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Ein Bericht mit Fotos von Thorsten Murr




Berlin, Waldbühne
Wir hatten sehr lange auf diese Tour und auf dieses Konzert gewartet. Einst geplant für Frühsommer 2020, dann verschoben auf 2021, und schließlich erneut verschoben auf diesen Tag im Juni 2022. Wie gewohnt konnte man schon um die Mittagszeit herum Scharen gut erkennbarer Pearl-Jam-Fans sich Richtung Waldbühne bewegen sehen. Ten-Club-Mitglieder konnten ihre Tickets, die bei den Konzerten auch einen 30-minütigen früheren Einlass ermöglichen, schon um 12:00 Uhr abholen, um dann geduldig, aber voller Vorfreude, darauf zu warten, vor der Masse der anderen Fans die besten Positionen bei freier Platzwahl zu besetzen. Die Band legt viel Wert auf Fairness, sei es mit den vergleichsweise günstigen Ticketpreisen oder eben auch mit solchen Zugangsregelungen, die ein gepflegtes Verhalten vor Ort fördern. Freundlicherweise habe ich einen Fotopass. Erlaubt sind Fotos während der ersten drei Songs, allerdings vom FOH, dem Mixerzelt, aus, was ein sehr langes Objektiv brauchte, das ich mir vorher noch ausgeliehen habe - ein paar Kilo extra im Gepäck.


Support: White Reaper

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White Reaper eröffnen
Erstmals erlebe ich, dass Pearl Jam mit einem Support-Act auftreten: White Reaper, eine amerikanische Garage-Rock-Band, die sich mächtig ins Zeug legt. Harte Riffs, mächtige Drums, ziemlich heavy alles. Supportauftritte sind einerseits immer eine gute Gelegenheit, sich einem großen Publikum vorzustellen, andererseits aber auch mit dem Risiko verbunden, auf eine Menge taube Ohren zu stoßen. White Reaper jedenfalls haben ihren Auftritt anständig absolviert und während der ersten drei Songs, denen ich als Fotograf lauschen durfte, respektable Zustimmung erfahren.

a 20220711 1762898543Pearl Jam: rockig, heavy, schnell
Kurz nach 20:00 Uhr dann Pearl Jam! Tosender Applaus, Eddie Vedder mit seiner obligatorischen Flasche Wein in der Hand, und gleich geht's mit der flotten, schwer rockigen Nummer "Why go" rein ins Geschehen und richtig zur Sache! "Hail Hail" kommt ebenso schnell und heavy daher, und mit "Deep" wird es auch nicht wirklich besinnlicher. Pearl Jam sind heute offenbar sehr rockig aufgelegt. Schnelle, harte Songs überwiegen, auf der Bühne wird richtig Dampf gemacht. Klar werden auch ein paar der großen Balladen eingestreut, etwa "Elderly Woman …", bei der die erste Strophe vom Publikum zur akustischen Gitarre mitgesungen wird, und "Low Light". Aber gleich wird die Besinnlichkeit wieder zerrissen von wild fetzenden Gitarrenklängen. Mike McCready tobt sich richtig aus und fegt über die Bühne, später verlässt er sie auch, um näher ans Publikum zu kommen. Auch der sonst eher etwas ruhigere Stone Gossard bewegt sich erstaunlich viel. Die Rhythmussektion mit Jeff Ament am Bass und Matt Cameron an den Drums liefert wahrhaft lässigen, fetten Grove und haut richtig rein. Untermalt wird das Ganze vom langjährigen Nicht-ganz-Mitglied der Band, dem Keyboarder Boom Gaspar, und verstärkt vom Ex-Chili-Pepper Josh Klinghoffer, der hinter McCreadys Verstärkern, kaum zu sehen, mal Gitarre, mal Percussion und mal Keyboard spielt.

Gewohntes heute in Bestform
Ja, Pearl Jam sind heute sehr schnell, sehr hart. Wenn er nicht gerade wie eine Mischung aus Bruce Springsteen und Roger Daltrey die Songs performt, redet Eddie Vedder bekanntlich gern und viel und verliert dabei auch gern mal den Faden. Was solls, er hat halt viel zu erzählen, nach der langen Konzertpause erst recht, und seinen Spaß daran, mit dem Publikum zu interagieren. Manchmal etwas zu viel, meinen einige, aber das gehört halt dazu, zu der Packung Pearl Jam.

Beim Radiohit "Dance of the Clairvoyants" vom während der Blütezeit der Pandemie erschienenen Album "Gigaton" geht die Post richtig ab. Erstaunlich, zumindest für mich. Denn so richtig scheint mir dieses Stück nicht zu Pearl Jam zu passen. Einige Tausend Fans in der Waldbühne sehen das aber offenbar anders und feiern den Song. Beim folgenden Megahit "Even Flow" geht's vor der Bühne wild her. Hüpfen, Pogen, Crowdsurfing, eine kleine "Wall Of Death" - ich bin mit meinem altersgerechten, bühnennahen Sitzplatz ganz zufrieden.

Der Kessel kocht, ein Fan wird glücklich gemacht
Die Band spielt mit einem unheimlich treibenden Groove, auf dem sich wahre Gitarrengewitter entladen. Mir ist diese Wildheit, diese klangliche Dichte in dieser Form bei früheren Konzerten noch nie so richtig aufgefallen. Hart und temporeich geht es auf das Finale zu. Nachdem bei der Ramones-Cover-Nummer "I Believe in Miracles" der Kessel fast übergekocht war, wird in einer Pause ein Fan im Rollstuhl auf die Bühne gebracht. Er heißt Roland, wie wir inzwischen wissen, hatte sein Ticket ebenfalls vor über zwei Jahren gekauft - als er noch nicht an ALS erkrankt und an den Rollstuhl gefesselt war. Nun wollte man ihm für das heutige Konzert stattdessen kein Rollstuhlticket ausstellen, da die Rolli-Plätze bereits alle belegt seien. Familie, Freunde und eine Tageszeitung hatten sich für ihn ins Zeug gelegt und schließlich ein Rollstuhl-Ticket erwirkt. Nunmehr kann er sich sogar über einen Ehrenplatz auf der Bühne freuen - verbunden mit einer Umarmung von Eddie Vedder und dem Bekenntnis "We love you, Roland!". Ja, so sind sie, die Grunge-Rocker aus Seattle: große Statements zwischen großartigen Songs.

Sowieso hat man bei Pearl-Jam-Konzerten immer das Gefühl, Teil einer globalen Familie zu sein. Fans, die eines der von Eddie ins Publikum geworfenen Tamburins fangen, werden nicht beneidet, sondern beglückwünscht und gefeiert. Mit dem Stück "Porch" endet der offizielle Set. Aber man weiß ja, dass noch nicht Schluss ist.

b 20220711 1038789153Street Fighting Man
Nach einer kurzen Pause das eher besinnliche "Footsteps", und dann eine echte Überraschung: "Street Fighting Man" von den Rolling Stones. Wow, gewöhnlich gibt es an dieser Stelle "Rockin' In a Free World" von Neil Young, "Baba O'Riley" von The Who oder "Comfortably Numb" von Pink Floyd zu hören - heute aber diese ikonische Stones-Nummer. Schneller und aggressiver als das Original. Herrlich - alles andere wäre ja auch langweilig gewesen, zumal die Stones nun gerade, wie auch schon 2018, zur selben Zeit auf Tour durch Europa sind.

Den Abschluss machen ein Stück aus "Yellow Ledbetter" und schließlich das alles überragende "Alive". Bumms, und da gibt es eine weitere Überraschung des Tages, denn damit endet das Konzert. Tatsächlich ist Schluss. Nach nur einem Zugabeblock, wo es doch sonst wenigstens zwei gab. Es ist etwas nach 22:00 Uhr - hat es damit zu tun? War das Konzert deshalb so temporeich? Wer weiß. Nach einigen Momenten des Erstaunens jedenfalls ziehen die Fans ausgepowert und beseelt, aber sehr diszipliniert, wie man es kennt, von dannen. Gut zwei Stunden Konzert sind ja eigentlich auch ok, zumal wir alle nicht jünger werden. Und wenn die Packung so straff und fest geschnürt ist, wie heute und hier, kann man auch zufrieden nach Hause gehen.

Nach Kopenhagen mit gemischten Gefühlen
Auf dem Weg von Berlin nach Kopenhagen hätten wir doch beinahe die Tour de France gekreuzt. Das wäre natürlich ein hübsches Nebenerlebnis gewesen, aber der Anlass unserer Reise ist natürlich der Rock and Roll. Genau genommen das für den 5. Juli gesetzte Konzert von Pearl Jam in der Royal Arena von Kopenhagen. Beim Zwischenstopp am Sonntagabend an der dänischen Ostseeküste in Heijls erreichen uns die Nachrichten, dass im unmittelbar neben der Arena, und nur eine Station von unserem Hotel entfernt, gelegenen Shopping-Center ein junger Mensch um sich geschossen hat und es drei Tote gab. Ein in der Arena geplantes Popkonzert von Harry Styles am selben Abend wurde abgesagt.

Royal Arena
Am Vormittag des Konzerttages kam eine E-Mail von der Arena mit Verweis auf zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und sehr strenge Einlasskontrollen. Ein gemischtes Gefühl befällt uns dann aber doch, als wir am Dienstagnachmittag gegen 16:00 Uhr an dem nach wie vor abgesperrten Shopping-Center aus der Bahn steigen und zur nahen Arena gehen. Hier warten schon rund eintausend Fans, obwohl Einlass erst um 18:00 Uhr sein soll. Gut, reihen wir uns also auch ein und sind nachher immerhin unter den ersten, die nach den paar Hundert Ten-Club-Ticket-Inhabern in den Innenraum gelassen werden.

Wie immer: Fans aus aller Welt
Wir hatten schon am Abend zuvor mit angereisten Fans aus Kanada gesprochen, und auch hier kommt man schnell ins Gespräch mit den Musikfreunden aus aller Welt. Welche Shows man schon gesehen hat, welche man noch sehen wird. Meine Freundin wird von den durchweg jüngeren Leuten bewundert, nachdem sie erzählt, bereits 1992 zu einem PJ-Konzert im Berliner Loft gewesen zu sein, wo nur einige Hundert Zuschauer im Saal gewesen waren und sie danach sogar noch mit der Band schwatzen konnte und Autogramme bekam. Die Meisten derer, die hier mit uns warten, waren 1992 noch nicht geboren.

Irgendwann regnet es heftig, zum Hallenkonzert hat man natürlich keine Regenjacke dabei, aber auch das erträgt man. Gegen 18:30 Uhr kommen auch wir - nach einer sehr flüchtigen "Sicherheitskontrolle", in deren Folge ich zwar eine kleine leere (!) Wasserflasche wegwerfen musste, meine Taschenkamera aber nicht beanstandet wurde - in die Halle und stürmen nach vorn! Wenn schon Stehplatz, dann so weit vorn wie möglich. Mir kommen mit leisem Bedenken die Bilder vom wilden Getümmel in Berlin in den Sinn, aber egal, das halten wir dann auch noch aus!


Support: Idles

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Support: Idles
Das Vorproramm in Kopenhagen wird von den Idles gestaltet. Zunächst denke ich, es sei eine Lizenzversion von Knorkator: schrille Kostüme, krachende Musik, wilde Performance. Laut, böse und bissig. Die britischen Post-Punker zelebrieren unverzagt ihre Show, zeigen viel Körpereinsatz und gewinnen augenscheinlich die Ohren und auch die Herzen einer guten Menge der auf Pearl Jam wartenden Gemeinde. Für sich genommen ist das eine Musik, die ich mir gern mal anhöre, aber eine als Support vor einem weltbekannten Headliner spielende Band sofort zu mögen, ist natürlich schwierig, wie ich schon in Berlin gemerkt hatte.

Pearl Jam mit Verspätung, aber dann mit Tempo
Es ist inzwischen halb zehn. Pearl Jam kommen mit rund einstündiger Verspätung auf die Bühne, und schon wird's richtig eng. Alles drängt nach vorn. Anders als in Berlin ist der Opener, "Release", eine eher ruhige Ballade. Aber dann geht es mit "Animal" und "Lukin" auch hier in die Vollen. Härte, Biss und Tempo - als wollten sie die Verspätung wieder aufholen. Die Setliste ist eine überwiegend andere als zwei Wochen zuvor. Das hat Tradition. Bis auf die ewigen Landmarks im Repertoire, wie "Even Flow", "Elderly Woman Behind the Counter in a Small Town" und selbstverständlich zum Abschluss "Alive", gibt es heute andere Songs zu hören. Mich freut das, denn so kommen auch ein paar Lieder zum Vortrag, die ich mir in Berlin schon gewünscht hatte.

c 20220711 2058296027Statement gegen private Schusswaffen
Nicht ganz überraschend ist hier das von mir sehr gemochte Stück "Jeremy" im Programm, in dem es um einen Jungen geht, der sich vor seinen Mitschülern selbst erschießt. Eddie Vedder spricht selbstverständlich über das tragische Ereignis in dem Shopping-Center, nur einige hundert Meter entfernt, nur zwei Tage zuvor. Sinngemäß sagt er: "Ihr habt hier in Dänemark in 30 Jahren das erste Mal drei Tote infolge privater Schusswaffen zu beklagen. Ich will das nicht herunterreden, aber ich komme aus einem Land, in dem haben wir deswegen allein schon in diesem Jahr über 300 Tote." (Übersetzung ohne Gewähr.)

Eddie ist eben einer von den Guten. Der Rest der Band ist auch heute wieder voller Elan und Energie. Mike McCready posiert, hüpft, rennt und charmiert mit imaginären Leuten im Publikum. Mehrmals wirft er eine ganze Handvoll Plektren in die Crowd, was in den Reihen vor mir jedes Mal Begeisterungswellen auslöst. Später kommen dann auch wieder die Tamburine von Eddie geflogen. Schöne Rituale, wir mögen es. Auch Gastmusiker Josh Klinghoffer ist heute besser zu sehen - und somit auch mit dem, was man hört, in Verbindung zu bringen.

Erinnerung an Roskilde
Zum Ende hin erinnert Eddie Vedder in einer seiner Ansprachen an das tragische Unglück, das sich im Jahr 2000 während des Auftritts der Band beim Festival im nicht weit entfernten Roskilde ereignet hatte, als insgesamt neun junge Menschen im Gedränge vor der Bühne oder in dessen Folge zu Tode kamen. Die Band steht seit langem mit den Familien in Kontakt. Es folgt, erstmals auf dieser Tour, der Song "Love Boat Captain", der sich dem Geschehenen widmet und damals, nachdem sich die Band eine lange Zeit zurückgezogen hatte, als erster veröffentlicht wurde.

Gefühlt länger als in Berlin
Seltsam scheint im Nachhinein, dass das Konzert in Kopenhagen länger dauert, etwa zweieinhalb Stunden, als das in Berlin, obwohl laut Set-Listen-Protokoll zwei Songs weniger gespielt wurden. Wer weiß. Vielleicht liegt es daran, dass ich in Berlin gesessen und in Kopenhagen die ganze Zeit gestanden habe. Man wird ja nicht jünger. Besonders freut mich, dass es heute auch "Better Man" zu hören gibt. Auch einer meiner persönlichen Favoriten. Als abschließende Zugabe selbstverständlich "Alive" und danach noch "Rockin' in a Free World" in einer sehr lang gezogenen Version. Prima. Geliefert, wie bestellt.

Bis zum nächsten Mal!
Das waren nun also zwei Konzerte, jedes anders, beide wunderbar. Nachdem wir die Band 2018 innerhalb von zwei Wochen vier Mal in verschiedenen Städten gesehen hatten, ist es jetzt ein etwas seltsames Gefühl, dass es das für mindestens zwei Jahre erstmal wieder war. Es gibt zwar noch etliche Termine in Europa, aber alles was reisetechnisch erreichbar gewesen wäre, überkreuzt sich zeitlich mit anderen Konzert-Terminen, die fest im Kalender stehen. Nach zwei Jahren Live-Pause ist dieses Überangebot wohl auch nicht überraschend.






Fotostrecke:

Berlin
 
 
 
 
 
Kopenhagen
 




   
   
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