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"Rotes Tuch" Manfred Maurenbrecher Reptiphon (Broken Silence) 10. April 2015 1. Rolle, Rolle, Rolle 2. Staubsauger 3. Aufbruch 4. Kiewer Runde 5. Hochwasser 6. Rotes Tuch 7. Wer hat, der kriegt 8. Ich verdient uns nicht 9. Anderes Blau 10. Romanze 11. Verlorener Posten 12. Schuldunfähig 13. Elegie 14. Drüber 15. Zeitfenster |
Die FAZ schrieb 1992 u.a.: "Geheimtip auf Lebenszeit". Der Tagesspiegel 2009: "Er ist wie ein Fels in der Brandung der hektischen Postmoderne, seine intelligenten Texte funkeln von Sprachwitz und Ironie." Damit ist schon einiges gesagt über den in Berlin geborenen Liedermacher und Autor, der mit "Rotes Tuch" sein 23. Album vorgelegt hat und z.B. auch etliche Songs für andere Musiker, wie Konstantin Wecker, schrieb. Diese Kreativität mit unzähligen kritischen Texten und schönen Melodien muss man sich erst mal vor Augen halten. Sein Werk wurde bereits Jahre zuvor gewürdigt, u.a. mit dem Deutschen Kleinkunstpreis 1991, dem Deutschen Kabarettpreis 2002 für "Mittwochsfazit", den Preis der Deutschen Schallplattenkritik für "Ende der Nacht" und noch einige mehr. Ein ausführliches Porträt des Liedermachers findet man auf unserer Seite (Siehe HIER).
Für wen wird er ein "rotes Tuch" sein, im Che Guevara-Outfit auf dem Plattencover? Auf jeden Fall ein mehr als unbequemer Zeitgenosse. Gut, dass ein ausführliches bebildertes 32-seitiges Textbüchlein dem Klappcover beiliegt, so kann man die unglaublich dichten und umfangreichen Texte in Ruhe nachlesen und damit besser verinnerlichen. Die 15 Songs in 64 Minuten sind nämlich keine leichte Kost und regen sehr zum Reflektieren des eigenen Standpunktes an. Manche würden überfordert, sich über eine Stunde lang mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, so Maurenbrecher. Gerade das fände er persönlich reizvoll. Die Songs zelebriert er meist mit seinem typischen Sprechgesang und angerauter, markanter Stimme. Oft so eindringlich, wie es nur ein Spitzenschauspieler über die Zunge bringt. Eine tolle Musikerauswahl illustriert perfekt seine Songs. Er selbst begleitet seine sehr direkte Lyrik am Flügel und an den Keyboards. Im ersten Stück "Rolle rolle rolle" lässt er sich über Ängste und Nerviges aus – aber nicht ohne den Hoffnungsschimmer, der irgendwann kommt.
Ein köstliches Lied aus dem alten Mittwochsfazit-Repertoire ist das vom "Staubsauger". Die Tücke mit dem (Hunde-)Dreck, Fleck, Flusen, Haarbüschel, Ascheresten. Alles geht weg, weil "Da muß’n Staubsauger ran". Manchmal hat man Angst, dass unser Protagonist nicht zum Luftholen kommt.
"Aufbruch" hat einen beeindruckenden, fast schon philosophischen Text. Aber der vierte Song der Platte "Kiewer Runde" hat es in sich. Für mich der beeindruckendste. Es ist eine Abrechnung mit dem Krieg in der Ukraine. Alle direkt oder indirekt Beteiligten bekommen buchstäblich ihr Fett ab. Sowohl der Westen samt EU, die Russen, die Korruption im Land, Waffenschieber usw. Er erzählt von der Begegnung mit einem Journalisten, der sich dem Suff hingibt, weil er schreiben soll, was seine zahlenden Auftraggeber lesen wollen: "ihre Wahrheit". Man brauche offenbar eine "massentaugliche Politik". Der gesamte Text geht über drei Seiten des Inlets und ist beeindruckend offen, auch mal brutal. Er legt die Finger in eine große offene Wunde unserer Gegenwart. Chapeau!
