Panta Rhei: "Hier wie nebenan" (Doppel-Album)
VÖ: 26.06.2020; Label:Sechzehnzehn; Katalognummer: BF 06982; Musiker: Veronika Fischer (Gesang), Herbert Dreilich (Gesang, Gitarre), Ulrich „Ed“ Swillms (Keyboard, Orgel), Henning Protzmann (Bassgitarre, Kontrabass), Frank Hille (Schlagzeug), Joachim Schmauch (Saxofon, Flöte), Rudolf Ulbricht (Saxofon, Flöte), Ralph Stolle (Posaune), Bernd Richter (Trompete), Lothar Kehr (Saxofon), Johannes Lemke (Schlagzeug), Konrad Körner (Saxofon, Flöte); Bemerkung: 2 CDs im Jewel-Case (Plastikbox) inkl. Booklet mit Vorwort von Walter Cikan;
Titel: CD 1: Alles fließt • Blues für John Henry • Free Angela • Tuyet • Aus und vorbei • Gib dir selber eine Chance • Amygelius • Prometheus • Shigy • Schatten • Hört • Über mich • Der Losverkäufer • Nachts • Stunden (Panta Rhei II feat. Ben Mayson, Bonustrack) CD 2: Hier wie nebenan • Blues • Zwischen Gestern und Morgen • Kinder dieser Welt • Nacht und Tag • Stunden • Schlangenhaut • Leben • Lasst mich gehen • Chile im Zorn • Lied vom Ludwig • Hundertachtzig Tage • Meine Liebe • Finis • Play With Fire (Bonustrack) |
Rezension:
Eine Bandgeschichte in 30 Liedern
Vor mir liegt sie nun und dreht sich ruhelos im CD-Player, die große PANTA RHEI-Anthologie. Obwohl der Band nur ein recht kurzes Leben beschieden war, erschienen in den ca. 45 Jahren, die nun seit ihrer Auflösung vergangen sind, zahlreiche Kompilationen, Neu-Auflagen und Best-Ofs. PANTA RHEI-Fans, die alles haben wollten, mussten sich das Werk der Band also mittels zahlreicher Veröffentlichungen mühevoll zusammensuchen. Damit ist nun Schluss, denn die von "sechzehnzehn" herausgegebene Anthologie "Hier wie nebenan" hat den Anspruch, die ganze Bandgeschichte in 30 Liedern darzustellen! In einem klassischen Jewelcase kommen die beiden Silberlinge daher. Ein freundliches, den Geist der späten 60er- und frühen 70er-Jahre atmendes Artwork und ein sehr interessanter Begleittext von PANTA RHEI-Mentor Walter Cikan bereichern die Veröffentlichung.
Auf "Hier wie nebenan" ist wirklich Beeindruckendes versammelt. Natürlich finden sich alle Songs des 1973er Albums wieder. Zudem wurden jene Titel zusammengefasst, die bislang munter auf diversen Best-Of-CDs und Kompilationen verteilt waren. Auch die 2018 von Black Pearl Records erstmals (nur auf Vinyl) veröffentlichten Songs gibt es nun endlich offiziell auf CD. Wirklich sensationell aber sind "Free Angela", "Lasst mich gehen" und "Meine Liebe", die hier zum ersten Mal überhaupt auf einem Tonträger erschienen sind. Insgesamt ein fast vollständiger Überblick über das Studiowirken von PANTA RHEI. Meines Wissens fehlen nur noch das fabelhafte Otis-Redding-Cover "Dock Of The Bay" sowie die Sachen, die die Band für die Filme "Den Wolken ein Stück näher" (1973) und "Suse, liebe Suse" (1974) aufgenommen hat (dazu zählen z.B. eine peppige Instrumentalversion des "Blues" und ein namenloser Instrumentaltitel, der später zu dem frühen Karat-Song "Schwester" werden sollte).
