Ein Bericht von Hartmut Helms mit Fotos von M. & S. Ziegert
"Meeresfahrt" - was könnte ich ins Schwärmen geraten und wenn ich es tun würde, dann wüsste ich nicht, womit ich beginnen soll. Letztlich sind es diese magischen 16 Minuten einer im Ausdruck eher getragenen Rock-Suite, die im Grunde den Charakter einer Hymne hat. Es ist dieses musikalische Bild einer Fahrt auf den Wogen des Meeres unter einem blauen Sonnenhimmel. Irgendwo gleiten Möwen kreischend dahin, veranstalten Delphine übermütige Luftsprünge. Ein Bild voller Schönheit und reiner Harmonie, in das sich, wie die Möwen und Delphine im Bild, musikalische Farbtupfer einer Flöte und vom Saxophon mischen. Die Melodie, irgendwo zwischen leicht progressiv und Volkslied angesiedelt, wird uns in verschiedenen Variationen von den Keyboards, leicht verspielt, von einem großen Meister, in die Ohren gemalt, um im Bilde zu bleiben. Die "Meeresfahrt" ist eines der schönsten, reifsten und markantesten Rock-Werke, das - welch Wunder - ausgerechnet in der DDR entstehen konnte. Urbane Sehnsucht, Lebensgefühl und der Wunsch nach Unausgesprochenem. Ein Bild sehe ich noch immer vor mir, wie LIFT dieses, damals noch namenslose, Opus 1977 auf der kleinen Bühne in Elsterwerda zur Aufführung brachte. Das war vor fast genau 38 Jahren und mit den Herren Heubach, Lohse, Patzer, Pacholski, Scheffler und Zachar - eine Traumbesetzung.
Ein Jahr später, am 15. November 1978, wurde der grandiose Aufstieg dieser einzigartigen Band auf brutale Weise durch einen Unfall gestoppt. Deshalb markiert das ganze Album "Meeresfahrt" sowohl den Schaffenshöhepunkt, als auch den Bruch in der Karriere der Band. Auf Platte hat noch WERTHER LOHSE den Gesangspart der "Meeresfahrt" inne, live habe ich allerdings HENRY PACHOLSKI sowohl in meiner Erinnerung, als auch auf den Fotos. Während bewusster Tour durch Polen sang er sie sogar in der Landessprache, wie ein Rundfunkmitschnitt aus dem Jahre 1978 belegt. Er und der Bandleader und Bassist GERHARD ZACHAR überlebten den Autounfall in Polen nicht. Deren Vermächtnis ist uns als Album "Meeresfahrt" (1979) geblieben und heute noch hörbar. Wer es unvoreingenommen tut, wird staunen.
Denn auch die anderen Lieder des Albums haben es ganz schön in sich. Da singt HENRY PACHOLSKI doch tatsächlich davon, "Nach Süden (abzuhau'n)", denn "hinter dem Hügel, da wuchsen mir Flügel, um vor dem Winter abzuhau'n". Eine derart deutliche, und noch dazu sehr lyrische Metapher für eine Republikflucht zu finden und sie bei AMIGA auf Platte zu bringen, was für ein Husarenstück und was für ein grandioser Ohrwurm! Doch damit nicht genug, denn mit "Scherbenglas" und "Sommernacht" sind noch zwei weitere Diamanten auf dem Album zu finden, die für alle Ewigkeit gemacht scheinen. Auf gänzlich unterschiedliche Weise wird hier von der großen Liebe gesungen und beide Male könnten einem die Tränen kommen, weil man jede noch so kleine Nuance in der Interpretation eines HENRY PACHOLSKI mitfühlen und sich an den Melodien von WOLFGANG SCHEFFLER schlichtweg berauschen und erwärmen kann. Mit diesem Album haben sich PACHOLSKI als Texter und Sänger, aber natürlich auch SCHEFFLER als Komponist, ein bleibendes Denkmal gesetzt. Einzig HEUBACHs "Tagesreise" mit dem Text von Jo Schaffer stellt eine Besonderheit dar. Der Komponist überträgt sein eigenes Werk in den Kontext seiner aktuellen Band, ersetzt die Bläser durch Keyboards und schafft es so, dem zweiten "langen Riemen" noch einmal eine völlig neue Identität und Dynamik zu verleihen. Nur der "Dom" von Electra, der "Südpol" der Sterne und die "Rose" der Klaus Renft Combo agieren noch auf dem gleichen hohen Level, haben bis heute ähnlichen Kultstatus bei den Fans inne, weil sie auf unnachahmliche und feinfühlige Weise ein besonderes Zeitgefühl, das es so nur in dieser DDR geben konnte, spiegeln.
Nur ein einziges Mal, im November 1977, habe ich die Lieder der "Meeresfahrt" in der Originalfassung live gehört und schon ein Jahr später hätte ich ganz bestimmt nicht mehr daran gedacht, dass es noch einmal, wenn auch nicht mehr in der Originalbesetzung, geschehen könnte. Doch genau aus diesem Grund fahre ich jetzt nach Dresden, 38 Jahre danach. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken, ziehen Impressionen vorüber und erinnere ich mich an Gespräche mit ehemaligen Musikern von LIFT. Es wird wohl nicht leicht werden, das alles zu sortieren, zu ordnen und (für mich) möglicherweise einen neuen Abschluss hinter ein einzigartiges Kapitel Rockmusik zu finden.
Zu meiner Überraschung ist der große Saal im Schlachthof gebucht und es stehen Stuhlreihen. Auf der Bühne hängen vier überdimensionale rote Fahnen und darauf in vier große Lettern: LIFT. Sie bilden den Rahmen für das Cover des legendären Albums "Meeresfahrt" in der Mitte, flankiert von Podesten links und rechts, auf denen die Keyboards stehen. Es fühlt sich ein ganz klein wenig an, als hätte es einen Zeitsprung gegeben und beinahe auch so, als wären es die gleichen Leute, nur einige Pfunde älter, die jetzt stetig den Saal füllen. Man ist sich vertraut, ohne sich zu kennen. Ein Blick und darin ein Lächeln genügen, um das einstige Gemeinschaftsgefühl noch einmal aufleben zu lassen, ehe man sich etwas später wieder in die kalte Anonymität der Individualgesellschaft begeben wird.
Das Zirpen und Rauschen der Keyboards eröffnet, ein wenig die Meereswellen andeutend, den Abend und als MICHAEL HEUBACH und TILL PATZER auf die Bühne kommen, tobt der Saal in die Melodie der "Meeresfahrt" hinein. Die Reise beginnt, Flöte und Tastenklänge verschmelzen miteinander, damit sich das musikalische Thema voll entfalten kann, ehe PETER MICHAILOW mit den Drums einsteigt. Jetzt bekommt der Sound Power, auf dem sich die Tasten und Saxophon solistisch austoben dürfen. Es ist ein tolles Gefühl, zu erleben, wie HEUBACH, mit einem Lächeln im Gesicht, spielerisch über die Tasten gleitet und TILL PATZER der Kanne ein messerscharfes Solo entlockt. Beinahe so hallt auch das Echo meiner Erinnerungen nach und ich genieße diesen herrlichen Sound, wahrscheinlich grinsend wie eine Fettbemme.
In das ausklingende Instrumentalinferno hinein, betritt nun WERTHER LOHSE die große (Show)Bühne. Es ist sein Auftritt, sein emotionaler Moment, als er im blauen Lichtnebel stehend, zu singen beginnt: "Nach dem Sturm da trieben tausend Blüten auf dem Meer". Da spüre ich diesen dicken Kloß im Hals, der sich in all den Jahren angestaut hat. Doch der löst sich auch wieder, je mehr sich die Suite ihrem finalen Höhepunkt entgegen rockt. Mit dem letzten Akkord löst sich aus über fünfhundert Kehlen im Raum ein einziger Jubelschrei und sechs strahlende Musikantengesichter nehmen den euphorischen Beifall ihrer Fans entgegen. Allein dieser reichlichen Viertelstunde wegen hätte sich die Anfahrt zum Konzert nach Dresden gelohnt!
