tp-herz 20130209 2031199257 Titel:
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Titel:

"Herzkotze"
Tante Polly
Billboardmcs Music
01. Februar 2013

1. Einsam und pleite
2. Alleine in der Küche
3. Du willst eigentlich nur saufen
4. Herz aus Beton
5. Lüneburger Heide
6. Ich liebe Dich nicht
7. Das Leben geht weiter
8. Herzkotze
9. Wo gehst Du hin?
10. Die ganze Nacht wach
11. Pianotte

 

DIE LATTEN AM ZAUN UND WAS FOLGT, WENN MINDESTENS EINE FEHLT
Es ist nicht schwer, sich die Frage zu beantworten: "Who the Fuck ist Tante Polly?" Wer Mark Twains "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" gelesen hat, überlegt überhaupt gar nicht. Wir sind am Mississippi und schaukeln mit dem Dampfschiff über Alligatoren, Baumstümpfe und Algengewirr hinweg. Es wird gesoffen, gespielt und hin und wieder scharf geschossen. Der Lotse ist entweder blöd oder über Nacht debil geworden, die Schornsteine knacken verdächtig, der Heizer kotzt sein Herz in die Kohlen und irgendwie geht aber die Reise trotzdem weiter. Ach ja, und da war ja noch der Indianer. Klar, da waren sie zu dritt, drei Halunken, entsprungen dem Hirn des Lebemanns, Schriftstellers, Säufers (weil ja auch Lotse) und vermutlich besten Lügner der Welt Mark Twain. Der das Leben kannte und auf den Punkt brachte, dem dies sogar Geld einbrachte, welches ihm dennoch notorisch fehlte. Tja, und dies alles unter der Vorstellung der strengen Fuchtel von eben Tante Polly.

Nun stellen wir uns vor, die drei jungen Helden sind nun gediegene Herren, durch eine Zeitmaschine geschleust und irgendwie hat das Dampfschiff es aus unerklärlichen Gründen bis nach Hamburg geschafft. Da sind sie nun, aus ebenso unerklärlichen der deutschen Sprache mehr als mächtig und gesegnet mit einer großartigen Musikalität. Hier und da sind sie schon mal aufgetreten, doch letztendlich haben sie - wie in einem irren Zeitlabor - klammheimlich still und leise ihr Debütalbum produziert. Am 1. Februar ist es erschienen, die Welt weiß es noch nicht so genau. Aber es würde mich mehr als stark wundern, wenn sie es nicht bald wissen wollen würde. In Erinnerung an ihre frühe Jugend nannten sie ihr Trio "Tante Polly", obwohl da überhaupt gar keine Frau mit dabei ist. Videos haben sie auch schon produziert und zwar mit Spaß und Charme, es sind kleine Spielfilme, die sie uns bei youtube bereithalten (siehe unten). Die Jungs mit dem Zeitsprung in der Schüssel, die es wahrscheinlich nicht geschafft haben, alle Latten am Zaun von Tante Polly zu streichen, ein paar scheinen zu fehlen. Und es sind offensichtlich die, die uns allen immer mal wieder fehlen.

Heute heißen sie Sebastian Strehler (Schlagzeug und Gesang), Benjamin Leibbrand (Saxophon, Klarinette und Gesang) und Dominik Dittrich (Kompositionen, Texte, Produktion, Gesang, Klavier, Gitarre).
"Herzkotze", so nennt sich das Album. Und es ist ein hervorragendes Album. Abwechslungsreich, stimmungsvoll, mit pointierten sprachlich teilweise brillanten Texten, Stimmungsbildern, welche uns an das Wichtigste erinnern, was wir im Leben: an uns selbst.

Es geht schon mal ganz interessant los. Ich fühlte mich durch die mich begrüßenden Bläser irgendwie in die 30er Jahre versetzt. Ob das so korrekt ist, weiß ich nicht, aber es war so ein Gefühl. Ich habe ja noch nicht ganz gelebt, in den 30ern. Es könnten ja auch die 50er gewesen sein. Da habe ich auch noch nicht so ganz gelebt. Aber geändert hat sich ja seitdem ohnehin nicht viel. "Einsam und pleite" sind wir alle irgendwie auch noch heute. Ab und zu. Immer mal wieder. Eine knarzende Herrenstimme bricht die Zeiten und macht den Titel zeitlos. Was er auch sein soll. Den kann man noch in hundert Jahren hören. Wahrscheinlich sogar in tausend. Das Video dazu ist absolut sehenswert. Der Dixie-Sound lässt einen zu dem süffisant-melancholischen Text grinsen. Bisschen klingt es wie Leisegang früher, ein bisschen auch wie Stoppok. Im Ragtime-Geklängel. Schwingt das Tanzbein, morgen geht die Welt zu Ende. Jawoll! So wollen wir das haben, jeden anderen Scheiß glauben wir sowieso nicht mehr. Und wenn wir das schon wissen, dann soll es auch Spaß haben. Und genau das wissen die drei Herren sehr genau und bereiten uns diesen. Das Konzept der Brüche zwischen textlichem Inhalt und musikalischer Desillustration zieht sich durch das ganze Album. Und macht es - aber nicht nur, es ist nur ein Detail - dadurch schon sehr bemerkenswert.

"Allein in der Küche" geht es salopp weiter. Eine Küche ohne Sonnenseite, aber auch damit lässt es sich gut leben und wenn man sie sich schön säuft, fühlt man sich doch gut eingerichtet, geborgen und vor allem ... fröhlich. Slapstick- und Stummfilm-Artige Geräusche illustrieren das.
Melodramatisch ist der Titel "Du willst eigentlich nur saufen", in dem es darum geht, dass man in Situationen, in welchen es einem beschissen geht, idiotische Ratschläge erhält statt wirklicher Hilfe. Zum Beispiel wie in diesem besungenen Beispiel, wenn man pleite ist. Die Worte tanzen, man tanzt mit, aber manche Dinge müssen einfach mal gesagt werden. Und es wird hier auch gesagt. Alles, was zu diesem Thema zu sagen ist. Fast prosaisch, die Geschichte. Aber herzhaft gereimt eben
Schlichter das fast balladenhafte Lied "Herz aus Beton". Die Instrumentierung ist ausgefeilt (allerdings nicht nur bei diesem Titel). Überraschend ist ohnehin jeder einzelne Song auf dem Album.
Wie ein müder Kneipen-Gasse-Gossen-Hauer mit entsprechendem Klaviersound und Akkordeon der Fast-Shanty "Lüneburger Heide", tauglich für jede Seemans-Spelunke.
Bluesig schleppend und zwar stilecht "Ich liebe dich nicht" - "ich habe lonely boy auf mein herz tätowiert". Machistisch und masochistisch fällt die Maske des Groovin' Lovers während dieses Titels, unterstrichen von einem goseplhaft-kitschigen "Uhuhu"-Chor.
Wieder sehr interessant intrumentiert der Road-Runing-Song, jedoch die illustrierte Zeit meinend, in "Das Leben geht weiter". Dynamisch, dann holpernd, im Rhythmuswechsel, vom Klavier fraglos unterstützt, irgendwo tändelnd zwischen Schlager, Rock, Country, Barmusik und klassischer Epistel. Eigentlich ein Lied wie das ganze Album.
"Herzkotze" erzählt im 70er-Jahre-Chanson-Stil mit Harald-Juhnke-Charme den Traum von einer noch nicht gewonnenen Liebe. Das versetzt automatisch in andere und auch heutige Zeiten. Die Les-Humphrey-Singers lassen grüßen.
Nach diesem Ausflug kommen sie uns auf einmal funkig-elektronisch, etwas an den ursprünglichen Prince-Sound erinnernd. "Wo gehst du hin?" Immer mal mit dem klassischen Rock spielend, gerade dann, wenn das Saxophon sein Solo hat. Experimentelles nicht scheuend und nach collagenartigen Klängen eigentlich ohne wirklichen Schluss.
Auch das klassische Lied fehlt nicht. "Die ganze Nacht wach". Allerdings endet auch dieser Titel wie der vorhergehende wie ein Koitus interruptus. Wahrscheinlich ist der Sänger dann doch eingeschlafen. Oder gleich alle drei.
Und wie ein Sandmanngruß perlt uns das orgelianistisch tönende Instrumentalstück "Pianotte" zum Abschied von diesem Album.

Das macht aber gar nix. Man kann es ja gleich noch einmal hören. Die Platte ist heißestens empfohlen von mir. Und eigentlich will ich schon jetzt die nächste CD hören von denen, denn ich glaube, da kommt noch einiges Herzkotzenhaftes auf uns zu. Ich freu mich drauf. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie live unheimlich gut abgehen werden und eine Menge Leute mitnehmen können auf ihre skurrile wundersame Reise durch Welten und Räume, die wir alle schon kennen, über die wir aber noch nie so sehr lächeln konnten. Da bin ich mir sicher. Ob ich mit dieser Vermutung recht habe, lässt sich im Konzertbericht von ihrem Berliner Auftritt im BKA am 9.2. hier auf diesem Portal nachlesen.
Und auf jeden Fall werden wir noch eine Menge von diesem Trio hören.
(Andreas Hähle)


Videoclips: