Titel: Interpret: Label: VÖ: Inhalt: |
"Wutfänger" SILLY Universal 6. Mai 2016 1. Zwischen den Zeilen 2. Kampflos 3. Wutfänger 4. Die Anderen 5. Gestohlenes Glück 6. Frei 7. Das haben wir erlebt 8. Flügel 9. Mona Lisa 10. Willkommen in der Gemeinschaft 11. Regenbogenmond 12. 9 Dimensionen 13. Mohnmilchstrasse 14. Atme Anmerkung: Erscheint auch als limitierte Doppel CD, als Fanbox mit DVD/Blue Ray und auf Schallplatte (Doppel LP) |
Rezension 1:
Wenn eine Band fast 40 Jahre lang aktiv ist und Musik macht, verändert sich im Laufe der Zeit völlig automatisch der Stil ... der Sound ... die Handschrift. Erst recht, wenn auf der Position am Mikrophon ein personeller Wechsel nötig wird. Das haben schon viele Bands erleben müssen, dass die langjährige und unverwechselbare Stimme der Band plötzlich nicht mehr da ist und man sich umorientieren muss. Nur wenigen Bands gelingt dieses Kunststück, mit der neuen Sängerin oder dem neuen Sänger in alte Höhen aufzusteigen, oder diese sogar noch zu toppen. Der Berliner Band SILLY ist dies vor knapp sechs Jahren gelungen, als sie mit "Alles rot" das erste Album nach dem Tod von Tamara Danz im Jahre 1996 veröffentlichte. Mit Anna Loos als neuer Sängerin, neuem Stil ... neuem Sound ... und neuer Handschrift. Damals half Textdichter Werner Karma der Band wieder auf die Beine, als er für SILLY typische Texte lieferte und damit maßgeblich Anteil am Erfolg der eben erwähnten Platte hatte. Diese Konstellation zwischen SILLY und Karma war (und wäre es wohl noch) ein Hauptgewinn. Aber wie schon Ende der 80er, als Tamara Danz sich in Sachen Textdichtung selbstständig machte, wiederholte sich die Entwicklung bei SILLY ein weiteres Mal. Anna Loos nahm selbst den Stift in die Hand und schrieb erste Texte, die auf dem folgenden Album "Kopf an Kopf" in Lieder verwandelt wurden. Auf dem dritten Album mit Loos als Sängerin ist die Verwandlung nun abgeschlossen, denn sie ist jetzt die Haupttexterin bei SILLY. Alles verändert und entwickelt sich weiter. Warum nicht auch bei SILLY?
Musikalisch hat die Band wieder sehr viel Wert auf Vielfalt gelegt. Was der Pressetext schon vorab verrät, ist jedem einzelnen Song der Platte auch anzuhören. Ein altes Teisco-Keyboard, ein Fender Rhodes-Piano und die alte Wurlitzer kommen auf "Wutfänger" wieder zum Einsatz. Zusammen mit Produzent Mic Schroeder (Glasperlenspiel, Thomas Godoj, Joris) hat die Band insgesamt 14 neue Songs aufgenommen, die mal überraschend knackig, mal vertraut entspannt daher kommen, aber allesamt den typischen SILLY-Anstrich haben. Die Musik klingt warm, authentisch und unverfälscht. Von einem "Handmade-Album" ist da gar die Rede, denn es steckt viel Liebe zum Detail darin, und das erreicht man nicht mit Computer-Programmierung und technischem Firlefanz. Das wird schon beim ersten Stück der Platte, "Zwischen den Zeilen", deutlich. Eine akustische Gitarre und der Gesang von Anna leiten den Titel ein, der anfänglich eher ruhig seine Bahnen zieht, um sich dann im Refrain laut aufzubäumen, um dem Hörer ziemlich aufgewühlt und krachend am Ohr zu ziehen. Das Interlude überrascht mit einem satten Gitarrensolo und einem von Anna souverän vorgetragenen Sprechgesang. Im Verlauf des Albums unternimmt die Band dann eine kurvige Fahrt zwischen ruhigen und teils auch nur von Annas Gesang getragenen Nummern und lauten, dreckigen, rockigen und hämmernden Stücken, bei denen sich die Musiker mal so richtig austoben können. "Die Anderen" ist so ein Stück, das unüberhörbar von den Beatles beeinflusst zu sein scheint, Elemente vom Brit-Pop in sich birgt und für meinen Geschmack so richtig typisch SILLY ist. Eine schöne Rock-Nummer mit einer genialen Einlage von Hasbe an den sechs Saiten. Im Mittelteil des Albums wird es dann etwas ruhiger und SILLY bringen uns u.a. mit "Gestohlenes Glück", "Frei", "Das haben wir erlebt" und "Flügel" ein paar Balladen zu Gehör. In Sachen Arrangement und Komposition überzeugt "Wutfänger" auf ganzer Linie. Es bringt eine ganze Menge Abwechslung und Lieder, die richtig viel Spaß machen, mit. Mit Liedern wie "Mona Lisa", "Kampflos" und auch dem dem Album seinen Namen gebenden "Wutfänger" befinden sich reichlich Stücke auf der Platte, die sich spielend leicht ins Gedächtnis des Hörers einprägen. Schon beim zweiten Durchhören des Albums erkennt man einzelne Songs schon an den ersten Tönen wieder.