Das Versprechen der Band war, alle Lieder des Albums live zu spielen, und das beginnt mit "Wir fahrn übers Meer". Auf der Platte ist dies der Einstieg, im Konzert folgt er direkt auf die "Meeresfahrt". Die Stimmung ist fabelhaft und das überträgt sich natürlich auf die da oben. Die Anspannung scheint nun der Freude am Spiel gewichen und deshalb kommt der lange nicht gespielte Klassiker locker von der Rampe. Auf das "Scherbenglas" folgt "Nach Süden" und plötzlich merkt man, was nur eine markante Gesangsstimme mehr ausmacht. Der Satzgesang, eine der tragenden Säulen von LIFT, macht aus den beiden Oldies wieder richtig glänzende Diamanten, die ich so schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr hab' klingen hören. Doch der eigentliche Höhepunkt ist ein kleines Lied, das sich möglicherweise HENRY PACHOLSKI textlich auf den Leib schrieb und dem WOLFGANG SCHEFFLER eine sündhaft süße Melodie verpasste. Für mich ist die "Sommernacht" im Vergleich das, was für die Beatles "Yesterday" ausmacht. Du hörst die ersten Töne und sofort fühlst du alles, was in diesem Kleinod steckt, als wäre es ein Teil nur von dir ganz allein. Dass es sich live an diesem Abend genau so anfühlt, ist zu einem Großteil den beiden LIFT-Urgesteinen HEUBACH und PATZER zu danken. Ich fühle mich ein wenig wie in einem Rausch, als die "Meeresfahrt" nahezu vollständig live gespielt ist. Nur ein Stück fehlt noch und das hat sich die Band für das Finale aufgehoben.
Im zweiten Konzertteil erklingen dann all die Klassiker, die man heute in einem LIFT-Konzert erleben kann. Es beginnt mit "Und es schuf der Mensch die Erde", was den Mann am Gesangsmikrofon zu der Bemerkung veranlasst, es habe den Anschein, "als wolle er sie gerade wieder abschaffen". Dafür gibt es zusätzlich spontanen Beifall. Wir erleben die samtweiche Ballade "Jeden Abend" und die von der "Falschen Schönen". Aus der jüngeren Vergangenheit hören wir "Nach Hause", den Titelsong der LP von 1987, und WERTHER LOHSE besingt "Die gelben Wiesen", die mancherorts den Frühling strahlen lassen. Seit einiger Zeit setzt sich der ehemalige Schlagzeuger von LIFT auch wieder hinter die Becken und trommelt auf die Felle. Nicht mehr ganz so geschmeidig wie früher, wie ein kleines Missgeschick zeigt, aber dafür ist alles live und "Am Abend mancher Tage" ist noch immer die heimliche Hymne der Fans von LIFT. Mir gefällt diese schöne Ballade mit dem Text von JOACHIM KRAUSE wirklich sehr, nur ist es schade, dass ich ihn an diesem Abend nicht im Publikum oder hinter der Bühne entdecken kann. Dafür erinnert WERTHER LOHSE an HENRY PACHOLSKI, den einfühlsamen Sänger, und an GERHARD ZACHAR, den Bandleader und Bassisten, und erntet dafür Applaus und lautes Rufen aus den Reihen. Es ist ein gutes Gefühl zu spüren, dass noch viele andere meiner Generation genau so empfinden.
