommen. Der Liebe Gott hat sie nicht nur mit dem Talent gesegnet, wunderbare Musik und ebenso faszinierende Texte schreiben und mehr als nur ein Instrument spielen zu können (sie bekam Klavier- und Geigenunterricht und kann auch exzellent auf dem Schlagzeug, dem Bass und der Gitarre spielen), sondern auch ihre Stimme ist ein herausstechendes Merkmal. Die ist eben nicht "von der Stange" oder im Studio nachbearbeitet worden, damit zur hübschen Person auch der Rest passt … sie ist vielmehr ein Naturphänomen. Diese Talente blieben dem einen oder anderen bereits berühmten Musikerkollegen nicht verborgen, denn die Musikerin, Multiinstrumentalistin und Produzentin (das auch noch) war inzwischen schon als Background-Sängerin, Instrumentalistin und auch Songwriterin u.a. für und bei Peter Maffay, Sasha, Johannes Oerding, Tim Bendzko und Carolin Kebekus tätig. Für Maffay schrieb sie gar den Song "Für immer jung", der auf seinem 2019er Album "Jetzt!" zu finden ist. Nur am Rande sei erwähnt, dass die junge Frau aus NRW bis heute schon zahlreiche Preise verliehen bekommen hat, darunter den 1. Platz bei "Jugend musiziert", einen weiteren 1. Platz beim Kompositionswettbewerb, noch einen 1. Platz beim bundesweiten Wettbewerb "Jugend jazzt", sowie den WDR-Jazzpreis. Charly Klauser ist im Jazz- (Gruppe Cold Fusion) und Rock-Bereich (Gruppe The Black Sheep) ebenso zu Hause, wie im Pop, und begann 2017 eine Solokarriere als Singer/Songwriterin, die nun Fahrt aufnehmen soll. Nach ihrer EP "Complicated Life" ist im Frühsommer das Debüt-Album "Mehr" in den Handel gekommen, und das hat es in sich …

Das Album startet mit dem Song "Wenn wir wüssten" und das Lied selbst mit einer "Sprachmemo", die die Künsterlin wohl an dem Ort aufgenommen hat, an dem ihr die Idee zu dem Stück in den Sinn kam. Das "Demo" dient hier jetzt als Intro und geht dann nach wenigen Sekunden in das fertige Stück über, das mit einer auf der Akustikgitarre gespielten Einleitung und einer kleinen Gesangsimprovisation, die direkt unter die Haut geht, startet, um dann in einer von Schlagzeug getriebenen und mit E-Gitarre gewürzten Power-Ballade zu münden. Die Künstlerin ist in dem Text auf der Suche nach Antworten auf die Frage was wohl wäre, wenn man einmal in die Zukunft und auf das eigene gelebte Leben blicken könnte. Wie es wäre, wenn man jetzt schon wüsste, auf welchem Weg man richtig ist und auf welchem nicht. Ein Thema, welches schon viele Künstler so oder so ähnlich in ihren Liedern behandelt haben, aber für meinen Geschmack noch nie so philosophisch und dichterisch schön wie es Charly Klauser hier getan hat. Ein unglaublich toller Opener, der Dich als Hörer direkt erobert und gebannt auf das warten lässt, was nun noch folgt.
Vielleicht warst Du von dem Song "Mr. Rock & Roll" von Amy Macdonald vor ein paar Jahren ja auch so begeistert wie ich, dann wirst Du an "Tür auf, Tür zu" richtig viel Spaß haben. Die beiden Lieder haben nichts miteinander zu tun, aber eine deutliche Parallele in der Machart ist zu bemerken, und als wolle Charly Klauser dem Hit ihrer britischen Kollegin noch den letzten Schliff bis zur Perfektion verpassen, kommt diese Gute-Laune-Nummer aus den Boxen Deiner Anlage geschossen, überfällt und entführt Dich mit einer spielerischen Leichtigkeit, die man so heute nur noch selten erleben kann. Hier ist es einmal mehr die Stimme der Künstlerin, und wie sie sie einsetzt, die in Kombination mit der Musik und deren Darreichungsform bis tief unter die Haut geht und Dich dort trifft, wo sonst eigentlich nicht viel hin gelangt. Gänsehaut vom ersten bis zum letzten Ton auch im Hinblick auf den Inhalt. Charly ermutigt Dich, Entscheidungen zu treffen, dabei vielleicht auch mal eine Tür zu schließen damit sich eine andere öffnen kann, und das Leben offensiver anzugehen. Der vertonte Beipackzettel für einen "Life-Changer".
