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Ein Bericht mit Fotos von Dajana Prosser-Gehn. Weitere Bilder: pixabay



"Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh´ -
nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee."

(Wilhelm Müller)

Als ich vor einigen Monaten gefragt wurde, ob ich nicht Lust hätte die Silvestertagung im Schloss Neuhardenberg zum Thema Franz Schuberts "Winterreise" fotografisch zu begleiten, war ich sofort begeistert. In meiner Jugend beschäftigte ich mich viel mit Klassik und verlor es irgendwann ganz aus den Augen. In den nächsten Tagen verschwand ich auf dem Dachboden, grub alle meine Schätze aus und tauchte wieder in eine Welt ein, die mich damals so gefangen nahm.

Die Epoche der Romantik widmete sich den Motiven der Liebe, des Todes sowie der Natur. Auf der anderen Seite verbindet man die Romantik eng mit der Melancholie u.a. begründet durch den historischen Kontext. Ein sehr bekannter Dichter der Zeit war Wilhelm Müller, der die 24 Gedichte der "Winterreise" verfasste. Ein Liederzyklus für Gesang und Klavier. Sehr reduziert und doch so kräftig und emotional geladen. Ganz unüblich beginnt die Reise des Sängers mit dem Lied "Gute Nacht". Er ist voller Hoffnung, die sich nach und nach auflöst. Sein Streben nach Glück bleibt unerfüllt und weicht teilweise der Resignation.

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"Ich such´ im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur,
wo sie an meinem Arme durchstrich die grüne Flur."

(Wilhelm Müller)

Die "Winterreise" war für viele Komponisten interessant und sie pickten sich hier und da einige Stücke heraus. Erst Franz Schubert nahm sich dem kompletten Gedichtszyklus an. Er verwandelte geschriebene Poesie in eine aufwändige sowie ergreifende Komposition. Man verbindet ihn dadurch mit der Entstehung des Kunstliedes.

"Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum;
ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum."

(Wilhelm Müller)

Eins der bekanntesten Lieder, welches mittlerweile abgewandelt schon als Volkslied gilt, ist "Am Brunnen vor dem Tore". Wer kennt nicht dieses Lied und kann nicht wenigstens die ersten beiden Zeilen auswendig mitsingen? Wer sich nun mit der "Winterreise" auseinandersetzt, erfährt, dass der Titel natürlich "Der Lindenbaum" heißt. Dem breiten Publikum ist vor allem die Vertonung von Friedrich Silcher bekannt und aus dem Kunstlied wurde ein Volkslied. Die erste Zeile des Verses etablierte sich dann als Titel, nämlich "Am Brunnen vor dem Tore".

Ich möchte hier selbstverständlich keine Interpretation von der "Winterreise" schreiben. In knapp drei Tagen schaffte Burkhard von Puttkamer mit seinem Team etwas, was kaum möglich erschien. Sie beleuchteten uns die Epoche der Romantik sowie die Entstehung und Komposition im literarischen, philosophischen und historischen Kontext.

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Am 30. Januar 2021 reisten 63 Teilnehmer in das idyllisch gelegene Schloss Neuhardenberg an. Burkhard von Puttkamer lud zur Silvestertagung ein. Klassische Musik etc. an ungewöhnlichen Orten? Dafür steht Burkhard von Puttkamer (Geschäftsführer sowie künstlerischer Leiter von "Zwischenakt"). Das Schloss mit seinem Park sowie die angrenzende Schinkelkirche sind immer eine Reise wert. Aber in Verbindung mit Franz Schuberts "Winterreise" ein unglaublicher Genuss. Klassische Musik und bewegende Poesie in einer wunderschönen Kulissen eingebettet.

Der musikalische sowie literarische Auftakt fand im Schlosspark statt. Es nieselte leicht auf uns herunter und das Licht brach die Regentropfen. Sofort lag ein Zauber in der Luft. Arno Zillmer, Jacob Heidel sowie Dr. Gottfried Wiedemann lasen Texte aus Guy Wagners "Schubert". Guy Wagner erhielt für diesen Roman den Luxemburger Nationalen Literaturpreis. Bis heute befassen sich immer wieder Gelehrte mit Schubert. Er verliert nie an Aktualität.

"Ach! Der mich liebt und kennt, ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide."

(Johann Wolfgang von Goethe)

In unserer dreitägigen Reise durch Schuberts Welt, folgten wir nicht nur der "Winterreise". Franz Schubert vertonte u.a. Goethes "Nur wer die Sehnsucht kennt ...", welches dem Publikum von der Sopranistin Katharina Borsch und der Pianistin Alina Pronina dargeboten wurde. Katharina verursacht mit ihrer ausdrucksstarken Stimme, sowie Alina mit ihrem leidenschaftlichen Spiel, sofort Gänsehaut. In Goethes Gedicht findet sich annähernd die gleiche Thematik wie in Wilhelm Müllers Gedichtszyklus: Ein geliebter Mensch in unerreichbarer Ferne.

Zwischen musikalischen Beiträgen erlebten wir Vorträge zu damaligen Ereignissen der Zeit wie zum Beispiel dem Wiener Kongress (Vortrag von Dr. Hazel Rosenstrauch) oder einzigartig vorgetragene Texte aus den Werken von Hedwig Dohm oder Irmgard Keun. Besonders erstaunt war ich, als ich im Programm las, dass Arno Zillmer Texte aus Marguerite Duras "Die Krankheit Tod" rezitieren würde. Ich kannte bis dahin nur "Der Liebhaber" von M. Duras und konnte mir nicht vorstellen wie das inhaltlich einzugliedern wäre. Da die Texte zwischen den Liedern zu hören waren, dauerte es, bis sich alles zusammenfügte. Katharina Landl begleitete Burkhard von Puttkamer am Klavier und trug berührend die Texte von Hedwig Dohm "Werde, die du bist" vor. Alina Pronina las nicht nur Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen" vor. Sie schien das kunstseidene Mädchen darstellerisch selbst zu sein. Perfekt inszenierte sie die Geschichte.

Sehr oft musste ich mich selbst disziplinieren - so sehr hing ich an den Lippen der Vortragenden. Künstler der klassischen Musik sind mehr als Sänger. Sie sind grandiose Schauspieler. Alle Gefühle spiegeln sie in Mimik und Gestik wider. Man kann nicht die Augen schließen, man würde so viel verpassen. Ein Genuss mit allen Sinnen - gleichzeitig.

Ein weiteres Highlight waren die immer wieder wechselnden Locations innerhalb des Schlossgeländes. Im wahrsten Sinne des Wortes eine Konzertwanderung durch den Park, wo liebevoll kleine Stationen aufgebaut wurden. Hier lauschte man einem Lied, dort lauschte man einem Text, anderswo folgte man Fackeln bis hin zum Gartensaal oder in die Orangerie. Alles war bis ins kleinste Detail vorbereitet und umgesetzt.

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"Kömmt mir der Tag in die Gedanken, möcht´ ich noch einmal rückwärts sehn, möcht´ ich zurücke wieder wanken, vor ihrem Hause stille stehn."
(Wilhelm Müller)

Professor Dr. Hartmut Böhme sprach unter anderem in seinen beiden Vorträgen über die Melancholie im Zeitalter ihrer Anrufung sowie über die Spuren und Signaturen der Natur im Zeitalter ihres Verlustes. Ein absolut faszinierender Mann, der in diesen Themen seine Berufung zu haben schien. Er sprach voller Hingabe und Leidenschaft. Aufzeichnungen benötigte er kaum. Er erzählte und man hatte das Gefühl, wenn es nicht ganz und gar unmöglich wäre, er hätte eindeutig in dieser Zeit gelebt. Anders konnte man sich diese Leidenschaft und Wissen nicht erklären.

Die Professorin Dr. Inge Stephan sprach über den Dichter Wilhelm Müller, der als Name vielleicht nicht jedem bekannt ist, aber der durch die "Winterreise", die Franz Schubert vertonte, irgendwie mit unsterblich wurde. Besonders fesselnd fand ich das anschließende Gespräch von Dr. Hazel Rosenstrauch, Prof. Dr. Hartmut Böhme sowie Prof. Dr. Inge Stephan, Spezialisten auf ihren Gebieten, miteinander in Diskussion kamen über die Interpretation einzelner Gedichte. Das hatte hohes Niveau. Alles völlig sachlich und ruhig, obwohl sie hier und da unterschiedlicher Meinung waren.

Selbstverständlich hatten wir am späten Abend des 31. Dezember des alten Jahres eine Silvesterparty mit wunderschönen Arien aus Operette und Oper, die Katharina Borsch sowie Burkhard von Puttkamer vortrugen. Begleitet wurden sie am Klavier von Katharina Landl und Alina Pronina.

"Hier und da ist an den Bäumen manches bunte Blatt zu sehn,
und ich bleibe vor den Bäumen oftmals in Gedanken stehn."

(Wilhelm Müller)

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Das frische und völlig offene neue Jahr begann für uns mit einem unvergleichlichen Nachtkonzert - der komplette Liederzyklus von der "Winterreise". Was für ein Ereignis. Wie soll man da fotografieren? In den letzten Tagen erfuhr ich so viel über diese Thematik, aus so vielen Perspektiven erklärt. Ich saß völlig bewegt und schaute auf Burkhard von Puttkamer und Katharina Landl. Jeder auf seine Weise vertieft. Vertieft in ihre "Winterreise".

Nach wenigen Stunden Schlaf sollte noch ein weiterer Höhepunkt am Neujahrstag auf uns warten. Wir erlebten den Neujahrsgottesdienst in der Schinkelkirche mit dem Pfarrer Thomas Krüger. Die musikalische Untermalung übernahmen Katharina Borsch sowie Alina Pronina. Wieder Gänsehaut. Jeder kann sich vorstellen wie wundervoll klassische Lieder, und in diesem Fall von einer Sopranistin gesungen, in einer Kirche klingen.

Die Zeit verflog wie im Fluge und auf einmal waren die drei Tage schon wieder um. Gefühlt eher eine Woche. So viel haben wir erfahren und erlebt. Ausgesprochen schön fand ich die Geschenkidee. Jeder Teilnehmer erhielt als Erinnerung an die Silvestertagung ein kleines Reagenzglas mit dem Wanderstock von Franz Schuberts "Winterreise". Eine liebevoll umgesetzte Geste. Jedes Jahr veranstalten Burkhard von Puttkamer und sein Team eine Silvestertagung im Schloss Neuhardenberg mit immer wieder neuen Themen. Wer sich dafür interessiert, kann sich auf www.zwischenakt.de informieren.

Abschließend und ganz kurz zusammenfassend kann ich nur bestätigen, die Musik adelt den Text.
 
 



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