Musik mit Legendenstatus
Eigentlich ist es fast müßig noch über die Musik von PANTA RHEI zu schreiben, denn vieles wurde schon geschrieben, rezensiert und von den Fans diskutiert. Eins ist klar: diese Band und ihre Musik sind legendär. Dennoch möchte ich auf einige Höreindrücke nicht verzichten.
Los geht's mit "Alles fließt", einem der groovigsten Stücke der Amiga-Geschichte, der schon das Album von 1973 eröffnete. Es folgt das Instrumentalstück "Blues für John Henry", das Ed Swillms lässig und extrem fingerfertig auf dem Piano einleitet. Das Saxofon übernimmt in diesem sehr entspannten Stück die Hauptmelodie. Mit "Free Angela" folgt ein absolutes Highlight. Allein die Gitarreneinleitung mit den harten Gitarrenschlägen lässt schon einen ganz besonderen Song erahnen. Herbert Dreilichs noch sehr rau klingende Stimme treibt den deutsch-englischen Gesang über einen extrem eingängigen Groove voran. Zum Ende hin wird der Song regelrecht soulig und Dreilichs Gesang nimmt crescendo-artig an Expressivität zu. Wow! Es folgt das politisch engagierte Lied "Tuyet", das mit der traurigen Geschichte eines getöteten Mädchens auf den Vietnamkrieg und seine schrecklichen Folgen für die Bevölkerung aufmerksam machen sollte.
"Aus und vorbei" erzählt von einer unglücklichen Liebe; die weich dahinfließende Musik klingt sehr verträumt und sanfte Flötenmelodien umrahmen Herbert Dreilichs Gesang. Ganz anders kommt das fast 9-minütige "Gib dir selber eine Chance" daher. Dreilich singt hier gleichsam mahnend und auffordernd zu sehr experimenteller, progressiver Musik die große Spannungsbögen beschreibt. Der ausgedehnte Instrumentaltitel "Amygelius" ist von ähnlichem Format wie "Blues für John Henry". Auch hier dominiert das Saxofon. Mit "Prometheus" gibt Veronika Fischer ihren beeindruckenden Einstand, zumindest auf dieser Anthologie.
Groovige Pianoklänge eröffnen "Shigu". Dazu gibt es sehr interessanten Silbengesang (so genanntes "scat singing") von Vroni Fischer. Ziemlich eingängig ist "Schatten", komponiert übrigens von Ulrich Pexa, der später für einige Zeit die Leadgitarre bei KARAT spielte. Mit einer straighten Cowbell beginnt "Hört", ein Duett von Veronika Fischer und Herbert Dreilich. Insgesamt eine geradlinige, groovige Nummer mit experimentellen Mittelteil und einem ungezügelten Orgelsolo von Swillms. Sehr ruhig kommt das selbstreflektierende "Über mich" daher, bevor es mit dem "Losverkäufer" wieder grooviger wird. Der "offizielle" Teil der ersten CD endet mit einem der wohl größten PANTA RHEI-Hits: "Nachts". Dieser Song wird von Veronika Fischer einfach wunderbar gesungen und endet mit tollen Klavierkaskaden von Ulrich Swillms.
Als Bonustitel gibt es eine Neuversion von "Stunden", die Henning Protzmann mit seinen Kollegen von "Henning Protzmanns PANTA RHEI" (manchmal auch "PANTA RHEI II" genannt) 2019 aufgenommen hat. Das Arrangement lehnt sich stark an das Original an, klingt aber etwas frischer und luftiger. Toll der Gesang von Ben Mayson! Eigentlich bin ich kein Freund von Neuaufnahmen alter Hits, aber hier muss ich sagen, dass es absolut gelungen ist. Eine ganze CD von Protzmanns Mannen wäre wirklich mal wünschenswert.