Einer fröhlichen Popmusik weitere Fragen über den Sinn des Lebens gegenüber gestellt hat Charly Klauser beim Song "Mehr". Sind das tägliche Einerlei, die regelmäßigen Abläufe im Alltag und das Einhalten von Verpflichtungen wirklich alles, was im Leben zählt? Charly will jedenfalls mehr und verkündet diesen Wunsch in einer radiotauglichen Nummer, die zwar dicht am Zeitgeist entlang segelt, aber doch gewaltige Unterschiede zu den mainstreamigen Pop-Nümmerchen bekannter deutscher Acts aufweist. Das Lied hat dieses besondere Etwas, das man nicht beschreiben kann und das einfach da ist, gleich, nachdem es gestartet ist.
Das wohl herausstechende Stück dieser Platte ist für meinen Geschmack "Was in aller Welt". Diese auf das Wesentliche reduzierte Klavierballade braucht keinen Schnickschnack, um auf sich aufmerksam zu machen. Dies tun die Stimme der Künstlerin und das hier zu einem Lied verarbeitete Thema. Was ist nur los in der Welt? Wem kann man in dem Chaos noch glauben, wem vertrauen? Erträgt man das Elend nur, indem man den Lautstärkeregler des Lebens im eigenen kleinen Universum einfach nach oben dreht? "Bin ich einmal wirklich leise, wird es unerträglich laut", singt sie da mit ihrem Blick auf die Krisen, Katastrophen und sich zum Nachteil für die Menschen drehende Veränderungen. Dies tut sie ohne Schuldzuweisungen oder besserwisserische Belehrungen in irgendeine Richtung. Dafür hat sie Greta Thunberg und Barack Obama als "Gäste" im Song dabei. Wieder ist man angefasst, wieder fühlt man dieses angenehme Prickeln auf der Haut, wenn diese oft so kraftvoll wirkende Stimme plötzlich kurz vor dem Zerbrechen leise und fast verzweifelt klingt. Das ist ganz große Kunst!
Wir sprachen ja bereits eingangs darüber, was Charly Klauser alles kann und in welchen Bereichen der Musik sie eine gute Figur macht. Und dies scheint sie auch alles auf diesem Album zeigen zu wollen, denn nach großen Pop- und Balladen-Eigenkreationen kommt mit "Ich muss gar nichts" eine trotzige Indie-Rocknummer aus dem obersten Regal der Songschreibekunst auf Dich zu. Drums, Gitarre, Bass - rau, kantig, ehrlich - dienen als Verpackung für die Erkenntnis, dass man nichts muss, nur weil man denkt, irgendwas tun zu müssen. Letztlich ist man im Großen und Ganzen gar nicht so wichtig ... Ein lauter Pfiff auf den Erwartungsdruck von innen und außen. Das rockt!
Kurz vor Ende des "regulären" Programms kommt dann die Nummer, die mich kurz zuvor im Radioprogramm meines Kollegen Michael so hart angefasst hat. "Im Überall" heißt das Lied, das gleich straff nach vorne geht. Die Hookline ist flott arrangiert, während die Strophen dann auf ruhige Landstraßen abbiegen. "Hast Du versucht es zu beschreiben, wie das Meer rauscht, und was es mit Dir macht", fragt sie an einer Stelle des Songs, "Hast Du mal versucht, die Strahlen der Sonne zu malen, wie sie dich wärmen, und was es mit Dir macht", direkt im Anschluss. "Ich will die Welt seh'n, wie sie wirklich ist", und das kann man eben nur, wenn man "ins Überall" fährt. Dafür hat sie den Tank aufgefüllt, weil sie ja nicht weiß, wie weit und lang die Reise dorthin sein wird, und dahin will sie Dich auch mitnehmen. Einer der faszinierendsten Popsongs der letzten Jahre, der mein Trommelfell beschallt und von dort aus mein Herz erreicht hat.
