Konzertberichte von Grit Bugasch und Steffen Huth mit Fotos von Sandy Reichel
Der erste Liedersommer ohne Rene Wiggers. "Wiggi", wie seine Freunde ihn nannten, verstarb völlig überraschend, so ziemlich genau sechs Tage, nachdem der letzte Ton des Liedersommers 2013 verklungen war. Rene war nicht nur Initiator des Liedersommers, sondern auch die integrative Figur hinter der Bühne. Seine Art mit Menschen umzugehen verschaffte ihm regelmäßigen Besuch in seinem kleinen Häuschen hinter der großen Hecke in Roggow Roll. So war seine Terrasse ein Strand des Lebens für viele Leute, die Rede und Rat suchten, die die Probleme zu Hause ließen, um bis in die Morgenstunden vor Wiggis Haus zu reden, zu träumen, zu spinnen und zu singen. War der Wein dann alle und die Sonne warf ihre Strahlen am nächsten Morgen über das Haff, war für viele seiner Besucher die Welt eine Bessere.
Als Gerhard Gundermann starb, gründete sich der Verein 'Seilschaft e.V.' - später kam die Randgruppencombo hinzu. Für Rene war es Leichenfledderei. Gundermann sollte man so in Erinnerung behalten, wie er war. Und Wiggi? Wie oft schreibe ich noch Zeilen in Erinnerung an ihn, ohne dass es grotesk wird? "Die Toten soll man begraben, sonst fangen sie an zu stinken", war der Satz eines Künstlers hinter der Bühne, der selber vor einigen Jahren einen schmerzlichen Verlust eines Musikerkollegen erfahren hatte. Doch eine Sache können wir immer weiter machen, einmal im Jahr können wir mit viel Hingabe an Rene erinnern, ohne auch nur seinen Namen auszusprechen: Wir können uns treffen am Strand vor den Toren Reriks, wir können eine Bühne aufbauen mit etwas Technik - Bier und Gebäck dazu - und mit tollen Künstlern ein Wochenende erleben, von dem wir dann noch lange Zeit zehren können. So wie früher, bei Wiggi auf der Terrasse ...
... doch vor den Preis hat uns das Leben nun mal den Schweiß gesetzt, und so mussten sich am Anfang diesen Jahres erst einmal die Leute zusammenfinden, die auch gewillt waren, unter Opferung von viel Freizeit und etwas Geld ein zweitägiges Musikwochenende zu organisieren. Genau genommen standen am Anfang nur Marit Suckow und ich da, die sich anschickten, mit den großen und kleinen Stars der Branche zu sprechen und ein Line-Up zu finden, welches dem Charakter des Liedersommers entspricht. "Deutsch sollte es sein, aber nicht nur Ostrock. Laut sollte es sein, aber mit schönen Texten und Zwischentexten, anspruchsvoll und zugleich aber allen gefallen ..." Nun hatte uns Wiggi mündlich schon ein paar Ideen übermittelt und eine davon war Angelika Mann. Also machte ich mich sechs Wochen nach Wiggis Tod auf nach Müncheberg, um die Lütte, wie sie liebevoll von ihren Anhängern genannt wird, kennenzulernen. Herzlich, fröhlich, aufgeschlossen lernte ich Angelika mit Mann Ralf kennen und als sie in Müncheberg auf der Bühne stand, war mir klar, warum Wiggi sie wollte (nachzulesen im Deutsche Mugge Bericht 01.09.2013, siehe HIER).
"Kennst Du Wingenfelder?", fragte mich Marit und hielt mir ihr Handy mit einem Mitschnitt hin. Als sie meinen fragenden Blick sah, fügte sie hinzu: "Aber Du kennst doch Fury in the Slaugtherhouse?" Die Hannoveraner, die früher ganze Stadien füllten, singen jetzt auf Deutsch und Marit machte die Mugge Nummer zwei klar.
Dirk Michaelis war schon ein Wunschkandidat von Wiggi aus dem vergangenen Jahr, und so gruben Marit und ich ihn von zwei Seiten an. Sie ging auf den Künstler zu und ich fragte Manager Axel Lorenz an. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als eine Zusage zu machen und so brauchten wir nur noch unseren traditionellen einheimischen Act.