Mit dem eingängigen Gitarrenriff von "Hier wie nebenan" startet CD 2, sicherlich einer der bekanntesten Songs der Band. Der gemächlich hinfließende "Blues" mit einem sehr cool gespielten Piano und einer großartigen Gesangsdarbietung von Veronika Fischer erzählt wieder eine traurige Liebesgeschichte. An JETHRO TULL erinnert die Jazzflöte in der Einleitung zu "Zwischen gestern und morgen". Dieser Titel erhält besondere Ausdruckskraft durch die immer wieder hintereinander einsetzenden Instrumente Jazzflöte, Wah-Wah-Gitarre, Bass und Schlagzeug. Insbesondere die mächtige Bassfigur macht hier wahnsinnigen Druck! Experimentell ist der beinahe acht Minuten lange Song "Kinder dieser Welt". Besonders beeindruckend sind hier die superschnellen Bassläufe von Henning Protzmann, auf die man beim Hören unbedingt einmal genauer achten sollte. Romantisch wird es mit "Nacht und Tag". Dieser Titel erinnert mich in Komposition und Text schon ein wenig an die Musik, die KARAT später machen sollte. Es folgt "Stunden", diesmal in der Originalversion. Einfach ein total grooviges Stück, bei dem man das Ticken der Uhr förmlich spürt.
Im Instrumental "Schlangenhaut" dominieren die Flöten und man kann regelrecht nachhören, wie sich eine Schlange aus ihrer alten Haut pellt. Einen typischen PANTA RHEI-Groove bringt "Leben". Ein toller Titel, der nicht nur als Bekenntnis zum Leben selbst, sondern auch als Aufruf zu Mut und Courage verstanden werden kann. "Lasst mich gehen" ist einer der Titel, die hiermit erstmals auf einem Tonträger erschienen sind. Wer den Gesang "Geh nicht allein, sondern reih dich ein" rückwärts abspielt, wird sich an die "Gefährten des Sturmwinds" von KARAT erinnert fühlen. Tatsächlich ist "Lasst mich gehen" der Ursprung der markanten, irgendwie afrikanisch anmutenden Gesangspassage dieses bekannten KARAT-Titels. Noch mehr: im instrumentalen Mittelteil ist eine rhythmische Bassfigur zu hören, die sehr an jene, den Orchesterpart einleitende Bassfigur im "Albatros" (KARAT) erinnert.
Politisch wird es mit "Chile im Zorn", das den Militärputsch in Chile 1973 und dessen Folgen für die chilenische Bevölkerung thematisiert. Für PANTA RHEI-Verhältnisse überraschend einfach strukturiert und liedhaft ist das "Lied vom Ludwig". Dieser Titel passt irgendwie mehr zu der ganz frühen Musik von KARAT. "Hundertachtzig Tage" ist wieder ein sehr eingängiger Song, dessen Rhythmus gleich ins Blut geht. Mit "Meine Liebe" kommt ein Lied, von dem ich bisher immer dachte, dass er zu den Solo-Sachen gehört, die Herbert Mitte der 70er Jahre gemacht hat (u.a. Kinderlieder wie "Marie"). Offenbar ist es aber ein PANTA RHEI-Song! Die Musik ist eher ruhig und schlicht. Der Text stammt von dem berühmten Dichter Heinz Kahlau, der eng mit Dreilich befreundet war.
"Finis" ist wahrscheinlich der Song, der am meisten Laune macht. Hier fühlt man sich, als wäre man auf einer Riesenfete. Als Bonustrack gibt es dann noch "Play with fire" obendrauf. Dieser Song von den Rolling Stones wurde von Herbert Dreilich so umgearbeitet, dass etwas ganz Eigenes entstanden ist. Herberts Version empfinde ich als um einiges expressiver und experimenteller als das schon sehr gute Original. Huch? Schon zu Ende? Am besten gleich wieder CD 1 einlegen und von vorne starten!
Kleine Soundanalyse
Die Aufnahmen aus den frühen 70er Jahren kann man heute schon fast als historisch bezeichnen und insgesamt tönen die beiden CDs im Großen und Ganzen nicht schlecht. Nichtsdestoweniger meine ich, dass man klangtechnisch noch mehr hätte herausholen können. Hierbei spielen drei Aspekte eine Rolle: die Wahl der Quellen, die Herangehensweise beim Audio-Cleaning und das Mastering.
