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Das Jahr 1984 war von Anbeginn an vollgepfropft mit hoch interessanten neuen Produktionen im Bereich deutscher Rock- und Popmusik. Denn auch nach dem gnadenlosen (und selbstverursachten) frühen Ableben der Neuen Deutschen Welle ab ca. Spätsommer 1983 - Niederschmetternde Diagnose: Tod durch Überkommerzialisierung - wollte kaum noch jemand auf gute, eingängige U-Musik mit muttersprachlichen Texten, jenseits des allseits gewohnten Schlagereinerleis, aber eben auch ebenso weit entfernt vom oft unnötig schrillen, überzogen überdrehten "Ich will Spaß"-Gehabe vieler NDW-Epigonen 1982/83. So wurden bereits etablierte deutsche Künstler, die klanglich mehr dem Rock, Blues oder Chanson zugetan waren, plötzlich noch gefragter denn je - auch und gerade bei sehr jungem Publikum im Teenageralter - und tauchte zudem eine Vielzahl zuvor unbekannter, nachgewachsener, unverbrauchter Talente am teutonischen Pophimmel auf, von denen manche sogar bis heute zu den erfolgreichsten einheimischen Künstlern gerechnet werden müssen, deren positiver Ruf seit nunmehr rund 30 Jahren nicht gelitten hat. Hier seien z.B. Herbert Grönemeyer, der 1984 mit dem Rock/Pop-Meilenstein "4630 Bochum" Musikgeschichte schrieb, oder Heinz Rudolf Kunze genannt, der wiederum mit dem weltschmerzenden Düster-Drama "Ausnahmezustand" sein bis dato bestes, vielfältigstes, intensivstes Album vorgelegt hatte, das unzweifelhaft darauf hindeutete, dass es bis zum großen, endgültigen Durchbruch - der dann im Herbst 1985 Dank "Dein ist mein ganzes Herz" vonstatten gehen sollte - nicht mehr allzu lange dauern sollte. Auch alteingesessene Deutschrocker legten 1984 durchwegs perfekte Alben vor. Udo Lindenberg präsentierte seine drall-sarkastische, geradezu anarchische LP "Götterhämmerung" als Willkommenspräsent für seine geplante DDR-Tournee, die dann aber seitens der dortigen intoleranten Staatsmacht aus dümmlichen, vorgeschobenen Gründen abgesagt wurde, Kollege Maffay kehrte auf "Carambolage" zu seinen Wurzeln, namentlich zu dreckigem, trockenen Bluesrock mit viel Gitarrenlärm und rasanten Melodien zurück; dem Kölner Soulrocker Wolf Maahn war es sogar möglich geworden, seine großartige Singlehymne "Fieber" in der bei ‚Rockintellektuellen' jener Tage nicht unumstrittenen "ZDF-Hitparade" vorzustellen, und legte darüber hinaus mittels des Beinahe-Konzeptalbums "Irgendwo in Deutschland" seine ureigene Antwort auf Springsteens "Born in the U.S.A." vor.