Leo Sieg, ein Freund von Wiggi, hat schon einmal mit seiner Partnerin Nora beim Liedersommer gespielt und darüber hinaus hat er auch schon einige Radiotrailer für den Liedersommer produziert. Leo ist Drummer bei HOCHfELd, eine Band aus Kühlungsborn, in der, wie sich später herausstellte, lauter alte Bekannte spielen. So hatten wir mit HOCHfELd, Wingenfelder, Angelika Mann und Dirk Michaelis unsere Künstler beieinander.
Zu Marit und mir gesellte sich dann Susann Huth (Die Namensgleichheit ist zufällig entstanden, am 25.05.1992, aber das gehört nicht hierher). Da Marit und ich in der Woche nicht in Rerik wohnen, war Susi von nun an unsere Verbindung zur Stadt Rerik. Tja, die Stadt Rerik. Beim vierten Liedersommer haben wir es nun schon mit dem/r dritten Kurverwalter/in zu tun. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Stadtväter auf dieser für das Ostseebad so wichtigen Position zu mehr Konstanz durchringen können. Durchgerungen haben sie sich aber sehr früh, den Liedersommer 2014 auch wieder zu veranstalten. Diese schöne Nachricht gleich zu Beginn der Vorbereitungen zu hören, gab uns den nötigen Ansporn, für Rerik ein weiteres Saisonhighlight zu schaffen.
Der Mai war gekommen und wir betraten nun als Organisatoren vertraute Pfade. Unser langjähriger Grafiker Stefan Tobin Auner (sein Name wirkt, wie selbst kreiert) gestaltete, wie ich finde, das bisher schönste Liedersommerplakat, erstellte die Flyer und Eintrittskarten und ist uns schon seit Jahren eine große Hilfe bei der Gestaltung der Facebook Seite. Der Vorverkauf wird angekurbelt, Lutz Glienke unser viertes Mitglied im Orga-Team übernimmt ab jetzt die Verwaltung der Karten und Eintrittsgelder und wir erstellen eine Kalkulation. Dabei stellte ich mit Entsetzten fest, dass wir ja auch Sponsorengelder brauchen. Das hatte früher immer Wiggi gemacht. Und nun? Ich besorgte mir die alten Kontakte und sprach mit (jetzt nicht mehr) fremden Leuten über Geld für den Liedersommer. Gern würde ich hier ein paar Namen nennen, doch diese Leute sind bescheiden. Doch wer genau auf unsere Werbematerialien schaut, kann einige unserer Gönner entdecken.
Mitte Juni begannen wir mit dem Plakatieren und es fanden schöne Begegnungen in unserem Hause statt. Einmal bekamen die Besucher eine Sitzung vom Orga-Team mit und spontan fragte uns Nina Baum: "Wenn die Entfernung nach Rüthnik kein Problem darstellt, wo ist das Problem?" Von diesem Tag an unterstützen uns die Baums beim Liedersommer ... obwohl sie es schon immer taten. Aber davon wollte ich ja nicht mehr schreiben ;-) Unser Orga-Team war komplett!
Mit der Kurverwalterin Frau Quaas sprachen wir dann den Ablauf durch, Radiointerviews wurden gegeben und diverse einschlägige Tageszeitungen begannen, sich für den Liedersommer zu interessieren. "Wie geht es weiter im Jahr eins nach Wiggi?"
Freitag, 25. Juli 2014:
Die Wingenfelder waren pünktlich wie die M... usiker. Zuerst verstanden sie den Zeitplan nicht, riefen im Vorfeld an und fragten, warum sie um 13.30 Uhr schon da sein müssten, wenn sie erst um 21.30 Uhr spielen würden. Doch jetzt, als jedes Instrument mit dem Radlader zur Bühne gefahren werde musste, jeder Meter mit Handgepäck in der Strandsonne immer schwerer wurde, wussten sie, die Veranstalter machen das hier nicht zum ersten Mal. Die Jungs von HOCHfELd waren da gelassener. Sie kommen von der Küste und Frontmann Deddy hatte manchen lockeren Witz auf den Lippen.