Bezüglich des Masterings muss an dieser Stelle ein Stichwort fallen: der "Loudness-War". Das ist die nun schon jahrelang bestehende Unart, CDs so laut wie möglich zu machen, um sich von Konkurrenzprodukten abzuheben. Laute Aufnahmen sollen vermeintlich besser klingen bzw. mehr Aufmerksamkeit generieren, in Wirklichkeit werden sie aber jeglicher Dynamik beraubt. Im schlimmsten Fall kann das sogar zu Verzerrungen führen. Einige Songs (etwa "Alles fließt") wurden auch auf dieser Veröffentlichung so laut gefahren, das der dynamische Umfang komplett wegrationalisiert wurde. Wer noch die originale "Amiga Masters"-CD aus dem Jahr 1993 besitzt, kann gerne mal vergleichen. Im Direktvergleich mit der neuen Kompilation ist die alte CD eine echte Wohltat für die Ohren.
Was die Wahl des Quellmaterials angeht, habe ich mich ehrlich gesagt ein wenig gewundert. Fast alle Titel, die 2018 erstmals auf dem Vinyl-Album "Leben" von Black Pearl Records erschienen sind ("Hört", "Shigu", "Schlangenhaut", "Leben", "Chile im Zorn" , "Amygelius"), scheinen mir von eben dieser Schallplatte digitalisiert worden zu sein. Bei allen genannten Aufnahmen sind hier und da die typischen LP-Nebengeräusche zu hören (am deutlichsten am Anfang von "Hört", da gibt's ein schönes Knistern). Nimmt man das Quellmaterial von Vinyl, so ist das mit einigen Schwierigkeiten verbunden, da man das so entstandene Digitalisat noch "reinigen", also von Nebengeräuschen befreien muss. Das wiederum kann die Klangqualität beeinflussen (dazu später noch mehr). Die besagten Aufnahmen müssten allerdings zumindest bei Black Pearl Records in digitaler (und klanglich sauberer) Form vorliegen; ansonsten natürlich auch im Rundfunkarchiv, wo die Aufnahmen noch auf Bändern ruhen. Warum hat man für diese Veröffentlichung bei diesen beiden Institutionen nicht mal nachgefragt? Auch der Titel "Schatten" scheint übrigens von der LP überspielt worden zu sein, obwohl es schon eine sehr schöne, deutlich klarere Digitalversion auf der 2008er CD "Das Beste" gab. Die erstmals überhaupt auf Tonträger veröffentlichten Titel "Free Angela", "Meine Liebe" und "Lasst mich gehen" müssten dagegen direkt den Originalbändern des Rundfunkarchivs entsprungen sein und klingen fabelhaft.
Alte Aufnahmen werden in der Regel klanglich aufbereitet, gereinigt, von Störgeräuschen befreit. Aufnahmen, die von Tonbändern kommen enthalten oft ein gewisses Grundrauschen. Aufnahmen, die von Vinyl digitalisiert werden, können neben Rauschen auch Knistern, Rumpeln, "Clicks" und "Pops" enthalten. Mit moderner Audiobearbeitungssoftware kann man heute wahre Wunder bewirken, aber man kann es auch übertreiben. Und das ist hier bei einigen Songs leider auch passiert. Es ist äußerst schwierig die richtige Balance beim Audio-Cleaning zu finden. Entfernt man ein Rauschen zu stark, so werden auch Frequenzen, die eigentlich zur Musik gehören, abgeschnitten. Wer genau hinhört, wird das Schlagzeug, das den Titel "Nacht und Tag" einleitet, als erstaunlich trocken wahrnehmen. Grund: zu stark gefiltert. Auch das wunderbare Gitarren-Intro von Herbert Dreilich bei "Nachts" klingt auf dieser Anthologie sehr merkwürdig; in etwa so wie bei einer schlechten MP3-Datei. Auch hier wurde massiv gefiltert. Wer die 2008er CD "Das Beste" besitzt, kann "Nachts" ja mal vergleich. Hier ist zwar das Grundrauschen zwar deutlich hörbar, dafür klingt die Musik aber viel natürlicher. Auch bei anderen Songs der neuen Kompilation sind Filterartefakte hörbar; so klingen hier und da vor allem die Becken der Drums dünn und mp3-mäßig. Letztlich ist das natürlich Kritik auf hohem Niveau und natürlich verdienen "sechzehnzehn" und alle anderen Beteiligten für diese schöne Kompilation absolutes Lob! Als Fazit bleibt es schon ob des Umfangs und des musikalischen Inhalts bei einer uneingeschränkten Empfehlung für "Hier wie nebenan". PANTA RHEI-Fans und solche, die es noch werden wollen, können bedenkenlos zugreifen.