Zu den bedeutsamen Neuentdeckungen der Jahre 1983/84, die zwar ebenfalls auf Deutsch sangen, aber eben keine aufgesetzte NDW-Fröhlichkeit verbreiteten, zählte das Husumer Urgestein HANS HARTZ. Dieser hatte bereits mit 13 Jahren mit seiner damaligen Soulcombo THE AVALONS im "Starclub" auf St. Pauli gespielt, studierte daraufhin nach dem Abitur Sozialpädagogik, arbeite in einem Husumer Kindergarten, und übernahm zudem für eine kurze Zeit den Hauptgesang bei der Hamburger AOR-Rock-Legende LAKE. Als diese sich neuformierte und den gebürtigen Schotten James Harrison-Hopkins als neuen Leadvokalisten ins Bandkonzept integrierte, schlug die Stunde des Hans Hartz. Der in Berlin geborene, später in Aumühle bei Hamburg residierende Ex-Regisseur, Experimentalrocker und Songschreiber aller Lieder der TV-Serie "Sesamstraße", Christoph Busse, kümmerte sich fortan um die Karriere des überzeugten Friesen mit der heiseren Stimme, und produzierte mit diesem fünf veritable Alben auf gleichbleibend hohem Niveau, zwischen Rock, Blues, Balladen, nur ganz wenig Pop, sympathischen Spuren von Chanson, und einer starken Prise Folkrock. Textlich drehten sich viele Lieder zeitnah und gesellschaftlich relevant um Kriegsangst, Politikverdrossenheit, Zukunftssorgen, die Übermacht der Konzerne und Umweltverschmutzung. Die meisten Lieder schrieb Busse, nur wenige Hartz selbst. Zusammen jedoch waren sie ein eingespieltes Team, das von 1982 bis 1987 für einige bis heute unvergessene Perlen des pianobetonten Blues-Chansons gut sein sollte. Schon die balladeske Friedensballade "Die weißen Tauben sind müde" traf im Herbst 1982 inmitten des sich zuspitzenden Kalten Krieges, zur Hochphase der Friedensbewegung, nur ein Jahr vor der endgültigen Durchsetzung des 1979 ausgerufenen NATO-Doppelbeschlusses und der damit verbundenen Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden, direkt die Befindlichkeiten, die Ängste und Sorgen weiter Teile der deutschen Bevölkerung auf den Punkt. Nicht nur im linken Spektrum, zwischen SPD, Alternativen und Grünen, sondern aufgrund der sanften, liebevollen Umsetzung sogar gleichsam bis tief ins bürgerliche Lager hinein. "Die weißen Tauben ..." gerieten schnell zum zeitgeschichtlich bedeutsamen Evergreen, schossen in den hiesigen Singlehitparaden im Oktober 1982 bis auf Rang 11 und sorgten dafür, dass Hans Hartz während des gesamten Jahres 1983 als vielgefragter Vertreter des kritischen deutschen Liedguts galt. Auf die bereits sehr schmackhafte, enorm Folk- und Blueslastige Debüt-LP "Sturm", die progressive politische Haltung mit naturverbundenem, friesisch-norddeutschen Lokalpatriotismus verband, folgte im Sommer 1983 das zweite Werk "Gnadenlos", mitsamt der wiederum sehr reputierlichen Singleauskoppelungen "Nur Steine leben lang" und "95 Tage". Dies waren zwei grazile, so aufbrausende wie zugleich sanft-filigrane Rockballaden auf Piano- und Gitarrenbasis, die Hartz' guten Ruf als ehrlicher Protestsänger für alle Schichten und Weltanschauungen festigte.

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Besonders seine raue, orkanartige Stimme, die nicht nur entfernt an Joe Cocker oder Tom Waits gemahnte, ließ Hans Hartz bald zur Legende erwachsen; auch die zerbrechlichen, wohl formulierten, nur äußerst selten plumpen oder gar agitativen Texte über die vielfältigen gesellschaftlichen Problemkreise der Ära zwischen Kohl-"Wende" und Raketenangst entstammten meist der Feder von Produzent Busse und waren liebevoll, eindringlich, bildhaft und für jeden nachvollziehbar austariert, ohne jemals in sachte Schlagergefilde oder sinnloses Just-for-Fun-Trallala abzudriften.

Im Februar 1984 erlebte ich an einem Freitagnachmittag offenbar meinen persönlichen Deutschrock-Höhepunkt jenen Jahres: Gleich drei meiner aktuellen Helden dieses Genres hatten ihre jeweils neuesten Tonträger veröffentlicht. Bei "Schaulandt", einem längst verblichenen Plattenladen in der Spitalerstraße in Hamburg-City, lächelten mich an jenem grauen Vorfrühlingstag Peter Maffays Teldec-Debüt "Carambolage", Udo Lindenbergs Meisterwerk "Götterhämmerung" und eben "MorgenGrauen", der dritte Solostreich von Hans Hartz, aus den Regalen heraus an, was dazu führte, dass ich mir an nur einem Tag gleich drei brandneue Schallplatten zulegte, die mich über viele, viele Jahre begleiten, mich beeindrucken und beeinflussen sollten. Nachdem ich 2006 die große Ehre hatte, für die CD-Neuauflage von Maffays "Carambolage" im Auftrag von SONY Music den Begleittext für das Beiheft zu schreiben und ich Udos "Götterhämmerung" bereits kürzlich bei Deutsche-Mugge.de ausführlich würdigte (siehe HIER), kommt heute nun die dritte Neuanschaffung vom Freitag, dem 10. Februar 1984, an die Reihe!

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Von "MorgenGrauen" kannte ich noch kein einziges Lied, als ich die LP erwarb. Maffays 1984er-Singleauskoppelung "Karneval der Nacht" war bereits Anfang Februar 1984 mehrfach im "Club" auf NDR-2 gelaufen (jener Kultsendung im Radio, die Du damals hören MUSSTEST, da Du sonst unwiderruflich UNCOOL warst ...), Udos "Familie Kabeljau" (aus "Götterhämmerung") war schon am 1. Februar 1984 in der ersten Folge der Kurzzeit-ZDF-Musikreihe "Flashlights" vorgestellt worden. Folglich kaufte ich mir "MorgenGrauen" sozusagen blind - und war bereits vom ersten Takt an restlos hingerissen vom dritten Album des pazifistischen Husumer Geschichtenerzählers mit der markanten, unverkennbaren Stimme. Ausschlaggebend für meine schlagartig einsetzende Verehrung dieses Albums war sogleich der rasante, rockige, hymnische Eröffner "Ich lebe noch", auch als erste Single genutzt. Da Hans Hartz zuvor ja in erster Linie für seine langsamen, gemäßigten Balladen geliebt worden war, überraschte es mich schon sehr, dass "MorgenGrauen" mit einem fetzigen, lauten Rocker, anstelle eines erneuten Pianoschleichers, startete. "Ich lebe noch" ließ die so arg erfolgreichen Monate in Hans Hartz aufstrebender Karriere als deutscher Rockchansonnier, von "Die weiße Tauben ..." bis zur im Sommer 1983 veröffentlichten, bis dato letzten Single "95 Tage", augenzwinkernd Revue passieren. Zudem erklärte der Künstler in diesem enorm schnittigen Albumeröffner, warum er sich im Herbst des Vorjahres zunächst so extrem rar gemacht hatte, so dass bestimmt nicht wenige Beobachter vermutet hatten, bei Hans Hartz könne es sich mal wieder um ein klassisches Ein-Hit-Wunder gehandelt haben: Ein einziger Megahit - und danach in der Versenkung verschwunden. Doch dem war bei weitem nicht so.

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Mit "Ich lebe noch" meldete sich Hans Hartz frisch, putzmunter, ungewohnt selbstironisch und offensiv, im drallen, aufregenden Rock/Blues-Gewand bei seinen vielen Fans, die er seit 1982 für sich hatte gewinnen können, zurück. Er sei immer noch derselbe, bodenständige Mensch, der er auch vor seinem kometenhaften Aufstieg mittels der "Weißen Tauben" gewesen war, nur habe er sich eben, nach all dem pausenlosen Umherreisen zu Fernsehauftritten, Konzerten, Veranstaltungen, Interviews, vorerst ein paar Monate gänzlich zurückgezogen, um sich zu erholen, neue Kraft zu schöpfen - und nun, Anfang 1984, zu neuen Ufern aufzubrechen.
Nach diesem properen, immens aufmunternden Eingangstitel, erwacht der große, siedend heiße, so feurige, wie gleichsam dunkle, nächtliche, geheimnisvolle und doch so immens antreibende, ruhelose Blues in Hans Hartz. "Wie ein hungriger Wolf durch die Nacht" ist eine reale Explosion dieser berstenden Gefühlslage voller Intensität und Radikalität, erlebt von einem Mann, der weiß wovon er singt. Am Tag ist der Protagonist in diesem monumentalen Bluesrock-Melodram ein ruhiger, nicht weiter auffallender Mensch, wie zig andere auch, der seinen Pflichten nachgeht und niemanden stört - doch kaum wird es dunkel, bricht die Nachtzeit herein, wird er von einem unergründbaren Fieber gepackt, er muss raus ins Leben, raus auf die Straßen, hinein ins Gewühl - und er rast atemlos durch die Stadt "wie ein hungriger Wolf in der Nacht". Eine weitere kongeniale Kooperation von Interpret Hans Hartz und Komponist/Arrangeur Christoph Busse, mit wohldosiert entnommenen Elementen etwa von Springsteen ("Thunder Road", "Born to tun") oder Jim Steinman/Meat Loaf ("Bat out of hell"), enorm atmosphärisch, ehrlich, mystisch und hitzig gleichermaßen ausgefallen. Wenn man dieses Lied hört und dabei die Augen schließt, ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich der Rezipient plötzlich selbst in der besungenen Szenerie sieht und sich fühlt "wie ein hungriger Wolf in der Nacht"!
Trotz seines fraglos offenherzig-erotischen, für einen knapp 13-jährigen vielleicht doch nicht ganz so geeigneten Textinhalts, erwuchs Titel Numero Drei von "MorgenGrauen" sehr schnell zu meinem absoluten Favoriten aus dieser Produktion. "Hemmungslos" ist ein gehetzter, knochentrockener, rasend schneller Rhythm'n'Blues-Verschnitt, mit fetten Gitarren-Riffs, bissigem Slide-Spiel und einer staubig-großstädtischen, wehenden Blues-Harp. Die diesmal von Hans Hartz selbst ersonnenen Reime über den heißblütigen Liebhaber einer unersättlichen Frau, die immer wieder aus ihrer heilen Welt mit Mann und Kindern ausbricht, um sich diesem anderen Mann eben "hemmungslos" hinzugeben, waren für mich seinerzeit unbedeutend. Die knackige, mitreißende Melodie und die heisere Intonation sorgten allein schon dafür, dass mich dieses Lied niemals so recht losließ und ich seinerzeit die A-Seite von "MorgenGrauen" beinahe öfter auflegte und, anstatt die Platte danach umzudrehen, Seite-Eins lieber noch mal von vorne abspielte.
Eine ökologisch geprägte Politballade in gewohnt leisem, aber eindringlichen Stil - Piano, viele Streicher, lyrische Dramatik und zeitnahe Formulierungen - stellt die zweite Singleauskoppelung "Vor meinem Fenster steht ein Baum" dar.

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Die liebevoll notierte Geschichte über einen alten, weisen Baum, dem sich der Protagonist seit seiner Kindheit eng verbunden fühlt, bis dieser Dank von Umweltverschmutzung und Saurem Regen plötzlich von heute auf Morgen abstirbt, steht zweifellos (und durchaus geplant) in der Tradition von "Die weißen Tauben ..." und "Nur Steine ...", konnte aber deren kommerzielle Breitenwirkung bei weitem nicht erzielen, zumal "MorgenGrauen" ohnehin am besten im Gesamtkontext wirkte, so dass eine reale, eigenständige Hitsingle darauf unverkennbar fehlte.
Auf "Sturm", der im Sommer 1982 veröffentlichten Debüt-LP von Hans Hartz, begann die sogenannte "Unser Land"-Trilogie: Eine bittere, drastische Anklage gegen turbokapitalistische Wirtschaftsmagnaten und Spekulanten, wider die Fremdbestimmung der Bevölkerung durch Bosse und Konzerne, verbunden mit der Sorge vor der Mutlosigkeit vieler Bürger in Anbetracht dieser ökonomischen Übermacht, deren drei gesungene Kapitel sich jeweils auf den LPs "Sturm" (1982), "Gnadenlos" (1983) und nun "MorgenGrauen" befanden. "Unser Land", Teil-Eins dieser Trilogie, Hartz' Singleeinstand im Mai 1982, war ein lauter, brachialer Blues-Rock-Hymnus, der als Titelsong der ersten Folge der zwischen 1982 und 1996 unregelmäßig ausgestrahlten ARD-Wirtschaftskrimiserie "Schwarz - Rot - Gold", um den schrulligen Zollfahnder "Hans Zaluskowski" (alias Uwe Friedrichsen), unter der Regie von Dieter Wedel, eingesetzt worden war, damals aber noch kaum Aufmerksamkeit auf seinen Interpreten zu lenken vermochte. Als zweiter Teil fungierte der betont sarkastische, antikapitalistische Protestgesang "Wenn Millionäre schlafen gehen" mit dieser aufwühlenden, aber m. E. unnötig belehrenden und aufwiegelnden Mid-Tempo-Rocknummer beginnt die B-Seite von Hartz' 83er-LP "Gnadenlos". Nun, auf "MorgenGrauen", endete die bittere Trilogie mittels der introvertierten Synthiballade "Was bleibt sind die Politiker". Desillusionierend schildert das Team Hartz/Busse darin verschiedene Menschentypen und Berufsgruppen, die in Anbetracht des allseits drohenden Untergangs längst kapituliert haben - Tischler, Bauern, Gärtner, Kinder, Dichter, Pfarrer etc. haben längst alles aufgegeben, in all dieser angeblichen Aussichtslosigkeit, doch die dafür eigentlich zuständigen, verantwortlichen Politiker - was machen diese? "... sie reden und reden und reden und reden ...". Naja, ganz so schlimm, wie in diesem Lied tiefschwarz geschildert, ist es nun doch nicht gekommen. Aber Anfang 1984, kurz nach Anbruch des "Orwell-Gedenkjahres", wenige Monate nach der Aufstellung von modernisierten US-Marschflugkörpern in Mutlangen, war das hier beschriebene Denken und Fühlen in breiten Schichten der einheimischen Bevölkerung durchaus stark ausgeprägt; linke Gruppen, die neu in den Bundestag eingezogenen Grünen warnten, die aufstrebende Kohl/Genscher-Koalition redete und redete und redete und beschwichtigte. Doch zum viel beschworenen, großen Overkill ist es bekanntlich nie gekommen. So wirkt dieses Lied zwar aus heutiger Sicht, 30 Jahre danach, arg übertrieben und auf Teufel komm' raus pessimistisch, kann aber fraglos als originäres, klingendes Zeitzeugnis direkt aus der bundesdeutschen Lebenswirklichkeit im Zeitalter von Kriegs- und Zukunftsangst betrachtet werden, welches dieselbe auch heute noch nachvollziehbar und prägnant darstellt.
Auf eine seiner Kompositionen muss der einstige Regisseur und Jazzrock-Klangzauberer Christoph Busse wohl ganz besonders stolz gewesen sein. Nicht anders ist es zu erklären, dass er seine bitterböse Abrechnung mit damaligem Sektenunwesen a la Bhagwahn/Osho, Hare Krsna etc., übrigens zu einer überaus plakativ fröhlichen, wehenden, geradezu sommerlich-gemütlichen Popmelodie verfasst, gleich zweimal kurz hintereinander zur Geltung brachte: Hans Hartz intonierte dieses eingängige Lied zunächst unter dem Titel "Der Meister des Glücks" als letzten Song der A-Seite von "MorgenGrauen". Ein Jahr darauf fand sich dieselbe Melodie, betitelt als "Wohin willst Du gehen", auf dem bis heute letzten Studioalbum der Hamburger Krautrock-Combo NOVALIS. 1985, auf deren phantastischem (gnadenlos unterbewerteten) Schwanengesang "Nach uns die Flut", griff Busse selbst zum Mikrophon und ließ sich bei seinen Gesangsdarbietungen von den verbliebenen NOVALIS-Musikern nur begleiten.

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Nichtsdestotrotz ist und bleibt diese kongeniale Busse-Kreation, unter welcher Bezeichnung auch immer, ein intensives, ehrliches Rock/Pop-Kleinod, das auf "MorgenGrauen" natürlich besonders von Hans Hartz' kraftvollem, eindringlichen Organ lebt, überwiegend untermalt von dunkel-kühlen Synthesizern und Keyboards, während die NOVALIS-/Busse-Auslegung im so grellen, wie vielschichtigen Akustikgitarren/Piano-Arrangement im Sinne eines äußerst gelungenen, aber stimmlich im konventionellen Rahmen verbleibenden, deutschgesungenen Westcoast-Rockers, nahe Jackson Browne oder Tom Petty, daherkommt.
Düster, warnend und pessimistisch startet die B-Seite mit dem dunkel-bedrohlichen Klangdrama "Einer ist mehr als genug". Hierbei handelt es sich um eine so grazile und enorm wortreiche Beschreibung der Bildung einer jugendlichen Skinhead-Horde, die sich unter einem erst 18-jährigen, blonden Anführer zusammenrottet, zum Schlägern und Zündeln durch die Nacht marschiert, während der brave Normalbürger in Ruhe seinen Schlafbedürfnissen nachgehen mag, anstatt gegen das langsame Aufkeimen von Neonazismus und Gewalt zu protestieren, und sich vielmehr darauf beruft, es gäbe ja zahlenmäßig nur ganz wenige Skinheads und Neonazis, weshalb man sich noch längst keine Sorgen um Demokratie und Rechtsstaat machen müsse. Gegen dieses Denken setzte der politisch sehr engagierte Husumer seine These, schon "Einer ist mehr als genug"!
Um illusionslose Jugendliche ohne jegliche Aussicht auf ein erfülltes Leben, die sich in der grauen, kalten Vorstadt zu einer gewalttätigen Bande zusammengeschlossen haben, um aus ihrem öden Alltag zwischen toten Mauern und Zäunen auszubrechen, dreht es sich gleichsam in der brachial ausformulierten, ängstlich-bedrohlichen, rocklastig-hymnischen Zukunftsvision "Die Stunde der Kindergang". Perlenden, locker-flockigen Synthi-Swing mit freundlichem Gitarrengeplänkel und einem konsequenten Mitschnipp-Rhythmus bietet dagegen der abgeklärte Abschiedsgruß an eine völlig schiefgelaufene Beziehung eines zwar erst total verliebten, aber vollkommen überforderten Mannes zu einer ausschließlich auf Karriere und Reputationssteigerung konzentrierten Frau. Diese hatte in all ihren ausgiebigen Träumen vom großem materiellen Glück die Wünsche und Bedürfnisse ihres Partners gänzlich außer Acht gelassen, weshalb dieser, trotz allen Trennungsschmerzes, für sich beschloss, künftig lieber allein zu bleiben, und seine Ex-Partnerin daher auffordert: "Träum weiter / von dem unerfüllten Glück"!
Mit den nicht unbedingt überzeugenden, oft unverständlich und wirr wirkenden, pseudophilosophischen Betrachtungen des Weltgeschehens "Schont mir die Sonne", einer neuerlichen, aufbrausenden, geradezu monumental-symphonischen, sehr komplex ausgestalteten Rockballade, und "Mein Kartenhaus", einem fetten, fetzigen Boogie Rocker, der allerdings merkwürdig vorhersehbar wirkt (und dessen textliche Intention mir bis heute verschlossen blieb), endet das meist hochgradig angsterfüllte Politrock-Melodram "MorgenGrauen" - eine tatsächlich durchwegs grau, fraglos intensiv und ehrlich, oft ausweglos, gar defensiv dargestellte, gesungene Sorge vor dem ungewissen nächsten Morgen. Von einer solch ausufernd depressiven, hoffnungslosen Gefühlslage waren zu Jahresbeginn 1984 nicht wenige Menschen, insbesondere hierzulande, beseelt. Diesen Status, mag er heute noch so fragwürdig erscheinen, beschreibt "MorgenGrauen" in trefflichsten Worten und authentischen musikalischen Inszenierungen haargenau, detailliert, punktgenau und somit eben nahezu perfekt.

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Die meisten Beiträge sind pausenlos pessimistisch ausgerichtet, teils gar alarmistisch und bedrohlich dargeboten; in den Texten findet sich so gut wie kein Fünkchen Ironie, kein bisschen Augenzwinkern. Musikalisch erweist sich "MorgenGrauen" darüber hinaus durchgehend als vielseitig, erdig, echt und stets mit viel Liebe zu dem zu Erschaffenden komponiert, arrangiert und ausgearbeitet.

In ihrer Gesamtheit bietet die Scheibe eine hautnahe, enge, intime Betrachtung des Zeitgeistes der frühen 80er Jahre in allen Facetten, Ausprägungen, ja auch teils irrational anmutenden Ausschweifungen. Denn als ganz so bitter, schwarz und aussichts- und ausweglos, hatte sich keines der beschriebenen gesellschaftlichen und politischen Fakten und Entwicklungen erwiesen. Als gute, eingängige Rock/Blues/Chanson-LP taugt "MorgenGrauen" also ebenfalls in profunder Weise, wie als gesungene Geschichtsstunde in Sachen - wie es die Briten so gerne, mit sarkastischem Unterton verbunden, nennen - "German Angst", einem typisch bundesrepublikanischen Phänomen, das nur selten so intensiv und teils überzeichnet ausgelebt, praktiziert, ja geradezu genussvoll zelebriert wurde, wie in jenen Tagen und Monaten, als Herz und Bauch des einen oder anderen kritischen Bundesbürgers den baldigen Untergang der Welt vor der Tür stehen sahen, Hirn und Ratio desselben dagegen aber natürlich vom gesamten Gegenteil des in den schwärzesten Farben Ausgemalten und Gefühlten überzeugt waren. Ich hatte mir diese LP im Frühjahr 1984 sehr oft aufgelegt, oft abwechselnd mit "Carambolage" (Maffay) und "Götterhämmerung" (Lindenberg), sogar auf Cassette überspielt auf eine Jugendfreizeit nach Büsum mitgenommen. Auch wenn der kommerzielle Erfolg bei weitem nicht so einträglich ausfiel, wie es noch bei den zwei Alben davor der Fall war, keine für sich stehende Hitsingle das Album kennzeichnete, und mir darüber hinaus von meinem bürgerlich-konservativen Elternhaus und ebensolchem schulischen Umfeld niemals derartig breitgefächert und scheinbar alternativlos die Sorgen vor Krieg und Zukunft in dieser drastischen Form vermittelt worden waren, war ich in erster Linie von dem hochgradig mitreißenden, drögen, trockenen Blues-Feeling, das auf "MorgenGrauen" so weitflächig vorhanden war, äußerst angetan. Folglich zählt diese ansonsten so betroffene Scheibe noch heute zu meinen absoluten Deutschrock-Favoriten der mittleren 80er Jahre, die immer wieder gerne den Weg auf meinen Plattenteller findet. Zwei weitere Hartz/Busse-Kooperationen kamen danach noch zu Stande: 1985 betörte das rustikale Konzeptalbum "Neuland Suite", zwischen deftigem Bluesrock und ökologisch untermauerten Musical-Elementen; im Frühjahr zwei Jahre später, schien Hans Hartz endlich mit sich und der Welt im Reinen zu sein und präsentierte den ungewohnt positiv und optimistisch anmutenden Rockschlagerohrwurm "Verrückt nach Dir", mitsamt des gleichnamigen Albums. Nach der Beendigung der so fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beiden kreativen Norddeutschen, ging es für den liebenswerten "Friesen-Joe-Cocker" jedoch qualitativ strikt bergab. Nach dem sinnlosen Pop-Schlager-Versuch "Halt mich fest" (1989) ohne jeglichen bleibenden Wert, mutierte Hans Hartz zu Beginn der Folgedekade zum volkstümlichen Nordsee-Wellen-Schunkler und krächzenden Bier-Bewerber. Im Herbst 2002 starb ein erdiger, raubeiniger Rockshouter an Krebs, dessen beste Momente stets und letztlich ausschließlich in kongenialer künstlerischer Einheit mit dem noch heute als Filmmusikkomponist aktiven Multitalent Christoph Busse zustande gekommen waren - worüber "MorgenGrauen" in bester Manier Zeugnis ablegt!
(Holger Stürenburg)




VÖ: 1984; Label: Mercury/Phonogram; Titel: Ich lebe noch · Wie ein Hungriger Wolf in der Nacht · Hemmungslos · Vor meinem Fenster steht ein Baum · Was bleibt sind die Politiker (Unser Land Trilogie Nr. 3) · Die Meister des Glücks · Einer ist mehr als genug · Träum weiter · Stunde der Kindergang · Schont mir die Sonne · Mein Kartenhaus; Bemerkung: Bei Mercury/Phonogram auf LP, Kassette und CD erschienen. Inzwischen nicht mehr im Handel erhältlich (Stand: 05.01.2014); Musiker: Billy Lang (Gitarren) · Udo Arndt (Gitarre, bei "Meister des Glücks") · Curt Cress (Schlagzeug) · Günther Gebauer (Bass) · Hermann Weindorf (Keyboards, Flügel) · Richard Wester (Saxophon) · Christoph Busse ("Bits & Pieces") · Reinhold Heil (Raketenstart) · Rale Oberpichler (Wolfsstimme) · Die Gropiuslerchen (Kinderchor) · Jo Plee (Streicherarrangement bei "Vor meinem Fenster steht ein Baum"); Produzent/Arrangeur: Christoph Busse; Tonmeister: Udo Arndt



Videoclip:


"Ich lebe noch"