"Hochwasser" hat genau das zum Thema, was oft in den Nachrichten zu sehen war, wenn sich Politiker/innen, wie z.B. die Kanzlerin in einem Überschwemmungsgebiet in Stiefeln sehen lässt und dann den Sandsackhelfern auch noch "Viel Vergnügen" zuruft.
Der Titelsong "Rotes Tuch" entstand bereits 1988 und ist in einer anderen Fassung auf der CD "Nichts wird sein wie vorher" enthalten. Ein sehr poetisches Lied mit dem Kernsatz "Komm und lies mich wie ein aufgeschlagenes Buch". Maurenbrecher ist einfach am Ohr der Zeit mit Themen wie Altersarmut, Minijobs, Handy- und Werkvertragsgeneration und spricht in "Wer hat, der kriegt" auch von der Elite wie Merkel oder Steinmeier, die abgehört würden. Auch dieser Song, wo er sich wieder am Flügel begleitet, geht über komplette drei Seiten des Textbüchleins. Daraus machte er eine einfühlsame, wunderschön-balladeske neunminütige Komposition und das mit einem packenden Text, der alleine schon ein zeitkritisches Buch zu einer Denkschrift machen würde. Der Refrain wird von einer weiblichen Stimme unterstützt. Wow, dieser gnadenlose Text sei allen Politikern ins Stammbuch geschrieben!
Die Nr. 8 "Ihr verdient uns nicht" zeichnet ein Bild unserer Abgeordneten, die beispielsweise alle Verkehrsmittel gratis nutzen dürfen. Maurenbrecher singt von Wahlversprechungen, die nicht gehalten würden. Aber auch vom Glück, das man habe, wenn man im Parlament mitwirke und "nie mehr zurück" möchte, "nie mehr weg von dieser Droge". Und sie sollten sich doch besser "mal ein anderes Volk suchen". Wieder nimmt der Liedermacher kein Blatt vor den Mund.
Nach dem ruhigen "Anderes Blau" gibt es eine "Romanze", wo ihn in einem Songabschnitt eine Dame anstarrt, als sei er ein Stein und "sie meißelt ihren Blick direkt in dich rein." Das sind Sätze, die sich in das Gehirn meißeln. Welch eine Sprachgewalt, die Maurenbrecher wie einen Laser einsetzt!
Ein weiterer Gänsehautsong ist "Der verlorene Posten", wo sich Andreas Albrecht mit Gesang und Manfred Maurenbrecher mit gleichzeitig gesprochenem Monolog abwechseln. Menschen wollen in ein freies Land, unter der Sperrschranke hindurch, ohne dass geschossen wird. Dieser Text geht besonders unter die Haut. Da gab es in der Vergangenheit ja einige dramatische Beispiele.
"Schuldunfähig" handelt von unserem Rechtssystem. Dürfen sich da nicht manchmal Täter als Opfer darstellen? Man sucht penibel nach Entlastungsgründen für sie und bezeichnet sie dann als "schuldunfähig" (zwei dichte Seiten Text).
"Elegy" wieder mit einem Text, der staunen lässt. Poesie pur strömt uns in "drüber" mit Gitarre- und Flügelbegleitung entgegen. Kann man einen Song ehrfürchtig anhören? Ich denke ja, diesen auf jeden Fall. Den kann man nicht beschreiben ...
Mit dem "Zeitfenster" vom letzten Tag eines Jahres, Silvester, endet eine CD, die man am besten portionsweise genießen sollte. Ich frage mich, woher Maurenbrecher immer wieder die Ideen zu solch ausdrucksstarken, oft linken Texten, garniert mit wunderschönen Melodien hernimmt? Er ist unbequem. Er versucht, Mauern einzubrechen (in Anlehnung seines Namens). Zum Glück. Wer sich damit ernsthaft auseinandersetzt und nachdenklich wird, darf ruhig beneidet werden.
(Gerd Müller)