(Patrick Baumbach)
Eine Bandgeschichte in 30 Liedern
Vor mir liegt sie nun und dreht sich ruhelos im CD-Player, die große PANTA RHEI-Anthologie. Obwohl der Band nur ein recht kurzes Leben beschieden war, erschienen in den ca. 45 Jahren, die nun seit ihrer Auflösung vergangen sind, zahlreiche Kompilationen, Neu-Auflagen und Best-Ofs. PANTA RHEI-Fans, die alles haben wollten, mussten sich das Werk der Band also mittels zahlreicher Veröffentlichungen mühevoll zusammensuchen. Damit ist nun Schluss, denn die von "sechzehnzehn" herausgegebene Anthologie "Hier wie nebenan" hat den Anspruch, die ganze Bandgeschichte in 30 Liedern darzustellen! In einem klassischen Jewelcase kommen die beiden Silberlinge daher. Ein freundliches, den Geist der späten 60er- und frühen 70er-Jahre atmendes Artwork und ein sehr interessanter Begleittext von PANTA RHEI-Mentor Walter Cikan bereichern die Veröffentlichung.
Auf "Hier wie nebenan" ist wirklich Beeindruckendes versammelt. Natürlich finden sich alle Songs des 1973er Albums wieder. Zudem wurden jene Titel zusammengefasst, die bislang munter auf diversen Best-Of-CDs und Kompilationen verteilt waren. Auch die 2018 von Black Pearl Records erstmals (nur auf Vinyl) veröffentlichten Songs gibt es nun endlich offiziell auf CD. Wirklich sensationell aber sind "Free Angela", "Lasst mich gehen" und "Meine Liebe", die hier zum ersten Mal überhaupt auf einem Tonträger erschienen sind. Insgesamt ein fast vollständiger Überblick über das Studiowirken von PANTA RHEI. Meines Wissens fehlen nur noch das fabelhafte Otis-Redding-Cover "Dock Of The Bay" sowie die Sachen, die die Band für die Filme "Den Wolken ein Stück näher" (1973) und "Suse, liebe Suse" (1974) aufgenommen hat (dazu zählen z.B. eine peppige Instrumentalversion des "Blues" und ein namenloser Instrumentaltitel, der später zu dem frühen Karat-Song "Schwester" werden sollte).
Musik mit Legendenstatus
Eigentlich ist es fast müßig noch über die Musik von PANTA RHEI zu schreiben, denn vieles wurde schon geschrieben, rezensiert und von den Fans diskutiert. Eins ist klar: diese Band und ihre Musik sind legendär. Dennoch möchte ich auf einige Höreindrücke nicht verzichten.
Los geht's mit "Alles fließt", einem der groovigsten Stücke der Amiga-Geschichte, der schon das Album von 1973 eröffnete. Es folgt das Instrumentalstück "Blues für John Henry", das Ed Swillms lässig und extrem fingerfertig auf dem Piano einleitet. Das Saxofon übernimmt in diesem sehr entspannten Stück die Hauptmelodie. Mit "Free Angela" folgt ein absolutes Highlight. Allein die Gitarreneinleitung mit den harten Gitarrenschlägen lässt schon einen ganz besonderen Song erahnen. Herbert Dreilichs noch sehr rau klingende Stimme treibt den deutsch-englischen Gesang über einen extrem eingängigen Groove voran. Zum Ende hin wird der Song regelrecht soulig und Dreilichs Gesang nimmt crescendo-artig an Expressivität zu. Wow! Es folgt das politisch engagierte Lied "Tuyet", das mit der traurigen Geschichte eines getöteten Mädchens auf den Vietnamkrieg und seine schrecklichen Folgen für die Bevölkerung aufmerksam machen sollte.