Inhaltlich hat man sich im Hause SILLY ähnlich breit aufgestellt, wie musikalisch. Mein persönlicher Favorit ist hier das Stück "Die Anderen", eine Abrechnung mit all den Neidern, Schleimern und Dummschwätzern, mit denen SILLY ja durchaus auch selbst zu kämpfen hat. Aber welche Band kennt das nicht, dass sogenannte Fans öffentlich über die Arbeit der Musiker lästern, meckern und unsachlich kritisieren, sich bei der nächsten Gelegenheit aber nicht dafür zu schade ist, sich für ein Foto mit ihnen aufzustellen? Da ist dieses Lied eine - wie ich finde - passende Antwort! Der Text zu "Mona Lisa" zeigt, dass selbst etwas auf den ersten Blick so Schönes manchmal gar nicht makellos ist, und dass das, was uns eben nicht so perfekt sein lässt, unsere Einzigartigkeit ausmacht. Besser kann man dem den Menschen eingeredeten Schönheitswahn und der Sucht nach Perfektion nicht begegnen. Auch auf diesem Album hat die Band wieder etwas zum Thema Politik zu sagen. "Kampflos" ist ein Anti-Kriegs-Song, der nur mit einfachen Zeilen die Sinnlosigkeit eines Krieges beschreibt. Auch das Lied "Wutfänger" greift ein aktuelles Thema auf, nämlich das der vielen Menschen im Land, die mit der derzeitigen Situation nicht klar kommen und in eine falsche Richtung abdriften. Hier hört man nicht den erhobenen Zeigefinger, sondern eine Situationsbeschreibung, wie man sie treffender nicht hätte zeichnen können. Im "Regenbogenmond" darf man sich einen Klos im Hals und ein beklemmendes Gefühl abholen, wenn man der Geschichte eines Missbrauchsopfers aus der Sicht des betroffenen Kindes zuhört. Allein diese Beispiele dürften deutlich machen, dass es hier nicht um Belanglosigkeiten geht. Die Band hat musikalisch und Anna als Texterin etwas zu sagen, denn das Leben besteht nicht nur aus Party und Fröhlichkeit. Trotzdem kommt gerade letzteres nicht zu kurz, denn die Inhalte sind durchaus auch positiv und optimistisch.
Wer sich die Special Edition zulegt, erhält eine zweite CD zum Album dazu. Darauf befinden sich "Nachbearbeitungen". Manchmal fällt einem zu Titeln, die man vor Jahren geschrieben hat, doch noch etwas ein, womit man sie veredeln kann. Manchmal möchte man zu der Album-Version noch eine besondere Version dazu geben. Dies haben SILLY gemacht, in dem sie einigen älteren Titeln wie z.B. "Deine Stärken", "Vaterland" und "Sonnenblumen", sowie den neuen Songs des Albums wie z.B. "Regenbogenmond", "Wutfänger" und "Zwischen den Zeilen" einen anderen Anstrich verpasst haben. In einer "Berlin Session" flossen neue und ergänzende Ideen in die Lieder ein. So bereichern der Bulgarisch Orthodoxe Chor Berlin und der Percussionist Rhani Krija mit ihren Beiträgen die Arrangements und bieten alternative Versionen zu bekannten und neuen Liedern. Oft machen "Bonustracks" nicht so viel Sinn und erfüllen eher die Aufgabe, Füllstoff für eine Sonderauflage zu sein. Das ist bei SILLYs neuer Scheibe anders - wie so vieles andere auch.
Die Zeiten haben sich geändert, die Gruppe SILLY und ihre Musik auch. Auch wenn Anna Loos' Texte nicht mit denen von Werner Karma zu vergleichen sind, hat sie aber - für meinen Geschmack - eine gute Arbeit abgeliefert. Ihre Botschaften kommen an. Sie drückt sich klar aus und versteht es doch, Worte auch mal ihre Farben sein zu lassen, mit denen sie die Welt etwas anders zeichnet, wie wir sie vielleicht wahrnehmen. Es ist gut, dass Anna Loos kein Werner Karma und auch keine Tamara Danz ist. So kann, auch wenn mir Lieder in der Machart wie "Unter'm Asphalt", "Panter im Sprung" oder "Am Sonntag" heute sehr fehlen, etwas Neues entstehen und der Weg letztlich auch weitergegangen werden. Auch mit dem dritten Album mit Anna als Sängerin hat sich die Band weiterentwickelt. Teilweise klingt sie wie vor 30 Jahren, aber stets unter dem Einfluss des Zeitgeists. Im nächsten Lied steht der Zeitgeist im Vordergrund, ohne dass die eigenen Wurzeln gekappt werden. Die Mischung aus Wiedererkennbarkeit, einem typischen SILLY-Sound und dem Anspruch, keine Oldieband sein und am Puls der Zeit operieren zu wollen, ist dem Quartett ausgesprochen gut gelungen und macht "Wutfänger" zu einem weiteren Highlight in der Bandgeschichte.