HOCHfELd
Mit rockigen Gitarrenriffs und einem überdimensionalen Basser eröffnete die seit 2005 bestehende Band HOCHfELd den 4. Reriker Liedersommer. Die Band besteht eigentlich aus zwei Teilen, zum einen sind das Sänger Deddy Rotzoll und Gitarrist Ulf Achenbach. Ulf kenne ich aus diversen einheimischen Bands wie Desaster und Bad Penny, und Deddy ist sowas wie die Rampensau. Als sich die Band im Jahr 2008 trennte, stießen Leo Sieg an den Drums und Felix Strahl dazu. Die Zweigenerationenband lässt es krachen, die Gitarre bekommt viel Raum und die Texte von Deddy sind teilweise provokant. "Ich bin heute hier, um euch den Abend zu versauen." So kennt man Mecklenburger Humor und wenn nächstes Jahr die neue Platte erscheint, kann sich auch jeder zuhause ein Bild von HOCHfELd machen (Weiteres zum Konzertteil von WINGENFELDER findet Ihr im Bericht von Grit Bugasch).
"Der Wiggi"
Nach Renes Tod telefonierte die Schlagzeugerin Tina Powileit mit mir und hatte eine Idee. "Was hältst Du davon, wenn jeder Künstler eine Figur bekommt? Solch einen Wiggi." Sie war Feuer und Flamme und wusste auch schon, wer diese Figur erschaffen sollte. Beim Holzbildhauer Bruno Blank hatte Wiggi schon in der Scheune ein Konzert veranstaltet und auch sonst verstanden sich Wiggi und Bruno Blank prächtig. Klar fand ich die Idee toll, dachte aber auch an die damit verbundene Arbeit und wir als Orga-Team hatten ja auch schon mit der Gedenkfeier für Rene jede Menge zu tun. "Hütchen, da brauchste Dich um nüscht kümmern", sagte die lebhafte Berlinerin zu mir und organisierte den Wiggi mit ihrem Marko allein. So ist wieder eine großartige Sache rund um den Liedersommer entstanden und die Tina Powileit, die früher für mich ein Rockstar war, geht heute bei uns ein und aus.
Samstag
Der Samstag wird bestuhlt. Den Vorschlag machte Angelika Mann. "Wenn die Leute sitzen, kann ich sie besser erreichen." Also gruben wir diverse Bierzeltbänke in den Strand vor der Bühne ein. Übrigens, Angelika Mann ... Eigentlich erzähle ich ja nichts über Vertragsverhandlungen mit Künstlern, aber hier möchte ich doch einmal kurz plaudern. Als wir über die Details sprachen, sagte Angelikas Mann und Manager: "Steffen, der Preis ist nicht egal aber schön wäre es, wenn wir das ganze Wochenende hier Urlaub machen könnten." Gesagt - getan. Im Gutshaus in Roggow Roll beim alten Adel von Oertzen hatten die Lütte und ihre Musiker erholsame Tage (Weiteres zum Konzertteil von ANGELIKA MANN findet Ihr im Bericht von Grit Bugasch).
Auch Dirk Michaelis' Manager Axel Lorenz nutzte die Gunst der Stunde und machte sogar einen Wochenurlaub mit Familie (auf eigene Kosten) daraus. Und nachdem Dirk lässig durch den Strandsand zur Bühne geschlendert kam, erzählte er uns Anekdoten von Karussell bis zu Gerd Michaelis, seinem Vater. Gerd und Dirk werden auch heute noch in Programmankündigungen verwechselt und siehe da ... Wer bekam laut Ostseeanzeiger einen "Wiggi" auf der Liedersommerbühne überreicht? Richtig, Gerd Michaelis!