"Aus und vorbei" erzählt von einer unglücklichen Liebe; die weich dahinfließende Musik klingt sehr verträumt und sanfte Flötenmelodien umrahmen Herbert Dreilichs Gesang. Ganz anders kommt das fast 9-minütige "Gib dir selber eine Chance" daher. Dreilich singt hier gleichsam mahnend und auffordernd zu sehr experimenteller, progressiver Musik die große Spannungsbögen beschreibt. Der ausgedehnte Instrumentaltitel "Amygelius" ist von ähnlichem Format wie "Blues für John Henry". Auch hier dominiert das Saxofon. Mit "Prometheus" gibt Veronika Fischer ihren beeindruckenden Einstand, zumindest auf dieser Anthologie.
Groovige Pianoklänge eröffnen "Shigu". Dazu gibt es sehr interessanten Silbengesang (so genanntes "scat singing") von Vroni Fischer. Ziemlich eingängig ist "Schatten", komponiert übrigens von Ulrich Pexa, der später für einige Zeit die Leadgitarre bei KARAT spielte. Mit einer straighten Cowbell beginnt "Hört", ein Duett von Veronika Fischer und Herbert Dreilich. Insgesamt eine geradlinige, groovige Nummer mit experimentellen Mittelteil und einem ungezügelten Orgelsolo von Swillms. Sehr ruhig kommt das selbstreflektierende "Über mich" daher, bevor es mit dem "Losverkäufer" wieder grooviger wird. Der "offizielle" Teil der ersten CD endet mit einem der wohl größten PANTA RHEI-Hits: "Nachts". Dieser Song wird von Veronika Fischer einfach wunderbar gesungen und endet mit tollen Klavierkaskaden von Ulrich Swillms.
Als Bonustitel gibt es eine Neuversion von "Stunden", die Henning Protzmann mit seinen Kollegen von "Henning Protzmanns PANTA RHEI" (manchmal auch "PANTA RHEI II" genannt) 2019 aufgenommen hat. Das Arrangement lehnt sich stark an das Original an, klingt aber etwas frischer und luftiger. Toll der Gesang von Ben Mayson! Eigentlich bin ich kein Freund von Neuaufnahmen alter Hits, aber hier muss ich sagen, dass es absolut gelungen ist. Eine ganze CD von Protzmanns Mannen wäre wirklich mal wünschenswert.
Mit dem eingängigen Gitarrenriff von "Hier wie nebenan" startet CD 2, sicherlich einer der bekanntesten Songs der Band. Der gemächlich hinfließende "Blues" mit einem sehr cool gespielten Piano und einer großartigen Gesangsdarbietung von Veronika Fischer erzählt wieder eine traurige Liebesgeschichte. An JETHRO TULL erinnert die Jazzflöte in der Einleitung zu "Zwischen gestern und morgen". Dieser Titel erhält besondere Ausdruckskraft durch die immer wieder hintereinander einsetzenden Instrumente Jazzflöte, Wah-Wah-Gitarre, Bass und Schlagzeug. Insbesondere die mächtige Bassfigur macht hier wahnsinnigen Druck! Experimentell ist der beinahe acht Minuten lange Song "Kinder dieser Welt". Besonders beeindruckend sind hier die superschnellen Bassläufe von Henning Protzmann, auf die man beim Hören unbedingt einmal genauer achten sollte. Romantisch wird es mit "Nacht und Tag". Dieser Titel erinnert mich in Komposition und Text schon ein wenig an die Musik, die KARAT später machen sollte. Es folgt "Stunden", diesmal in der Originalversion. Einfach ein total grooviges Stück, bei dem man das Ticken der Uhr förmlich spürt.