Für den abschließenden Höhepunkt des Abends hat man sich die "Tagesreise", den noch verbliebenen Part vom Album "Meeresfahrt", aufgehoben. Als ich den Klassiker das letzte Mal mit dem Komponisten MICHAEL HEUBACH an den Tasten und TILL PATZER mit seiner Kanne hörte, saß ich im Theater von Glauchau, um an GERHARD ZACHAR zu erinnern. Das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her und "Zach", wie ihn seine Freunde nannten, wäre in diesem Jahr 70 geworden. Jetzt werde ich wieder an das Ereignis erinnert, während da vorn die Tasten ihren Frumpy-Rhythmus hämmern: "Hab' mir von der Tagesreise manches mitgebracht". Ich stelle mir vor, wie PACHOLSKI damals den Mikro-Ständer schwenkte, und ich genieße den Drive und die Wucht, die dazu vom heutigen Abend in meine Ohren dringt. Es macht einfach nur Spaß, es ist die pure Lebensfreude und deshalb stehe ich jetzt wie alle anderen, um im rhythmischen Wogen der Leiber ein Teil und im Gesang des Chores eine Stimme zu sein. Meine Fresse, ist das vielleicht schön, hier dabei zu sein!
Na klar tobt der Saal und natürlich will jetzt noch keiner raus aus der Hütte. Wir kosten erst einmal all unsere Begeisterung aus, bis diese beinahe All-Star-Band, HEUBACH und PATZER inklusive, wieder auf der Bühne steht. Heutzutage sind Zugaben ja geplante Konzert-Bestandteile und der Plan sollte auch gewissenhaft abgearbeitet werden, wie wir alle (Erinnert Ihr Euch?) wissen. Wir erklatschen uns also den Schlussteil des geplanten Konzertablaufes. Mit "Abendstunde, stille Stunde" erklingt ein weiteres Kleinod aus dem Hause LIFT und ein Paradebeispiel dafür, wie gute deutsche Rock-Lyrik, bildhaft und voller Spannung, aussehen kann: "Abendstunde, stille Stunde, dieser Tag ist ausgebrannt. Haben, was wir geben konnten, lange schon dem Tag vermacht". Der Klassiker vom allerersten LIFT-Album klingt heute noch immer so unverbraucht, so überzeugend, als gäbe es diese Zeiträume dazwischen nicht. Irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass WERTHER LOHSE gerade über sich selbst hinaus wächst, als er diese Zeilen von KURT DEMMLER und die Melodie, die er gemeinsam mit ZACHER schrieb, vor dem gewaltigen Auditorium singt. Da müssen wohl all die Anspannungen von ihm und seinen Kollegen auf der Bühne abfallen. Die Freude und das Glück sind jedem da oben ins Gesicht geschrieben, als wir gemeinsam die Zeremonie des gemeinsamen Singens von "Wasser und Wein" zelebrieren. In diesem Moment bin ich auch überwältigt und glücklich, dass dieser Abend so harmonisch und ohne sichtbare Spannungen über die Bühne gehen konnte. Und weil es so schön und einmalig ist, gibt es mit dem "Liebeslied" noch eine richtige Zugabe obendrauf. Danach ist dieses Kapitel, die "Meeresfahrt" live erleben zu können, wohl endgültig geschlossen. Nach dem Konzert und den Gesprächen danach bin ich einfach nur glücklich, kann in die Nacht und "Nach Hause" fahren.
Wir haben das komplette Album "Meeresfahrt" live und in Farbe gehört und gesehen. Als Gäste aus älteren Tagen standen TILL PATZER und MICHAEL HEUBACH mit auf der Bühne, denen anzusehen war, dass sie diesen Moment genießen konnten. Ein wenig Wehmut mischt sich allerdings auch unter die Gefühle eines Liebhabers dieser Musik, wenn man weiß, dass es das kein zweites Mal geben wird. Irgendwie schade, aber vielleicht auch gut so. Einerseits dokumentiert die Musik dieses Albums auf beeindruckende Weise ein Stück (DDR-)Kultur-Geschichte, weil solche durchgehend komplexen Werke auf höchsten künstlerischem Niveau entstehen konnten. Andererseits markiert es aber auch einen Wendepunkt im Schaffen der Gruppe LIFT, die nach dem Tod von ZACHAR und PACHOLSKI niemals wieder ein Album von dieser hohen Qualität und in dieser Komplexität geschaffen haben. Dass wir die Musik in ihrer prallen Schönheit dennoch ab und an live erleben dürfen, ist solchen Momenten, wie denen in Glauchau und im Schlachthof zu danken. Dabei sein, sich freuen und genießen ist alles und manchmal auch die stille Gewissheit, dass uns alle, Musiker wie Fans, diese Musik lange überleben wird, auch wenn dann die Namen ZACHAR, PACHOLSKI, SCHEFFLER, HEUBACH, PATZER, LOHSE und all die anderen keiner mehr kennen wird. Die Kunst wird bleiben und von unseren Tagen erzählen.
Ein Jahr später, am 15. November 1978, wurde der grandiose Aufstieg dieser einzigartigen Band auf brutale Weise durch einen Unfall gestoppt. Deshalb markiert das ganze Album "Meeresfahrt" sowohl den Schaffenshöhepunkt, als auch den Bruch in der Karriere der Band. Auf Platte hat noch WERTHER LOHSE den Gesangspart der "Meeresfahrt" inne, live habe ich allerdings HENRY PACHOLSKI sowohl in meiner Erinnerung, als auch auf den Fotos. Während bewusster Tour durch Polen sang er sie sogar in der Landessprache, wie ein Rundfunkmitschnitt aus dem Jahre 1978 belegt. Er und der Bandleader und Bassist GERHARD ZACHAR überlebten den Autounfall in Polen nicht. Deren Vermächtnis ist uns als Album "Meeresfahrt" (1979) geblieben und heute noch hörbar. Wer es unvoreingenommen tut, wird staunen.
Denn auch die anderen Lieder des Albums haben es ganz schön in sich. Da singt HENRY PACHOLSKI doch tatsächlich davon, "Nach Süden (abzuhau'n)", denn "hinter dem Hügel, da wuchsen mir Flügel, um vor dem Winter abzuhau'n". Eine derart deutliche, und noch dazu sehr lyrische Metapher für eine Republikflucht zu finden und sie bei AMIGA auf Platte zu bringen, was für ein Husarenstück und was für ein grandioser Ohrwurm! Doch damit nicht genug, denn mit "Scherbenglas" und "Sommernacht" sind noch zwei weitere Diamanten auf dem Album zu finden, die für alle Ewigkeit gemacht scheinen. Auf gänzlich unterschiedliche Weise wird hier von der großen Liebe gesungen und beide Male könnten einem die Tränen kommen, weil man jede noch so kleine Nuance in der Interpretation eines HENRY PACHOLSKI mitfühlen und sich an den Melodien von WOLFGANG SCHEFFLER schlichtweg berauschen und erwärmen kann. Mit diesem Album haben sich PACHOLSKI als Texter und Sänger, aber natürlich auch SCHEFFLER als Komponist, ein bleibendes Denkmal gesetzt. Einzig HEUBACHs "Tagesreise" mit dem Text von Jo Schaffer stellt eine Besonderheit dar. Der Komponist überträgt sein eigenes Werk in den Kontext seiner aktuellen Band, ersetzt die Bläser durch Keyboards und schafft es so, dem zweiten "langen Riemen" noch einmal eine völlig neue Identität und Dynamik zu verleihen. Nur der "Dom" von Electra, der "Südpol" der Sterne und die "Rose" der Klaus Renft Combo agieren noch auf dem gleichen hohen Level, haben bis heute ähnlichen Kultstatus bei den Fans inne, weil sie auf unnachahmliche und feinfühlige Weise ein besonderes Zeitgefühl, das es so nur in dieser DDR geben konnte, spiegeln.