Dirk Michaelis
"Als ich fortging" hat er nun mal, und dieses Lied kann ihm keiner mehr nehmen. Er hat einen Welthit geschrieben. Mit 12 Jahren. Ob ihm eine Steigerung gelungen ist, indem er weltbekannte Hits mit deutscher Übersetzung von Michael Sellin und Gisela Steineckert singt, entscheidet jeder für sich allein. Die beiden "Welthit-Platten" sind bisher seine erfolgreichsten, aber für mich reicht keiner dieser Coversongs an das Original heran. Dementsprechend gespalten fand sich auch das Publikum vor der Bühne ein, die Einen wollten Welthits am Ostseestrand mit untergehender Sonne und die Anderen wollten die schönen Balladen vom Chanson bis zum Rock. Mitgebracht hat Dirk zwei Musiker, die mancher schon auf anderen Bühnen gesehen hat. Einmal ist es Jörg Weisselberg. Er ist der Gitarrist von Janette Biedermann und hat sie auch noch glattweg 2012 geheiratet. Zum anderen ist es Sören Birke an Mundharmonika und diversen "Geräuschmitteln". Ich traute meinen Augen kaum, als nach dem Konzert am Morgen bei uns zuhause Dirk Michaelis ein Notenbuch von meinem Klavier nahm und auf den Einband zeigte: "Das ist Sören." (siehe Foto links)
Dirk begann den Abend unter anderem mit dem Song "All meine Lieder", mit Liedern, die Dirk nach dem Weggang von Karussell schrieb und mit denen er seine Solokarriere meisterte, an die seine ehemalige Band KARUSSELL nicht mehr heranreicht. Es kamen die Welthits und natürlich seine schönen Balladen, z.B. wie "Stilles Dorf". Die alten Lieder waren eigentlich nur "Als ich fortging" und der Hit, den Dirk für KARUSSELL groß gemacht hat: "Wie ein Fischlein unterm Eis". A cappella am nunmehr tiefschwarzen Sand an Reriks Ostseeküste. Dieser Song, der aus der Feder von Renfts ehemaligem Schlagzeuger Jochen Hohl stammt, beschließt den 4. Reriker Liedersommer. Dirk war danach noch lange unter den begeisterten Zuschauern beim Schreiben von Autogrammen zu sehen.
Vielleicht sehen wir Dirk wieder, denn wer einmal beim Liedersommer auftrat, darf ruhig wiederkommen. Die Freundschaften, die beim Liedersommer vor der Bühne entstanden sind, dürfen sich auf der Bühne ruhig fortsetzen. Es ist auf keinen Fall ein Ausschluss-Kriterium, dass, wer einmal beim Liedersommer auftrat, nie wiederkommen darf.
Unterm Strich ...
... bleibt zu sagen: Es war schön! Ich sah Leute wieder, mit denen ich nicht im Entferntesten gerechnet hatte. Mein langjähriger Jugendfreund Axel kam mit Ehefrau aus Münster, der Veranstalter vom Dorfrock Schmadebeck Rüdiger Kropp schaute um die Ecke, Rüdiger Lübeck von der Deutschen Mugge mit seiner Frau habe ich Ewigkeiten nicht gesehen und doch - es kamen zu wenig Zuschauer. 30 Kilometer weiter konnte man am Strand Bosse, Milow und Revolverheld ohne Eintritt erleben, und so blieben wir mit 200 Zuschauern pro Abend hinter unseren Erwartungen zurück. Klar hätten wir den Liedersommer früher machen können, aber da wurde an diesem Strandabschnitt noch Munition aus dem 2. Weltkrieg beräumt. So bleibt mir nur zu sagen: Wenn jeder, der beim 4. Liedersommer in Rerik dabei war, nächstes Jahr jemanden mitbringt, macht es doppelt so viel Spaß.
Bis dahin, Euer Steffen, Orga-Team Liedersommer Rerik.
Montag, 14.07.2014: Das Versprechen vom letzten Jahr steht und die Ferienwohnung ist schon lange gebucht. Ein Ticket habe ich diesmal zwar noch nicht, aber die Veranstalter meinen, der Strand sei groß genug und somit Platz für alle, die gern live dabei sein wollen. Ich freue mich also auf die Fortsetzung, auf ein neues wunderbares Musikwochenende am schönsten Konzertstrand der Welt. Nur noch zehn Mal schlafen - mein persönlicher Countdown läuft.
Mittwoch, 23.07.2014: Manchmal kommt es ganz anders, als man denkt. Plötzlich war's das mit der Vorfreude, denn mein Wochenende in Rerik steht auf der Kippe. Zwei Stimmen streiten sich in meinem Kopf. Ich entscheide mich dafür, auf die eine zu hören und hoffe, dass es die Richtige ist ...
Freitag, 25.07.2014: Glück gehabt! Mit Verspätung, aber doch noch rechtzeitig starte ich am frühen Morgen an die Ostsee. Von jetzt an läuft alles glatt. Nach drei Stunden Fahrt nur schnell das Gepäck ausladen und ab an den Strand. Bis zum Konzert heute Abend bleibt glücklicherweise noch genug Zeit, die angenehmen Seiten des Lebens am Wasser zu genießen. Die Sonne freut sich wie ich auf dieses Wochenende und strahlt mit mir um die Wette.