Im Instrumental "Schlangenhaut" dominieren die Flöten und man kann regelrecht nachhören, wie sich eine Schlange aus ihrer alten Haut pellt. Einen typischen PANTA RHEI-Groove bringt "Leben". Ein toller Titel, der nicht nur als Bekenntnis zum Leben selbst, sondern auch als Aufruf zu Mut und Courage verstanden werden kann. "Lasst mich gehen" ist einer der Titel, die hiermit erstmals auf einem Tonträger erschienen sind. Wer den Gesang "Geh nicht allein, sondern reih dich ein" rückwärts abspielt, wird sich an die "Gefährten des Sturmwinds" von KARAT erinnert fühlen. Tatsächlich ist "Lasst mich gehen" der Ursprung der markanten, irgendwie afrikanisch anmutenden Gesangspassage dieses bekannten KARAT-Titels. Noch mehr: im instrumentalen Mittelteil ist eine rhythmische Bassfigur zu hören, die sehr an jene, den Orchesterpart einleitende Bassfigur im "Albatros" (KARAT) erinnert.
Politisch wird es mit "Chile im Zorn", das den Militärputsch in Chile 1973 und dessen Folgen für die chilenische Bevölkerung thematisiert. Für PANTA RHEI-Verhältnisse überraschend einfach strukturiert und liedhaft ist das "Lied vom Ludwig". Dieser Titel passt irgendwie mehr zu der ganz frühen Musik von KARAT. "Hundertachtzig Tage" ist wieder ein sehr eingängiger Song, dessen Rhythmus gleich ins Blut geht. Mit "Meine Liebe" kommt ein Lied, von dem ich bisher immer dachte, dass er zu den Solo-Sachen gehört, die Herbert Mitte der 70er Jahre gemacht hat (u.a. Kinderlieder wie "Marie"). Offenbar ist es aber ein PANTA RHEI-Song! Die Musik ist eher ruhig und schlicht. Der Text stammt von dem berühmten Dichter Heinz Kahlau, der eng mit Dreilich befreundet war.
"Finis" ist wahrscheinlich der Song, der am meisten Laune macht. Hier fühlt man sich, als wäre man auf einer Riesenfete. Als Bonustrack gibt es dann noch "Play with fire" obendrauf. Dieser Song von den Rolling Stones wurde von Herbert Dreilich so umgearbeitet, dass etwas ganz Eigenes entstanden ist. Herberts Version empfinde ich als um einiges expressiver und experimenteller als das schon sehr gute Original. Huch? Schon zu Ende? Am besten gleich wieder CD 1 einlegen und von vorne starten!
Kleine Soundanalyse
Die Aufnahmen aus den frühen 70er Jahren kann man heute schon fast als historisch bezeichnen und insgesamt tönen die beiden CDs im Großen und Ganzen nicht schlecht. Nichtsdestoweniger meine ich, dass man klangtechnisch noch mehr hätte herausholen können. Hierbei spielen drei Aspekte eine Rolle: die Wahl der Quellen, die Herangehensweise beim Audio-Cleaning und das Mastering.
Bezüglich des Masterings muss an dieser Stelle ein Stichwort fallen: der "Loudness-War". Das ist die nun schon jahrelang bestehende Unart, CDs so laut wie möglich zu machen, um sich von Konkurrenzprodukten abzuheben. Laute Aufnahmen sollen vermeintlich besser klingen bzw. mehr Aufmerksamkeit generieren, in Wirklichkeit werden sie aber jeglicher Dynamik beraubt. Im schlimmsten Fall kann das sogar zu Verzerrungen führen. Einige Songs (etwa "Alles fließt") wurden auch auf dieser Veröffentlichung so laut gefahren, das der dynamische Umfang komplett wegrationalisiert wurde. Wer noch die originale "Amiga Masters"-CD aus dem Jahr 1993 besitzt, kann gerne mal vergleichen. Im Direktvergleich mit der neuen Kompilation ist die alte CD eine echte Wohltat für die Ohren.
Was die Wahl des Quellmaterials angeht, habe ich mich ehrlich gesagt ein wenig gewundert. Fast alle Titel, die 2018 erstmals auf dem Vinyl-Album "Leben" von Black Pearl Records erschienen sind ("Hört", "Shigu", "Schlangenhaut", "Leben", "Chile im Zorn" , "Amygelius"), scheinen mir von eben dieser Schallplatte digitalisiert worden zu sein. Bei allen genannten Aufnahmen sind hier und da die typischen LP-Nebengeräusche zu hören (am deutlichsten am Anfang von "Hört", da gibt's ein schönes Knistern). Nimmt man das Quellmaterial von Vinyl, so ist das mit einigen Schwierigkeiten verbunden, da man das so entstandene Digitalisat noch "reinigen", also von Nebengeräuschen befreien muss. Das wiederum kann die Klangqualität beeinflussen (dazu später noch mehr). Die besagten Aufnahmen müssten allerdings zumindest bei Black Pearl Records in digitaler (und klanglich sauberer) Form vorliegen; ansonsten natürlich auch im Rundfunkarchiv, wo die Aufnahmen noch auf Bändern ruhen. Warum hat man für diese Veröffentlichung bei diesen beiden Institutionen nicht mal nachgefragt? Auch der Titel "Schatten" scheint übrigens von der LP überspielt worden zu sein, obwohl es schon eine sehr schöne, deutlich klarere Digitalversion auf der 2008er CD "Das Beste" gab. Die erstmals überhaupt auf Tonträger veröffentlichten Titel "Free Angela", "Meine Liebe" und "Lasst mich gehen" müssten dagegen direkt den Originalbändern des Rundfunkarchivs entsprungen sein und klingen fabelhaft.
Alte Aufnahmen werden in der Regel klanglich aufbereitet, gereinigt, von Störgeräuschen befreit. Aufnahmen, die von Tonbändern kommen enthalten oft ein gewisses Grundrauschen. Aufnahmen, die von Vinyl digitalisiert werden, können neben Rauschen auch Knistern, Rumpeln, "Clicks" und "Pops" enthalten. Mit moderner Audiobearbeitungssoftware kann man heute wahre Wunder bewirken, aber man kann es auch übertreiben. Und das ist hier bei einigen Songs leider auch passiert. Es ist äußerst schwierig die richtige Balance beim Audio-Cleaning zu finden. Entfernt man ein Rauschen zu stark, so werden auch Frequenzen, die eigentlich zur Musik gehören, abgeschnitten. Wer genau hinhört, wird das Schlagzeug, das den Titel "Nacht und Tag" einleitet, als erstaunlich trocken wahrnehmen. Grund: zu stark gefiltert. Auch das wunderbare Gitarren-Intro von Herbert Dreilich bei "Nachts" klingt auf dieser Anthologie sehr merkwürdig; in etwa so wie bei einer schlechten MP3-Datei. Auch hier wurde massiv gefiltert. Wer die 2008er CD "Das Beste" besitzt, kann "Nachts" ja mal vergleich. Hier ist zwar das Grundrauschen zwar deutlich hörbar, dafür klingt die Musik aber viel natürlicher. Auch bei anderen Songs der neuen Kompilation sind Filterartefakte hörbar; so klingen hier und da vor allem die Becken der Drums dünn und mp3-mäßig. Letztlich ist das natürlich Kritik auf hohem Niveau und natürlich verdienen "sechzehnzehn" und alle anderen Beteiligten für diese schöne Kompilation absolutes Lob! Als Fazit bleibt es schon ob des Umfangs und des musikalischen Inhalts bei einer uneingeschränkten Empfehlung für "Hier wie nebenan". PANTA RHEI-Fans und solche, die es noch werden wollen, können bedenkenlos zugreifen.
(Patrick Baumbach)
Hör-Bar: