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Ein Bericht von Thorsten Murr mit Fotos von Wieland
Meier
(im Text) und Thorsten Murr (Fotostrecke)




Am 31. Mai 2020 war der Gründer von Monokel, einer der ältesten Berliner Bluesrock-Bands, Jörg "Speiche" Schütze, nach schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren verstorben. Tausende Fans und Freunde nahmen damals Anteil, meist über das Internet, und trauern bis heute. Eine Möglichkeit, sich von dieser herausragenden Persönlichkeit der Szene und von dem Menschen Speiche musikalisch angemessen und würdevoll zu verabschieden, ergab sich aus bekannten Gründen erst jetzt, drei Jahre später.

Nun also, am bereits dritten Todestag von Speiche, hatten seine ehemaligen Bandkollegen, weitere musikalische Weggefährten und Freunde in das Berliner Kesselhaus eingeladen - einer Location, in der unter anderem das 2017 erschienene Live-Album "40 Jahre Monokel - 70 Jahre Speiche" aufgezeichnet worden war.


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Treffen der Monokel-Familie
Zusammengefunden haben sich Vertreter aus fast allen Schaffensperioden und Bandkonstellationen, in denen Speiche mitgewirkt hatte, wobei die meisten davon ja auf seine eigene Initiative hin entstanden waren. Auch im zahlreich anwesenden Publikum - es gibt mehrere Sitzreihen in der Mitte des Saales - sind selbstredend viele vertraute Gesichter. Alles fühlt sich ein bisschen wie das Treffen einer größeren Familie an, von der sich etliche Mitglieder im Laufe der Jahre vielleicht etwas aus den Augen verloren hatten und sich heute, aus traurigem Anlass, wieder begegnen. Es gibt viele herzliche Umarmungen. Was auch auffällt, ist eine gewisse respektvolle Ruhe - so, wie man es sich für ein Abschieds- oder Gedenkkonzert vorstellt.

Das Programm wird moderiert von Gert Leiser, dem Manager von Engerling und weiterer Bands und damit auch von einer ebenso legendären Figur der ostdeutschen Bluesszene. Gert kündigt die wechselnden Line-ups an und erinnert jeweils daran, in welcher künstlerischen oder auch menschlichen Beziehung die auftretenden Kollegen zu Speiche standen.

Den Anfang machen Pad Schneider und Wilfried Borchert aus den frühesten Anfängen von Monokel in den Siebzigern. Die beiden hatten sich nach ihrer Monokel-Zeit irgendwann wiedergetroffen und sich seitdem als "Heart Of Stone", später als "Brother Louis", auf Akustik-Stones-Cover-Programme spezialisiert. Ihr Beitrag zum Opening des Erinnerungsabends sind das besinnliche Stones-Stück "Wild Horses" und der Klassiker "Going Up the Country" von Canned Heat - zwei ikonische Songs, die wohl unbestritten zur DNA des musikalischen Metiers gehören, in dem sich der heute Geehrte jahrzehntelang bewegt und betätigt hat.


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Eine Geschichte aus vielen Geschichten
Unter den nächsten Weggefährten, die auftreten, ist der Gitarrist Peter Schmidt, vor allem bekannt von seiner East Blues Experience, der in der letzten Monokel-Band Speiches, die explizit für die 40-Jahre-Jubiläumstour aufgestellt worden war, mitgespielt hatte. Auch an der Gitarre ist Bernd "Kuhle" Kühnert, der einst von Engerling zu Monokel kam, noch bis 2016 mit Monokel Kraftblues unterwegs und darüber hinaus ein langjähriger Freund von Speiche war, sowie Axel Merseburger. Am Mikro der einstige und später erneute Monokel-Sänger und -Mundharmonika-Spieler Bernd "Zuppe" Buchholz, Speiches langjähriger Drummer Olli Becker sowie Georg Artaban am Bass und Ludger Wirsing am Keyboard.

Peter Schmidt erzählt, dass er noch in Speiches letzten Lebensjahren mit ihm zusammen neue Songs geschrieben hat, von denen jetzt zwei vorgetragen werden - klar, es sind astreine Bluesrock-Nummern, einer heißt "My Life Is The Boogie". Wer möchte das bezweifeln, angesichts der illustren Biografie des Geehrten? Dann intoniert die Band "Soulshine", einen der großen Hits der Allman Brothers Band, zu dem Peter Schmidt erläutert, dass Speiche es stets sehr mochte, wenn dieses Stück in der Setlist stand. Einer der größten Monokel-Hits aller Zeiten, der ,,Kindertraum", beschließt diese Runde.

In der nächsten Formation erleben wir Big Joe Stolle, der, was mir gar nicht so bewusst war, Ende der Neunziger mit Speiche zusammengearbeitet hatte, und heute "seinen" Bassisten von der Band "Apfeltraum", Robert Gläser, mitgebracht hat, sowie die Gitarristen Heinz Glass und Jürgen Bailey, die vor rund 10 bis 15 Jahren in Speiches Monokel Bluesband die scharfen Töne erzeugt hatten.

Ja, heute kommt einiges zusammen an musikalischer Prominenz - und so wird einem innerhalb eines einzigen Konzertes noch einmal vor Augen geführt, wie vielfältig das Wirken und wie weit verzweigt die Beziehungen, dieses sich auf der Bühne stets bescheiden und zurückhaltend gebenden Musikers waren.

Im nächsten Line-up erleben wir am Mikrofon Frank "Gala" Gahler, der als charismatischer Sänger und talentierter Songschreiber über etliche Jahre den musikalischen Output geprägt hat. Kuhle Kühnert und Peter Schmidt teilen sich die Gitarrenarbeit, während der Bass vom Ex-Monokel-Mitglied Christoph Frenz übernommen wird. Am Keyboard jetzt der legendäre Chef von Engerling, Wolfram "Boddi" Bodag, und am zweiten Schlagzeug Ex-Monokel Bernd Haucke, der heutzutage vor allem mit "Starfucker" für Furore sorgt. Aufgeführt werden unter anderem die Gala-Hits "Nie wie Vater" und das immer wieder berührende "Rettungsboot". Zum stimmungsvollen "Wie die Großen" kommt Rainer "Lello" Lojewski hinzu und begleitet das Ensemble mit einem Waschbrett, da ja beide Drum-Stationen bereits besetzt sind.


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Zum Schluss: Raumer 39 Beat
Und schließlich, Lello jetzt am Schlagzeug, gibt es mit "Raumer 39 Beat" einen Song aus dem umfangreichen Engerling-Repertoire, der sich aber explizit einem weiteren wichtigen Kapitel aus Speiches Leben widmet, nämlich seiner in den Neunzigern im ehemaligen Proberaum von Monokel eröffneten "Speiche's Rock- und Blueskneipe", Raumerstraße 39, Prenzlauer Berg, in der er viele Jahre selbst hinterm Tresen stand und die bis heute ein angesagter Szenetreff sowie Dreh- und Angelpunkt für so manche musikalische Unternehmung ist.

Ich denke, das ist ein gelungener Abschluss des ersten Teils, verweist er doch auf einen Ort, wo Musikfreunde und solche, die es vielleicht noch werden, hoffentlich noch viele Jahre unmittelbar dem Namen "Speiche" und seinem Vermächtnis begegnen. Neben den vielen musikalischen Verbindungen, die von Speiche geschaffen wurden, die fortleben, sich verselbständigen und bis heute immer wieder zu ihm zurückführen, ist diese Kneipe sicherlich eines der wichtigsten und lebendigsten Zeugnisse seines Wirkens.


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Bonsai Kitten - die Speiche-Story geht weiter
Nach einer Umbaupause wechselt die Szene auf der Bühne komplett. Den zweiten Teil des Abends bestreitet die Band Bonsai Kitten, in der Speiches Sohn, Markus Schütze, den Bass spielt. Die Band um die äußerst charismatische Sängerin Tiger Lilly Marleen, powert los. War das Programm zuvor vom vertrauten feinen Bluesrock bestimmt, wird das Publikum jetzt von einem sehr dynamisch vorgetragenen Mix aus Hard-, Heavy- und Punkrock regelrecht überwältigt. Nicht nur ich brauche ein paar Momente, um mich an diesen nun gänzlich anderen Sound zu gewöhnen. Markus Schütze spielt einen mächtigen, obwohl mit nur drei Saiten bestückten, Bass, hergestellt in einer Berliner Gitarren-Manufaktur, wie ich rein zufällig weiß. Auch Drummer Marc Reign macht bei der leidenschaftlichen Ausübung seines Handwerks wohl nur selten Gefangene, und Gitarrist André "Wally" Wahlhäuser, versetzt mit seinem Können und seiner Show sogar inzwischen im Publikum befindliche Kollegen aus dem ersten Teil des Abends in Verzückung.

Zwischen den Songs erklärt, die manchmal sogar etwas atemlos, aber sehr sympathisch wirkende, Tiger Lilly Marleen, wie sehr sich die Band über die Einladung zu diesem Konzert gefreut habe und wie interessant der erste Teil des Abends gewesen sei, als es gewissermaßen einen Abriss der ostdeutschen Bluesgeschichte zu hören gab. Dass hier freilich zwei gänzlich unterschiedliche musikalische Welten aufeinanderprallen, liegt in der Natur der Sache. Dass manch ein alter Bluesfan erstmal für ein paar Minuten vor die Tür gehen musste, wohl auch. Aber im Verlauf des exzellenten, höchst professionellen Auftrittes, kann ich mich mehr und mehr drauf einlassen - und vielen anderen geht es offenbar genauso. Speiche hätte sich das so gewünscht, dass die nächste Generation quasi das Kommando übernimmt, höre ich von verschiedenen Seiten. Ja, so gesehen, ergibt das alles seinen Sinn.
 
 
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Wie auch immer, zu Ende geht ein überaus reichhaltiger, aber vor allem denkwürdiger Abend des Gedenkens. Auf dem Heimweg stelle ich erneut fest, dass das inzwischen nun schon dreijährige Fehlen von Speiche - selbst nach diesem "offiziellen Abschied" heute - noch lange nicht in mein Bewusstsein übergegangen ist. Vielleicht sollte es auch so bleiben.



Bitte beachtet auch:
• Nachruf zum Tod von Jörg Schütze: HIER
• Interview mit Jörg "Speiche" Schütze (12/2016): HIER





 
 
 





   
   
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