Tief durchatmen. Sonne, Wind und Meer inhalieren. Was gibt es besseres für einen Start ins Wochenende ... Nach einem tiefenentspannten Nachmittag am Strand mache ich mich am frühen Abend wieder auf den Weg dorthin. Die Parallelen zum letzten Jahr sind unverkennbar. Die Bühne steht auch diesmal direkt auf dem wunderbaren Sandstrand am Wustrower Hals, es ist bestes Open Air-Wetter und ich treffe viele bekannte Gesichter, die sich gutgelaunt auf einen rockigen Abend freuen. Man kennt sich, man begrüßt sich und man freut sich ...
Die Eröffnung übernimmt diesmal Steffen Huth und tritt damit quasi ganz offiziell in die Fußstapfen von Rene Wiggers. Der Initiator des Reriker Liedersommers war nur wenige Tage nach dem letztjährigen Liedersommer völlig überraschend verstorben. Doch das Orga-Team hat die Geschäfte in Wiggis Sinne weitergeführt und so ist er auch in diesem Jahr immer mit dabei. Nicht physisch greifbar, aber in den Köpfen und den Herzen, mit einem Gruß am Bühnenrand, als Wetterverantwortlicher im Orga-Team und und und. Leider ist es anfangs noch nicht besonders voll, aber ich hoffe, der Besucherzustrom hält noch etwas an. Als Steffen erklärt, dass dies hier ein besonderes Festival für ganz spezielle Gäste ist, nehmen wir das als Stichwort und gehen weiter vor in Richtung Bühne, wo es gleich losgeht - mit HOCHfELd (weiteres zum Konzertteil von HOCHfELd findet ihr im Bericht von Steffen Huth).
Dramaturgisch günstig in den Zeitplan eingepasst, dürfen wir in der Pause einen wunderbaren Sonnenuntergang erleben. Nachdem sich der Himmel am Nachmittag immer weiter zugezogen hatte, war damit gar nicht zu rechnen. Umso schöner ist es jetzt. Im letzten Jahr gab es die Variante in Orange, heute dominieren unglaublich intensives Pink und Violett. Wir stehen einfach nur am Strand, bestaunen und genießen dieses traumhafte Naturschauspiel. Nachdem der Radlader die HOCHfELd-Technik durch die Dünen abtransportiert hat und auf der Bühne alles für den zweiten Teil dieses Abends gerichtet ist, wird das umgesetzt, was vorher bereits angekündigt wurde. Es geht um die Etablierung einer neuen Tradition innerhalb des Reriker Liedersommers. Tina Powileit hat die Anregung hierzu gegeben und sich zugleich um die Umsetzung gekümmert. Und deshalb ist sie auch diejenige, die heute die ersten beiden Exemplare des "Wiggi" an die Bands dieses Abends überreicht. Der "Wiggi" ist eine Skulptur, geschaffen und gesponsort vom Holzbildhauer Bruno Blank. Er symbolisiert die Verbindung von Strand, Musik und Meer und soll die Musiker immer an ihr Konzert vor dieser einmaligen Kulisse erinnern. Und natürlich soll der "Wiggi" auch an Rene Wiggers erinnern. Der Kommentar von Kai Wingenfelder lässt mich grinsen: "Das ist das erste Mal, dass wir einen Preis bekommen, bevor wir etwas gemacht haben. Aber den hier werden wir gleich noch abarbeiten."
Das tun sie dann auch direkt im Anschluss. Und so starten wir mit WINGENFELDER in den Teil des Abends, auf den ich mich am meisten gefreut habe. Augenscheinlich mögen die Jungs ihren heutigen Arbeitsplatz, denn gleich zu Anfang fragen sie, wie viele Reriker hier anwesend sind. Es sind nur wenige Hände, die nach oben gehen, aber an genau die richtet Kai seinen Auftrag: "Und ihr sechs Reriker, genau ihr sorgt dafür, dass das hier im nächsten Jahr wieder stattfindet." Vom Publikum ernten sie absolute Zustimmung für diesen Auftrag wie auch für ihre nun folgenden Songs. Sie spielen und sind vom ersten Moment an präsent. Die Jungs auf der Bühne wissen ganz genau, was sie tun und sie lieben es offensichtlich. Dabei dominieren die Jungs in der ersten Reihe - besetzt mit Kai Wingenfelder (voc, git), Thorsten Wingenfelder (voc, git, bj, md), Norman Keil (git) und Volker Rechin (bg, mharm) - ganz klar die Szene. Was nicht heißt, dass Alex Blum (keyb) und Benny Glass (dr) ihren Job in der zweiten Reihe schlecht machen würden, im Gegenteil.
