Die Seilschaft: "Live in Berlin!" (Album/DVD)

seilschaftcddvdVÖ: 14.02.2020; Label: hTMV; Katalognummer: 0792603084524 (CD) und 0792603084500 (DVD); Musiker: Christian Haase (Gesang, Gitarre), Mario Ferraro (Gitarre), Andy Wieczorek (Saxophon, Gitarre, Gesang), Christoph Frenz (Bass), Michael Nass (Keyboards, Akkordeon), Tina Powileit (Schlagzeug); Bemerkung: Das Programm wurde beim Konzert im Berliner Kesselhaus am 16. November 2018 aufgenommen. CD im aufklappbaren Digipak mit Booklet, DVD in Plastikhülle und ebenfalls mit Booklet. Kein Abdruck der Songtexte;

Titel:
CD 1: "Soll sein", "Herzblatt", "Hier bin ich geboren", "Sehnsucht nach dem Rattenfänger", "Owehoweh", "Grüne Armee", "Linda", "Niemandsland", "Revolution Nr.10", "Spricht der Teufel", "Einsame Spitze", "Der Seiltänzer", "Vater"
CD 2: "Gras", "Vögelchen", "Macht ja nischt", "Und musst Du weinen", "Wenn ich wär", "Der Siebente Samurai", "Alle oder keiner", "Weisstunoch", "Schwarze Galeere", "Nach Haus", "Keine Zeit mehr", "Brunhilde"

DVD: Das Programm auf der DVD ist identisch mit dem der Doppel-CD


Rezension:
Zur Rezension vorgelegte Alben reisen meistens etwas umher mit mir. Sie begleiten mich über Tage und Wochen auf meinen Wegen. Manchmal unter Kopfhörern, beim Spazieren durch den Wald, auf dem Rad durch Feld und Flur. Manchmal auch hinterm Steuer des grünen Löwen (das ist meine nicht tiefergelegte Rostlaube). Löwe, mein armer Löwe, Du musstest Dir schon so manchen hanebüchenen Auswurf anhören! Du teiltest auch betreten schweigsame Momente voll ratlosen Kopfschüttelns mit mir, wenn wir beide nicht wussten, was um Himmels Willen den oder die Schöpfer des Werks ritt, jene verquaste Schlammschlurke an ausgerechnet unser Ohr zu dengeln. Aber sei ehrlich, hin und wieder schnurrten wir auch verzückt über Berg und Tal, die eingelegte Scheibe bis zur Erschöpfung mit brüllend, mich in Textzeilen verfangend, sie vorm inneren Kopfkino durchlebend und – Hoppla, ein Keiler in der Kurve! – tief dankbar lächelnd, dass jemandem diese Gedanken in den Sinn kamen und er sie zum Nach-Denken für uns verewigt hat.

Gerhard Gundermann, Du viel zu früh verstummter Rockpoet und Weiser, vor dessen gedanklicher Reichweite so mancher achzigjährige Greis neidvoll den Hut zu ziehen hat! Welche unglaubliche Kraft, welche zeitlose Gültigkeit diesen, deinen Songs innewohnt! Man könnte nun der Reihe nach jeden einzelnen Titel des Doppel-Albums „Die Seilschaft – Live in Berlin“ sich hernehmen, könnte seinen Text zerpflücken, seinen Weit- und Tiefgang würdigen und die teils prophetische Gabe des singenden Baggerfahrers aus dem Revier preisen. Man könnte. 24 Interpretationen und allermeistens wären es Lobpreisungen. Darüber liefe man aber allzu schnell Gefahr, etwas wesentliches zu vernachlässigen. Das Wesentliche am vorliegenden Doppel-Album - auch als DVD erhältlich - ist neben Gundermanns genialischer Vorlage vor allem, dass es da eine verschworene Mannschaft um ihn gegeben hat, die ihm den hochkarätigen Pass zu spielen in der Lage war. Und dass es diese Seilschaft noch immer ist, die Gerhard Gundermanns unsterblichem Geist Gehör verschafft und seine Pointen und Metaphern, seine Sinn-Gemälde und Analogien als Rundes sicher ins Eckige versenkt!

Zwanzig Jahre nach Gundermanns unvorhersehbarem Abgang fand sich also seine Band wiedereinmal zusammen und rockte das Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Und wie es rockte dort, in bester Art und Weise! Ist es der Wein im Glas, dass ich plötzlich nicht so genau zu erkennen vermag, warum mir Wasser in die Augen steigt? Sind es die Texte, in die ich ständig zu tauchen gezwungen werde (zu meinem Glück!) oder ist es die Gewissheit, diese Gelegenheit einfach mal verpasst zu haben, diese Band in echt, in real zu erleben? Was es auch ist, es ist mir – und das allein scheint mir wichtig – nicht egal! Nur was einen nicht kalt lässt, erreicht einen. Der Gründe mag es einige geben, ich zähle im Folgenden mal ein paar zusammen. Oder doch alle? Alle oder keiner? Hihi

Ich mache es vor allem diesmal anders herum als gemeinhin üblich. Ich würdige zunächst die technische Produktion des Albums. Denn was nutzt das bestens gespielte Konzert, wenn die Bassdrum in jedes Gesangsmikro plotzt und die Bühnenmonitore wiederum rückkoppeln in die Overheads der Drums? Oder wenn das Publikum des Abends sich nicht wiederfinden lässt im Sound, was sollte das für ein Live-Mitschnitt sein? Und deshalb ist die (un)hörbar gut geölte Kette Ernesti-Lehman-Ferraro-Nass zu würdigen. Vom offenkundig gelungenen Live-Mix vom FOH, über die kompetente Aufnahme sämtlicher Spuren bis hin zur bemerkenswert guten Mischung der fertigen CD gibt es scheinbar kein schwaches Glied. Mario Ferraro und Michael Nass kann man gedanklich über die Schulter schauen, wie sie das Konzert in beinahe sekündlichen Abschnitten durch die Fader des Pultes jagen, immer wieder gewichtend, was nun gerade essentiell und was entbehrlich ist für die weitere Ewigkeit respektive das Erlebnis des Hörers.

Auch das Publikum mit seinen Reaktionen und Rufen wurde – quasi als siebtes Instrument der Band – mit Bedacht dort eingeblendet, wo es angebracht ist. Klar, wer selbst als Gitarrist bzw. als Herr sämtlicher Tasten mit auf der Bühne steht, der weiß genau, wo zu jedem Augenblick der Fokus liegen sollte und welche Passage wie zu klingen hat, so, dass am Ende keiner weinen muss! Bravo, die Herren! Es gibt nur sehr wenige Live-Alben in meinem Giftschrank, die ich genussvoll und oft hören mag. Darunter Konzerte von Sting, Mark Knopfler und seinen Dire Straits, Pat Metheny und ein paar weniger bekannten Künstlern. Seit neuestem steht dort auch Gundermanns Seilschaft.

Werfen wir nun einen Blick auf die aktiven Protagonisten des Abends. Wer unbedarft und nur allgemeingebildet sich Gundermanns Liedern nähert, wissend, dass es natürlich „nur“ ein vertretender Interpret sein kann, der da singt, staunt schon während der ersten Takte. Christian Haase gelingt ein gemeinhin schwieriger Spagat zwischen Original-Timbre und seinem persönlich-eigenen Klang. Er ist schon längst selbst zum Original geworden während einer über 25-jährigen Bühnenlaufbahn. Hier und da scheint mir, als richtete er großes Augenmerk auf die typischen Silben-Verschleifer des Gerhard G.. Aber das gefällt mir durchaus, mich macht Christian Haase nach kurzen Augenblicken jedenfalls vergessen, dass da ein anderer als Gerhard Gundermann singt. Chapeau!
Sollte mir nochmal wer begegnen, der allen ernstes von sich gibt, es bräuchte dicke Eier zum groovigen Schlagzeugspiel, denjenigen kickte ich gern per Pedaltritt direkt in Tina Powileits Jolle. Eine heftige Patenthalse in Gestalt des sich rasch nähernden Baumes soll denjenigen auf immer von solchem oder ähnlichem Vorurteil gegenüber weiblicher Musikantenschaft befreien! Frau Powileit langt, begleitet von ihrem unmittelbaren Spielpartner, Bassist Christoph Frenz, mächtig rein ins Set, zieht gerade Linie, spielt aber auch wunderbar weich und offen, wo es einzelne Passagen erfordern und gestatten. Überhaupt, genau diese gelegentlichen Instrumentalabschnitte sind das köstliche Salz in der Gundermannschen Suppe. Abgesprochenes und Improvisiertes verschwimmen gekonnt miteinander. Weltmusikalisch gefärbte Anklänge weiten das oftmals doch recht definierte Korsett des gemeinen Rocksongs, bringen immer wieder Farben und wohlige Sehnsucht in den Kopf. Wer improvisiert und wann er vom Bandkollegen wieder eingefangen wird zum gemeinsamen Unisono, das darf und soll sich der Hörer selbst erschließen.
Es ist eine musikalische Freude und sicher auch dann und wann Gelegenheit, sich die Augen vom herztreffenden Text zuvor zu wischen, perlt hier ein lockeres Piano-Solo des Herrn Nass oder singt da das Sopran von Andreas Wieczorek. Sein Saxophon-Sound erinnert mich bisweilen halb an Jan Garbarek und halb an Jay Beckenstein (Spyro Gyra). Im nächsten Moment katapultiert mich Wieczoreks Tin Whistle nach Nordwest, irgendwo auf die britischen Inseln, Schottland, Irland? Egal, immerhin raus aus der Lausitz, aber nur für einen Moment, denn Gerhards Texte lassen keinen Zweifel daran, wo er sich verortete. Im Laufe des Konzerts scheinen mir große Geister auf eine Kurzvisite vorbeizuschauen. Da ist natürlich Tamara Danz, ganz klar! Und wie tröstlich, dass sich die beiden zu Lebzeiten begegneten! Aber auch Rio Reiser schaut mal eben zu, wenn Mario Ferraro sein „Niemandsland“ intoniert. Das Trio aus ihm, Michael Nass und Andreas Wieczorek versteht mit gekonnter Wahl der jeweiligen Instrumente/Sounds eine wohltuende Klangvielfalt über das mit zwei Stunden Spielzeit doch beachtlich ausgiebige Konzert zu spannen. Wir reisen binnen Sekunden von Nordamerika nach Irland, stehen zugleich mit einem Bein in Russland oder den Karpaten und finden uns doch stets auf einer Bank hinterm Haus in Gerhard Gundermanns Revier wieder. Schön!

Die Seilschaft bietet auf diesem Live-Album ein rundum gelungenes Konzerterlebnis, man kann tanzen und mitgrölen, man weint womöglich hier und da. Nur; gleichgültig zu sein dürfte vielen Musikhörenden zu recht schwer fallen. Dieser 120 Minuten-Vortrag ist vieles, er ist energetisch, bissig, rockig, ironisch, balladesk, flappsig, bildschön – Hoppla, war das ein Blitzer? - aber eines ist das Album keine einzige Minute: langweilig und dumm!
(Robert Brenner)





Videoclip: