hvh-wtda 20130824 2098078540 Titel:
Interpret:
Label:
VÖ:

Titel:
"Was treibt Dich an?"
Heinrich von Handzahm
Rough Trade
6. September 2013

1. Indianer
2. Doppelleben
3. ICH-Syndrom
4. Was treibt Dich an
5. Du bist viel zu laut
6. Hannover
7. Retro
8. Mr Right
9. Affairen haben kein Happy End
10. Burn-Out
11. Milchschaumplantagen





Ich werde morgens immer von meinem Radiowecker geweckt. Das Teil hat den großen Nachteil, dass es nur "normale" Radiosender empfangen kann. Da hat man dann die Wahl zwischen dem Hausfrauengutelaunebeschaffungsprogramm mit üblen Partyschlagern oder steinzeitmäßig zusammengeschraubten Informationssendern mit Musikbeilagen, bei denen es offenbar völlig egal ist, wie mies der Müll ist, den man da über den Äther jagt. In meinem Radiowecker ist der Sender WDR2 eingestellt und dieser sorgte in letzter Zeit bei mir immer öfter für morgendliche Schübe schlechter Laune. Nicht deshalb, weil es eigentlich noch viel zu früh zum Aufstehen ist, sondern weil mir zur selben Zeit fast regelmäßig der aktuelle Mist der völlig talentfreien Sportfreunde Stiller als Aufwachmelodie untergeschoben wurde. Dieses extrem beschissene "Applaus Applaus" geht mir so dermaßen auf den Sack, dass bei mir wirklich die Wut hochkocht, wenn ich es höre. Und das am frühen Morgen! Es mag ja Leute geben, die diese seit vielen Jahren auf Schulband-Niveau (Sorry, liebe Kids) herumwerkelnden Zeitgenossen und ihre Ergüsse in Liedform dufte finden, aber bei mir lösen die Herrschaften nur Unverständnis darüber aus, wie man mit so wenig Talent so weit kommen kann und zusätzlich eben schon erwähnte frühmorgendliche Übellaunigkeit. Dabei könnten solche Tage viel schöner beginnen, z. B. mit Liedern von Heinrich von Handzahm. Der Name klingt auf den ersten Blick etwas ... na ja, sagen wir mal ... schräg, aber man sollte sich nie von einem Namen in die Irre führen lassen. Heinrich von Handzahm ist in seiner Heimatstadt Hamburg schon lange kein Geheimtipp mehr. Laut Mitteilung seiner Plattenfirma zählt der ehemalige Rechtsanwalt zu der neuen Generation deutscher Songpoeten. Sie beschreibt ihn als musikalischen Geschichtenerzähler, womit sie absolut nicht übertreibt. In den nächsten Tagen erscheint mit "Was treibt dich an" sein neues Studioalbum.

Das Album wird mit dem Song "Indianer" eröffnet. Als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe, wurde ich unweigerlich an Herwig Mitteregger erinnert. Die Stimmen beider Sänger sind ähnlich und auch der Text hätte gut und gerne von Herwig stammen können. Auch der Song an sich hat eine ganz besondere Klasse. Das Stück hat eine eingängige Melodie, ohne dabei wie vom Reißbrett und nach Mainstream zu klingen. Der Text malt Bilder in die Köpfe seiner Hörer und bildet zusammen mit der Musik ein harmonisches Miteinander. So, wie der Song aufgebaut und arrangiert wurde, passt alles sehr gut zusammen. "Indianer" klingt unaufgeregt und steckt den Hörer mit seinem Shuffle-Beat förmlich an mit der Folge, dass Fuß, Kopf oder Arme mitwippen müssen. Dabei lässt sich der Text mit seinen Zeilen "Und der Rhythmus dieser Stadt folgt nun nur noch unserem Takt ... Diese Nacht bleibt ein Leben lang in unsren Köpfen kleben ... Indianer, heute Nacht holen wir uns die Stadt" in verschiedene Richtungen interpretieren. Hauptsächlich dürfte er aber wohl eine Hymne für die erlebnisorientierten Arbeitsbienen sein, die am Ende einer arbeitsreichen Arbeitswoche die Großstadt kapern, um dort ausgiebig zu tanzen und zu feiern. Ein Ohrwurm mit Hitcharakter, der mit seinem mitreißenden Beat, den Indianergesängen und den anderen verspielten Kleinigkeiten die Latte für den Rest der Platte bereits ziemlich hoch legt. Mutig ist das schon, so einen großartigen Song gleich an den Anfang seines Albums zu setzen. Können die anderen Lieder dieses Niveau halten?
Sie können! Der zweite Titel "Doppelleben" schlägt nämlich schon ganz andere Töne an. Es ist ein akustisch arrangierter Song mit Kontrabass, Schlagzeug und Bläsern. Der Titel ist insgesamt ziemlich angejazzt - ein Hauch von New Orleans schwebt beim Hören über die Anlage in den Raum. Das Lied erzählt die Geschichte eines Familien-Vaters mit Frau und Kind, die er - wie er sagt - liebt, und der im Berufsleben das komplette Gegenteil von dem ist, wie er sich zu Hause gibt ("Im Job da herrscht ein anderer Ton / nett war ich zu Haus' ja schon / Hier bin ich autoritär wer nicht spurt / den setz ich vor die Tür"). Auch mit der Treue hat dieser Mensch ein Problem ("In jedem guten Ehemann / steckt ein kleiner Kachelmann / deswegen führe ich verdeckt meine Affären"). Nach einer Selbstreflektion (der Refrain des Songs) kommt man schließlich an den Punkt, wo man sich fragt, "Lebe ich ein Doppelleben? / Oder lebe ich doppelt eben? / Kann ich nicht mein Leben leben / wie ich wirklich bin?".
Song Nummer drei heißt "ICH-Syndrom" und hier kommt man erstmals auf dieser CD in den Genuss des von Nils Tuxen (Iron Office, Moti Special) gespielten Pedal Steel, das dem Stück einen kräftigen Folk-Einschlag verleiht. Inhaltlich wird hier ein Mensch beschrieben, der sich selbst am nächsten ist und offenbar keinerlei Kompromisse eingeht, wenn es heißt, voran zu kommen ("Du hast das ICH-Syndrom / eine ausgeprägte Egoismus-Mutation / Und Du denkst, die Welt dreht sich / einfach nur um Dich"). Von dieser Spezies Mensch hat unsere Gesellschaft ja eine große Auswahl. Darum kann man es gar nicht oft genug thematisieren und Heinrich von Handzahm ist das sehr gut gelungen. "Was treibt Dich an" wechselt musikalisch dann in den Bereich Deutschrock, inhaltlich ist die Nummer aber mit dem vorher gehörten "ICH-Syndrom" verwandt. Es geht um die "Motivation" zum Aufstieg, oder anders formuliert, die Frage, ob es uns von Natur aus vorgegeben ist, nach oben zu streben und immer weiter hoch hinaus zu wollen.
Ein Anti-Liebeslied auf eine Stadt ist das fröhlich Klischees vor sich hin aufzählende "Hannover". Heinrich von Handzahm stellt der Stadt an der Leine mit seinem Lied kein gutes Zeugnis aus ("Zu hässlich für München / zu dumm für Berlin / zu trendy für Bautzen / zu männlich für Wien / zu pleite für Hamburg / zu reich für Schwerin / dann komm nach Hannover / denn da gehörst du hin"), denn hier wird aus Hannover ein Ort gemacht, zu dem nur Mittelmaß passt und der diesen auch anzieht. Ich höre gerade den Aufschrei in Niedersachsens Landeshauptstadt ;-)
Eine Reise zurück in die Jugend (zumindest die der Wessis) unternehmen wir beim Song "Retro". In diesem Lied wird eine Freundin/ein Freund beschrieben, der noch immer in den 70ern bzw. 80ern lebt. Auch hier zählt von Handzahm wieder fleißig Klischees auf, z. B. die, dass man als 80er Fan nur zu "Footloose", "Flash Dance" oder Modern Talking tanzen kann und bevorzugt auf Eissorten wie "Ed von Schleck" oder "Brauner Bär" steht, die es wohlgemerkt schon lange nicht mehr gibt. Zusammen ergibt es eben diese Zeitreise in Lied-Form, die augenzwinkernd dieses Lebensmotto zeichnet und dabei hier und da gern mit Übertreibungen arbeitet. Besonders putzig finde ich die Textstelle, "Weil Du so schön von gestern bist / bist Du der letzte echte Kommunist". Haben Kommunisten Modern Talking gehört und Eis der Marke Langnese gegessen? Man weiß es nicht ...
Auch andere Stücke auf diesem Album haben offensichtliche und unterschwellige Ironie, die sich durch alle möglichen Themen zieht. Heinrich von Handzahm singt über "Affairen" zwischen Mann und Frau und dass diese "kein Happy End" haben, von "Mr. Right", also dem Mann für's Leben, auf den schon jahrelang gewartet wird oder über "Burn Out", eine Krankheit die auf dem Vormarsch ist. Der zuletzt genannte Titel wird mit einem heiteren und angejazzten Arrangement in Liedform gebracht und beschreibt nüchtern und sachlich die Gründe, wie man sich so einen "Burn out" einfangen kann. Ein ernsthaftes Thema mit einer Art Barmusik untermalt. Gegensätzlicher kann man so was gar nicht machen - aber trotzdem gut!
Und wenn uns Heinrich von Handzahm mit "Milchschaumplantagen", einer weiteren tiefschürfenden und augenzwinkernden Beobachtung zeittypischer Erscheinungen im heutigen Alltagsleben, schon entlassen will, kommt Unzufriedenheit auf. Gern würde man diesem Songpoeten und seiner unterhaltsamen Beschreibung des Jetztzustandes unserer Gesellschaft noch stundenlang weiter zuhören.

Heinrich von Handzahm ist ein moderner Geschichtenerzähler, der es versteht, seine Beobachtungen nicht nur sehr gut in Worte, sondern auch in Musik zu verwandeln. Mancher Song beginnt mit einer vertrauten Melodie (z. B. "Milchschaumplantagen", das anfängt wie Rainhard Fendrichs "Macho Macho", diesen Abzweig dann aber nicht weiter verfolgt) und leitet so eine neue Geschichte ein, die uns der Künstler erzählt. Dabei bedient sich der Musiker zahlreicher Stilistiken moderner und auch klassischer Musiken, so dass der Deutschrock-Fan ebenso auf seine Kosten kommt, wie der Fan von Jazz oder Folk. Einiges davon könnte auch als Pop durchgehen, aber dafür ist das Songmaterial schlicht und ergreifend zu verschachtelt, zu anspruchsvoll und viel zu detailverliebt arrangiert. Diese Platte ist ganz sicher nicht mit dem Hintergedanken gemacht, mit ihm in die Radiorotation zu rutschen. Dafür ist die Musik viel zu gut und es würde voraussetzen, dass in den Redaktionen der Rundfunkanstalten noch Leute mit Geschmack und keine gelangweilten Praktikanten sitzen. "Was treibt Dich an" ist eine weitere dieser Platten, die man für sich selbst entdecken und dann einfach lieben muss. Auch wenn der Name Mitteregger in meiner Rezension schon gefallen ist, so verbietet es sich eigentlich, Heinrich von Handzahm mit irgendeinem anderen, bereits etablierten Künstler, zu vergleichen. Das geht auch gar nicht, denn er klingt in jedem Song anders. Heinrich von Handzahms CD ist sehr abwechslungsreich, inhaltlich wie von den Arrangements und ist etwas für den aufmerksamen Moment, für die Zeit am Tag, in der man sich einen Augenblick Ruhe gönnt, um sich aufmerksam einer bestimmten Sache zu widmen. Warum nicht mal wieder eine CD einlegen, sich gemütlich in den Sessel oder auf die Couch setzen und einfach nur genießen? Mit dieser CD ist das absolut möglich und sei an dieser Stelle auch empfohlen. Ich für meinen Teil möchte morgens zur Abwechslung mal mit diesen Liedern geweckt und - mehr noch - durch den Tag begleitet werden. Hach, was hätte ich an diesen Tagen für eine Superlaune ...
(Christian Reder)


 

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Videoclips:

"Indianer"


"Retro"


"Du bist viel zu laut"





   
   
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