So richtig auf die Knie gegangen bin ich aber beim letzten Stück mit dem Namen "Zuhaus". Wie weiter oben in diesem Beitrag schon beschrieben, ist Charly in Bergisch Gladbach geboren, ihre Eltern kommen aber aus Kasachstan. Sie ist also die erste nachfolgende Generation der Familie in der neuen Heimat, und das ist der Schwerpunkt dieser anrührenden Songkreation. Eine sacht gespielte Akustik-Gitarre und ein Chor-Gesang leiten ein Stück ein, an dessen Ende Du die Künstlerin einfach nur tröstend in den Arm nehmen möchtest. Mit der eröffnenden Feststellung, "Im Paradies geboren, und doch heimatlos gelebt", kommt sie direkt zum Punkt und stellt kurz darauf die Frage, "Wo bin ich zuhaus?". Eine junge Frau, die sich ihrer Wurzeln bewusst ist, und in der zwei Herzen schlagen. "Ich bin immer auf der Flucht | Ich hab doch alles, was auch immer ich noch such'". Es muss kein schönes Gefühl sein, innerlich so zerrissen zu sein und das Gefühl der Heimatlosigkeit in sich zu tragen. Ein Lied, mit dem sich wohl jeder Mensch identifizieren kann, dessen Familiengeschichte an einem anderen Ort begann und dessen Eltern ganz woanders aus "Asche ein neues Haus" gebaut haben. Und auch ein Lied für all die, die manch krude Gedanken zum Thema Flüchtlinge im Kopf haben, und das dieses Gefühl im Idealfall etwas näher und einen Ansatz von Verständnis bringen könnte.
Nach diesen 10 Titeln hat die Wahl-Kölnerin ans Ende ihres Albums noch drei alternative Versionen zu kurz vorher bereits gehörten Liedern als Bonus dazu gestellt. Das ist zum Einen der Titel "Im Überall", den ich weiter oben bereits überschwänglich gefeiert habe. Hier kommt er in einer Orchester-Version, ganz analog mit klassischen Instrumenten wie Klavier und Streichern arrangiert. Diese Wahl des Instrumentariums zeigt Dir mehr als deutlich, welch Potential in dem Stück steckt, denn es funktioniert nicht nur im Pop, sondern - wie Du hier hören kannst - auch in der Klassik. Und höchstwahrscheinlich auch noch in anderen Spielarten.
Zum Anderen gibt es sowohl von "Mehr" als auch von "Zuhaus" noch je eine Akustik-Version. Auch bei diesen beiden Fassungen kannst Du die gleiche Beobachtung wie beim zuvor gehörten Orchester-Stück machen, denn auch diese Lieder funktionieren in einer anderen Farbe. Ein Qualitätsmerkmal, um das die "Newcomerin" sicher von einigen alten Hasen beneidet werden dürfte.
Ohne meinen Kumpel Mike, der mir schon vor ein paar Wochen mit mehr als leuchtenden Augen und völlig begeistert "Mehr" als sein persönliches "Album des Jahres 2022" präsentierte, wäre ich wohl nie auf diese CD gestoßen. "Das musst Du Dir unbedingt anhören!", fügte er seiner Reklame für das Album hinzu und die Neugier war stärker als der Gedanke, "Man, ich hab hier noch genug andere Scheiben liegen, die gehört werden wollen". Das war gut so … alles, so wie es gelaufen ist. Ich habe durch ihn eine Künstlerin entdeckt, die quasi fast alles im Alleingang eingetütet hat. Jeder Song stammt aus ihrer Feder, nur bei den Texten arbeitete sie mit anderen Leuten zusammen. Aber auch jeder Ton auf dieser CD ist von der jungen Frau selbst eingespielt, die Scheibe am Ende selbst produziert und die Aufnahmen schließlich selbst gemischt. Und das, mein lieber Freund, von einer Künstlerin, die gerade ihr Erstlingswerk fertig gestellt hat. Das ist nicht irgendwie hin gedengelt, sondern hat einen fantastischen Sound und eine beeindruckende Tiefe. Man müsste weitere Superlativen erfinden, um das hier gehörte sachgerecht zu beschreiben. Ich bin, seit ich mich für diese Kunstform interessiere, auf der Suche nach der perfekten Musik. Nach einer, die wirklich keine Wünsche offen lässt und Texten, die einfach nur genial sind. An der Grenze zur Perfektion, wie ich sie verstehe, waren schon ein paar Künstlerinnen und Künstler, aber Charly Klauser ist verdammt nochmal noch ein Stück näher dran. Ich weiß, Geschmäcker sind verschieden, jeder hört Musik anders, doch wer hier keine Wärme in sich aufsteigen fühlt, wer vor dieser Stimme nicht niederknien möchte und wer von dem Abwechslungsreichtum der Kompositionen nicht gegen seinen Willen total begeistert ist, hat entweder im Ohr oder kurz vor dem Zugang zum Herzen eine Blockade. Oder interessiert sich schlicht für andere Musik, was ja durchaus auch mal vorkommen kann. "Mehr" ist ein großartiges Werk, das sich unbedingt verbreiten muss. Und jetzt bist Du dran …
(Christian Reder)





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