(Christian Reder)
Rezension 2:
Mit Menschen und Dingen, die uns besonders am Herzen liegen, tun wir uns oft besonders schwer. Nicht etwa in erklärter oder gar böser Absicht, sondern eher intuitiv. Wir schrauben unsere Erwartungen besonders hoch, grübeln besonders über mögliche Deutungen, reagieren besonders empfindlich und machen uns das Leben dadurch nicht gerade leichter. Das scheint bei Lichte betrachtet zwar ziemlich blöd, ist vielleicht aber einfach nur menschlich. So ähnlich geht es mir auch diesmal mit dem neuen SILLY-Album. Besonders gespannt, erwartungsfroh und neugierig starte ich die Scheibe und lausche aufmerksam. Schon nach kurzer Zeit muss ich schmunzeln, als mir klar wird, dass etwas geblieben ist, wie es zwischen SILLY-Alben und mir schon immer war: Das Kennenlernen funktioniert nicht mal eben auf die Schnelle. Wir brauchen etwas Zeit, uns aufeinander einzulassen und einzustellen.
Was mich zuerst packt, ist die kraftvolle und pointierte musikalische Umsetzung. Die Songs wirken überaus lebendig und greifbar, setzen viele spannende Akzente und stecken voller Energie. Die vielschichtigen Melodien, die abwechslungsreiche Inszenierung, die zahlreichen Feinheiten und Details erzeugen Stimmungen und Emotionen, noch bevor ich mich überhaupt mit den Texten auseinandersetze. Schnell gehen mir die Songs in die Beine und ins Blut. Schon nach wenigen Runden sind die einzelnen Titel an den ersten Takten wiedererkennbar und meine Favoriten offenbaren sich. Ein Titel, der mich ganz besonders trifft, ist "Frei". Und auch "Regenbogenmond", "Wutfänger", "Die Anderen" und "Gestohlenes Glück" gehören dazu.
Ganz nebenbei entdecke ich bei dem einen oder anderen Titel unwillkürlich Parallelen zu SILLY-Songs vorangegangener Alben. Keine Ahnung, ob das so gewollt ist, aber in meinem Kopf sind die Verbindungen – egal ob musikalischer, sprachlicher oder abstrakter Natur – unverkennbar. So zum Beispiel zwischen "Flügel" und "Spring", zwischen "Willkommen in der Gemeinschaft" und "Alles wird besser", zwischen "9 Dimensionen" und "Im See", zwischen "Mohnmilchstraße" und "Rot wie Mohn". Einmal mehr muss ich schmunzeln, denn mir fällt auf, dass ich die Titel unbewusst vergleiche. Nicht im (be-)wertenden Sinne, sondern auf emotionaler Ebene vergleiche ich die neuen Songs mit dem was ich kenne und irgendwie auch mit dem, was ich mir erhofft oder erwünscht habe. Scheinbar ist das menschliche Hirn irgendwie so gestrickt.
Auf diesem Album geht es wieder um einiges rockiger und druckvoller zu, was meinem Geschmack und meinen Hoffnungen sehr entgegen kommt. Auch sanftere Melodien sind selbstverständlich mit dabei, die jedoch nicht weniger leidenschaftlich und eindringlich rüber kommen. Die SILLY-typische Klangfülle speist sich vor allem aus der Vielfalt der Instrumente, der Intensität des Spiels und der wechselnden Fokussierung. Für mich ganz wesentliche Elemente für die Vehemenz und die Wirkung der Songs – ob sensibel und zerbrechlich, nachdrücklich und laut oder sehnsuchtsvoll und energisch. Ich freue mich schon jetzt darauf, irgendwann endlich live zu erleben, wie sich Gitarren, Bass und Drums gegenseitig vorwärts treiben. Und ich würde mich nicht wundern, wenn der eine oder andere der für das Album eingesetzten alten Tasten-Schätze dabei auch zum Einsatz käme.
Mit jedem Hören steige ich tiefer in die Thematik und die Texte des Albums ein. Dabei darf "Zwischen den Zeilen" als erster Titel und die Aufforderung "Mensch bleib Mensch!" sicher programmatisch verstanden werden. Die Vielfalt der Themen spiegelt den aktuellen Zeitgeist und die Fragen, die uns mal mehr und mal weniger umtreiben – Angst, Neid, Hass, Egoismus, Unruhe, Perfektionismus, Mut, Träume, Freiheit, Glück... Die Botschaften gefallen mir, auch wenn sie mich auf verschiedenen Wegen erreichen. Manche Titel bieten mehr Möglichkeiten zur eigenen Interpretation, zum Hineindeuten und Heraushören, andere weniger. So lässt der vordergründige und direkte Text von "Die Anderen" an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und passt gerade deshalb bestens zum Thema. "Sie lieben das Leben der anderen. Sie spucken ihr Gift und quatschen dumm, die Neider. Sie lieben das Leben der anderen. Träumen schlecht von dem, was sie nicht haben..." Scheint irgendwie typisch für unsere Zeit, eher nach anderen zu schauen, als sich auf das eigene Leben zu konzentrieren. Dabei hat es jeder von uns selbst in der Hand, seinen ganz persönlichen Weg zu finden und zu gehen, so wie es in "Frei" thematisiert wird. "Wir sind frei. Dreh dich um und schau nach vorn! Gib mir deine Hand, schlag ein! Wir sind frei. Da ist nichts mehr, was uns hält, in dieser kleinkarierten Welt..." Wenn wir uns nur selbst trauen.
Andere Texte überzeugen mich nicht gleich beim ersten Hören und erreichen mich erst durch die Hintertür. Doch selbst zwischen den Zeilen liest und hört es sich bei jedem anders und so ergeben auch Worte, die sich anfangs nicht so harmonisch zueinander fügen, später ein rundes Bild. "Und das Beste ist, dass es nicht perfekt ist. Jeder Makel, der beschreibt unsere Einzigartigkeit. Und das Beste ist, dass es nicht perfekt ist. Jeder Fehler an uns zeigt, so schön ist Einzigartigkeit..." Für mich ein gutes Bild dafür, dass wir uns mit perfektionistischen Ansprüchen oft selbst das Leben schwer machen. Und das, obwohl oder gerade weil das Unperfekte die Menschen und Dinge um uns so viel interessanter und unverwechselbar macht. Der Einsatz des Kinderchores für den Refrain in "Mona Lisa" ist nur eines der vielen wunderbaren Details, die Idee und Wirkung der Songs unterstreichen.
Alles in allem präsentieren SILLY mit "Wutfänger" aus meiner Sicht ein selbstbewusstes und in sich geschlossenes Album, das sehr gut in die Zeit passt. Ein Plädoyer gegen Angst, Hass und Wut. Ein Appell für mehr Offenheit, Mut, Träume und Menschlichkeit. Der volle und dynamische Sound erzeugt lebendige Stimmungen und die Texte zeichnen die Bilder dazu. Die Songs laden ein zu differenzierter Betrachtung etlicher Themen und fordern heraus zur Auseinandersetzung mit den eigenen Träumen und Zweifeln. Es hat sich also ausgezahlt, dass sich Anna Loos, Uwe Hassbecker, Ritchie Barton und Jäcki Reznicek dafür genau die Zeit genommen haben, die es ihrer Meinung nach gebraucht hat. Sie beweisen mit dem neuen Album einmal mehr, dass SILLY nach wie vor eine Band sind, die nicht stehen bleibt, sich nicht mit Altbekanntem und Bewährtem zufrieden gibt, sondern immer wieder neue Wege geht.
Das zeigt auch das Material auf der Bonus-CD (die der Limited Edition beigefügt ist), die Neuinterpretationen von sieben alten und neuen SILLY-Songs enthält. Hier stehen akustische Instrumente im Vordergrund, so dass die Titel zum Teil ein völlig neues Gesicht erhalten. Sie wirken ursprünglicher, sensibler, entspannter und teils noch stärker. Neue Perspektiven erwachsen unter anderem aus der Beteiligung des Percussionisten Rhani Krija, der schon mit zahlreichen Musikern und Projekten zusammengearbeitet hat. Eines meiner persönlichen Highlights ist "Vaterland" – die Umsetzung mit dem Bulgarischen Orthodoxen Chor finde ich einfach grandios.
Unsere Welt ist nicht perfekt und nicht einfach schwarz oder weiß. Sie lebt von den vielen unperfekten Besonderheiten, von den tausenden Farbnuancen und den zahlreichen Tönen irgendwo dazwischen – von lichtem Hellgrau bis zu dunklem Anthrazit, von sanft pastellig bis zu knallig bunt. All das brauchen wir, denn es macht unsere Welt bunter und reicher. Und genauso klingt auch dieses Album.
(Grit Bugasch)