Nur ein einziges Mal, im November 1977, habe ich die Lieder der "Meeresfahrt" in der Originalfassung live gehört und schon ein Jahr später hätte ich ganz bestimmt nicht mehr daran gedacht, dass es noch einmal, wenn auch nicht mehr in der Originalbesetzung, geschehen könnte. Doch genau aus diesem Grund fahre ich jetzt nach Dresden, 38 Jahre danach. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken, ziehen Impressionen vorüber und erinnere ich mich an Gespräche mit ehemaligen Musikern von LIFT. Es wird wohl nicht leicht werden, das alles zu sortieren, zu ordnen und (für mich) möglicherweise einen neuen Abschluss hinter ein einzigartiges Kapitel Rockmusik zu finden.
Zu meiner Überraschung ist der große Saal im Schlachthof gebucht und es stehen Stuhlreihen. Auf der Bühne hängen vier überdimensionale rote Fahnen und darauf in vier große Lettern: LIFT. Sie bilden den Rahmen für das Cover des legendären Albums "Meeresfahrt" in der Mitte, flankiert von Podesten links und rechts, auf denen die Keyboards stehen. Es fühlt sich ein ganz klein wenig an, als hätte es einen Zeitsprung gegeben und beinahe auch so, als wären es die gleichen Leute, nur einige Pfunde älter, die jetzt stetig den Saal füllen. Man ist sich vertraut, ohne sich zu kennen. Ein Blick und darin ein Lächeln genügen, um das einstige Gemeinschaftsgefühl noch einmal aufleben zu lassen, ehe man sich etwas später wieder in die kalte Anonymität der Individualgesellschaft begeben wird.
Das Zirpen und Rauschen der Keyboards eröffnet, ein wenig die Meereswellen andeutend, den Abend und als MICHAEL HEUBACH und TILL PATZER auf die Bühne kommen, tobt der Saal in die Melodie der "Meeresfahrt" hinein. Die Reise beginnt, Flöte und Tastenklänge verschmelzen miteinander, damit sich das musikalische Thema voll entfalten kann, ehe PETER MICHAILOW mit den Drums einsteigt. Jetzt bekommt der Sound Power, auf dem sich die Tasten und Saxophon solistisch austoben dürfen. Es ist ein tolles Gefühl, zu erleben, wie HEUBACH, mit einem Lächeln im Gesicht, spielerisch über die Tasten gleitet und TILL PATZER der Kanne ein messerscharfes Solo entlockt. Beinahe so hallt auch das Echo meiner Erinnerungen nach und ich genieße diesen herrlichen Sound, wahrscheinlich grinsend wie eine Fettbemme.
In das ausklingende Instrumentalinferno hinein, betritt nun WERTHER LOHSE die große (Show)Bühne. Es ist sein Auftritt, sein emotionaler Moment, als er im blauen Lichtnebel stehend, zu singen beginnt: "Nach dem Sturm da trieben tausend Blüten auf dem Meer". Da spüre ich diesen dicken Kloß im Hals, der sich in all den Jahren angestaut hat. Doch der löst sich auch wieder, je mehr sich die Suite ihrem finalen Höhepunkt entgegen rockt. Mit dem letzten Akkord löst sich aus über fünfhundert Kehlen im Raum ein einziger Jubelschrei und sechs strahlende Musikantengesichter nehmen den euphorischen Beifall ihrer Fans entgegen. Allein dieser reichlichen Viertelstunde wegen hätte sich die Anfahrt zum Konzert nach Dresden gelohnt!
Das Versprechen der Band war, alle Lieder des Albums live zu spielen, und das beginnt mit "Wir fahrn übers Meer". Auf der Platte ist dies der Einstieg, im Konzert folgt er direkt auf die "Meeresfahrt". Die Stimmung ist fabelhaft und das überträgt sich natürlich auf die da oben. Die Anspannung scheint nun der Freude am Spiel gewichen und deshalb kommt der lange nicht gespielte Klassiker locker von der Rampe. Auf das "Scherbenglas" folgt "Nach Süden" und plötzlich merkt man, was nur eine markante Gesangsstimme mehr ausmacht. Der Satzgesang, eine der tragenden Säulen von LIFT, macht aus den beiden Oldies wieder richtig glänzende Diamanten, die ich so schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr hab' klingen hören. Doch der eigentliche Höhepunkt ist ein kleines Lied, das sich möglicherweise HENRY PACHOLSKI textlich auf den Leib schrieb und dem WOLFGANG SCHEFFLER eine sündhaft süße Melodie verpasste. Für mich ist die "Sommernacht" im Vergleich das, was für die Beatles "Yesterday" ausmacht. Du hörst die ersten Töne und sofort fühlst du alles, was in diesem Kleinod steckt, als wäre es ein Teil nur von dir ganz allein. Dass es sich live an diesem Abend genau so anfühlt, ist zu einem Großteil den beiden LIFT-Urgesteinen HEUBACH und PATZER zu danken. Ich fühle mich ein wenig wie in einem Rausch, als die "Meeresfahrt" nahezu vollständig live gespielt ist. Nur ein Stück fehlt noch und das hat sich die Band für das Finale aufgehoben.
Im zweiten Konzertteil erklingen dann all die Klassiker, die man heute in einem LIFT-Konzert erleben kann. Es beginnt mit "Und es schuf der Mensch die Erde", was den Mann am Gesangsmikrofon zu der Bemerkung veranlasst, es habe den Anschein, "als wolle er sie gerade wieder abschaffen". Dafür gibt es zusätzlich spontanen Beifall. Wir erleben die samtweiche Ballade "Jeden Abend" und die von der "Falschen Schönen". Aus der jüngeren Vergangenheit hören wir "Nach Hause", den Titelsong der LP von 1987, und WERTHER LOHSE besingt "Die gelben Wiesen", die mancherorts den Frühling strahlen lassen. Seit einiger Zeit setzt sich der ehemalige Schlagzeuger von LIFT auch wieder hinter die Becken und trommelt auf die Felle. Nicht mehr ganz so geschmeidig wie früher, wie ein kleines Missgeschick zeigt, aber dafür ist alles live und "Am Abend mancher Tage" ist noch immer die heimliche Hymne der Fans von LIFT. Mir gefällt diese schöne Ballade mit dem Text von JOACHIM KRAUSE wirklich sehr, nur ist es schade, dass ich ihn an diesem Abend nicht im Publikum oder hinter der Bühne entdecken kann. Dafür erinnert WERTHER LOHSE an HENRY PACHOLSKI, den einfühlsamen Sänger, und an GERHARD ZACHAR, den Bandleader und Bassisten, und erntet dafür Applaus und lautes Rufen aus den Reihen. Es ist ein gutes Gefühl zu spüren, dass noch viele andere meiner Generation genau so empfinden.
Für den abschließenden Höhepunkt des Abends hat man sich die "Tagesreise", den noch verbliebenen Part vom Album "Meeresfahrt", aufgehoben. Als ich den Klassiker das letzte Mal mit dem Komponisten MICHAEL HEUBACH an den Tasten und TILL PATZER mit seiner Kanne hörte, saß ich im Theater von Glauchau, um an GERHARD ZACHAR zu erinnern. Das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her und "Zach", wie ihn seine Freunde nannten, wäre in diesem Jahr 70 geworden. Jetzt werde ich wieder an das Ereignis erinnert, während da vorn die Tasten ihren Frumpy-Rhythmus hämmern: "Hab' mir von der Tagesreise manches mitgebracht". Ich stelle mir vor, wie PACHOLSKI damals den Mikro-Ständer schwenkte, und ich genieße den Drive und die Wucht, die dazu vom heutigen Abend in meine Ohren dringt. Es macht einfach nur Spaß, es ist die pure Lebensfreude und deshalb stehe ich jetzt wie alle anderen, um im rhythmischen Wogen der Leiber ein Teil und im Gesang des Chores eine Stimme zu sein. Meine Fresse, ist das vielleicht schön, hier dabei zu sein!
Na klar tobt der Saal und natürlich will jetzt noch keiner raus aus der Hütte. Wir kosten erst einmal all unsere Begeisterung aus, bis diese beinahe All-Star-Band, HEUBACH und PATZER inklusive, wieder auf der Bühne steht. Heutzutage sind Zugaben ja geplante Konzert-Bestandteile und der Plan sollte auch gewissenhaft abgearbeitet werden, wie wir alle (Erinnert Ihr Euch?) wissen. Wir erklatschen uns also den Schlussteil des geplanten Konzertablaufes. Mit "Abendstunde, stille Stunde" erklingt ein weiteres Kleinod aus dem Hause LIFT und ein Paradebeispiel dafür, wie gute deutsche Rock-Lyrik, bildhaft und voller Spannung, aussehen kann: "Abendstunde, stille Stunde, dieser Tag ist ausgebrannt. Haben, was wir geben konnten, lange schon dem Tag vermacht". Der Klassiker vom allerersten LIFT-Album klingt heute noch immer so unverbraucht, so überzeugend, als gäbe es diese Zeiträume dazwischen nicht. Irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass WERTHER LOHSE gerade über sich selbst hinaus wächst, als er diese Zeilen von KURT DEMMLER und die Melodie, die er gemeinsam mit ZACHER schrieb, vor dem gewaltigen Auditorium singt. Da müssen wohl all die Anspannungen von ihm und seinen Kollegen auf der Bühne abfallen. Die Freude und das Glück sind jedem da oben ins Gesicht geschrieben, als wir gemeinsam die Zeremonie des gemeinsamen Singens von "Wasser und Wein" zelebrieren. In diesem Moment bin ich auch überwältigt und glücklich, dass dieser Abend so harmonisch und ohne sichtbare Spannungen über die Bühne gehen konnte. Und weil es so schön und einmalig ist, gibt es mit dem "Liebeslied" noch eine richtige Zugabe obendrauf. Danach ist dieses Kapitel, die "Meeresfahrt" live erleben zu können, wohl endgültig geschlossen. Nach dem Konzert und den Gesprächen danach bin ich einfach nur glücklich, kann in die Nacht und "Nach Hause" fahren.
Wir haben das komplette Album "Meeresfahrt" live und in Farbe gehört und gesehen. Als Gäste aus älteren Tagen standen TILL PATZER und MICHAEL HEUBACH mit auf der Bühne, denen anzusehen war, dass sie diesen Moment genießen konnten. Ein wenig Wehmut mischt sich allerdings auch unter die Gefühle eines Liebhabers dieser Musik, wenn man weiß, dass es das kein zweites Mal geben wird. Irgendwie schade, aber vielleicht auch gut so. Einerseits dokumentiert die Musik dieses Albums auf beeindruckende Weise ein Stück (DDR-)Kultur-Geschichte, weil solche durchgehend komplexen Werke auf höchsten künstlerischem Niveau entstehen konnten. Andererseits markiert es aber auch einen Wendepunkt im Schaffen der Gruppe LIFT, die nach dem Tod von ZACHAR und PACHOLSKI niemals wieder ein Album von dieser hohen Qualität und in dieser Komplexität geschaffen haben. Dass wir die Musik in ihrer prallen Schönheit dennoch ab und an live erleben dürfen, ist solchen Momenten, wie denen in Glauchau und im Schlachthof zu danken. Dabei sein, sich freuen und genießen ist alles und manchmal auch die stille Gewissheit, dass uns alle, Musiker wie Fans, diese Musik lange überleben wird, auch wenn dann die Namen ZACHAR, PACHOLSKI, SCHEFFLER, HEUBACH, PATZER, LOHSE und all die anderen keiner mehr kennen wird. Die Kunst wird bleiben und von unseren Tagen erzählen.
Setlist:
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Termine:
• 15.01.2016 - Dresden - Bärenzwinger (Sachsendreier)
Angaben ohne Gewähr. Weitere Termine sind nicht bekannt. Nähere Infos auf der LIFT-Homepage
Bitte beachtet auch:
• Off. Homepage von LIFT: www.lift-rockballaden.de
• Portrait über LIFT: HIER klicken
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