Sie spielen vor allem die Songs vom 2013er Album "Selbstauslöser" und vom Vorgängeralbum "Besser zu zweit". Mit letzterem haben die WINGENFELDER-Brüder nach der Ära mit "Fury in the Slaughterhouse" und ihren jeweiligen Soloaktivitäten quasi einen kompletten Neustart gewagt und gewonnen, was nicht allzu vielen Bands gelingt. Und dabei haben sie gemerkt, dass es eben doch besser ist zu zweit. Mit den deutschen Songtexten singen sie nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern wirken auch offener und authentischer, irgendwie erwachsen geworden. In ihren Songs verarbeiten sie die Themen, die sie bewegen, sei es in "Dinge die wir nicht verstehen", "Mensch Paul", "Die Wand" oder "Zu wahr um schön zu sein". Dass auch der eine oder andere augenzwinkernde Blick zurück nicht fehlt, zeigen Songs wie "Klassenfahrt", "80's girl" oder der Fury-Klassiker "Won't forget these days". Geblieben ist der kompakte, üppige Gitarrensound, der schon immer typisch war für die Musik der WINGENFELDER-Brüder.
Einzigartig, genial und einfach überzeugend ist die Mischung in der Bandbesetzung. Norman Keil ist ein bisschen Publikumsliebling und ein bisschen Klassenclown, vor allem aber ein super Typ und klasse Musiker. Nicht umsonst nehmen die WINGENFELDER-Brüder ihn Anfang 2015 mit auf ihre kleine Trio-Akustik-Tour. Völlig anders wirkt dagegen Volker Rechin, eher wie der Fels in der Brandung. Sein Bassspiel klingt souverän und intensiv, aber wenn er die Mundharmonika auspackt, ist von Zurückhaltung nichts mehr zu spüren. Der Funke zündet und springt sowohl auf das Publikum, als auch auf die anderen Musiker über. Irgendwie scheint der Platz auf der Bühne nicht mehr auszureichen. Während Thorsten Wingenfelder von einer Ecke zur anderen wirbelt, springt Kai immer mal wieder runter auf den Strand und genießt den direkten Kontakt zum Publikum. Solide und unaufgeregt spielt Alex Blum seine Keyboards und steuert so seinen Anteil zum vollen Klang bei. Das tut auch Benny Glass, der seine Drums präzise und druckvoll mit Händen und Füßen bearbeitet. Dabei hat er selbst bei höchster Taktfrequenz und Konzentration doch immer noch ein Lachen im Gesicht.
Sie scheinen sich gegenseitig zu beflügeln und genießen die besondere Atmosphäre offenbar genauso wie wir. So sieht es aus, wenn Menschen ihren Job, ihre Musik lieben. Kai Wingenfelder bringt es auf den Punkt: "Das ist einer dieser ganz besonderen Tage. Dafür lohnt es sich auch, früh um 5 Uhr aufzustehen und 600 km nach Rerik zufahren." Das (leider) nicht so große, aber dafür schwer begeisterte Publikum dankt ihnen den Einsatz auf seine Weise. Zu den lauthals geforderten Zugaben lassen sie sich denn auch nicht lange bitten. Songs wie "Time to wonder" oder "Trapped today, trapped tomorrow" passen einfach zu der außergewöhnlichen Atmosphäre hier am Strand. Das ist Gänsehaut total, da richtet sich jedes Haar einzeln auf und vibriert im Takt. Tausend Dank an WINGENFELDER für dieses grandiose Konzerterlebnis. Das war mein persönliches Highlight - ja, das war einer dieser Abende, die lange bleiben.
Samstag, 26.07.2014: Die Nacht war lang und intensiv, die Gespräche ausgiebig und interessant, der Schlaf kurz und irgendwie nicht ausreichend. Da ist es wohl am besten, den Samstag ganz ruhig angehen zu lassen. Nach einem entspannten Frühstück zieht es mich wieder an den Strand - warum auch sonst sollte man an die Ostsee reisen. Aber bevor wir uns in die musikalische Fortsetzung stürzen, bleibt ausreichend Zeit, die musikalischen Ereignisse des letzten Abends und die nächtlichen Gespräche auf Wiggis Terrasse Revue passieren zu lassen. Und so gelingt ganz mühelos der Übergang zum zweiten Liedersommer-Strandabend.
Als Steffen Huth die Gäste zur Fortsetzung begrüßt, steht er etwas gebeugt am Mikrofon. Doch das ist nicht etwa den Anstrengungen des Vorabends, sondern vielmehr dem nächsten musikalischen Gast zuzuschreiben. Nicht umsonst wünscht er sich mit einem augenzwinkernden Blick zum Bühnenrand, "dass unsere Künstler künftig auch wieder größer werden". Sie kann darüber lachen, schließlich weiß sie ganz genau, dass die Körpergröße nicht das entscheidende Kriterium ist. Und wir wissen es auch und begrüßen lachend ANGELIKA MANN - die "Lütte" mit der großen Stimme und dem großen Herzen - und ihre Mitstreiter Uwe Matschke (keyb) und Udo Weidemüller (git).
Die Frau ist für mich ein Phänomen - mit einem strahlenden Lächeln steht sie auf der Bühne und zieht das Publikum sofort in ihren Bann. Sie ist warmherzig, fröhlich, rockig, sanftmütig, nachdenklich, eindringlich, absolut vielseitig und authentisch. Sozusagen ein Tausendsassa, ein Hansdampf, ein Teufelskerl - oder sagt man in diesem Falle eher Teufelsbraut? Was sie tut, tut sie aus Überzeugung und aus vollem Herzen. Schon nach kürzester Zeit hat sie uns mitgenommen in ihre Welt und erzählt uns aus ihrem Leben, als wären wir schon lange gute Bekannte. Sie erzählt von ihren vielfältigen musikalischen Erfahrungen in Musikstudios, auf Theaterbühnen und bei Konzerten. Von Episoden auf Tour, von Festivals und kleinen netten Begebenheiten am Rande. Die Fülle der Songs widerspiegelt die Fülle der Erlebnisse - sie weiß, alles hatte bzw. hat seine Zeit. Und all das, was sie erlebt hat, macht sie zu dem, was sie heute ist. Dabei vergisst sie auch nicht ihre langjährigen musikalischen Begleiter und sorgt auf ihre unnachahmliche Weise dafür, dass die beiden auch ihren Anteil vom Beifall bekommen.
Ihre Geschichten und Songs sind aus dem Leben gegriffen - aus ihrem eigenen Leben und irgendwie auch aus dem des Publikums. Das "Küsschenlied" ist ein gutes Beispiel dafür. Geschrieben einst als Kinderlied für Reinhard Lakomys Geschichtenlieder rund um den "Traumzauberbaum", begeistert ANGELIKA MANN noch heute damit. Viele singen es mit, viele erinnert es an ihre Kindheit und hoffentlich auch daran, dass es sich mit einem fröhlichen Lächeln viel besser in den Tag starten lässt. Bei aller Freundlichkeit ist sie doch auch bestimmt und wusste schon früh ganz genau, was sie will. In ihrem Song "Ich wünsch mir ein Baby sehr" hat sie bereits in den 70er Jahren den damals ungewöhnlichen Wunsch besungen, dass sie gern ein Kind hätte und einen Mann dafür sucht. Mitten aus dem Leben gegriffen ist auch "Komm, weil ich dich brauch", mit dem sie zeigt, dass sie neben lauten und fröhlichen Liedern auch ernste und nachdenkliche singt. Und es ist auch ein typisches Beispiel für die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit von ANGELIKA MANN. Den einmal geäußerten Wunsch aus dem Orga-Team hat sie aufgenommen und direkt im Programm umgesetzt. Genau diese kleinen wunderbaren Gesten sind es, die die herzliche Art und die besondere Größe der Lütten ausmachen.
Ihr Programm ist voll gepackt mit Liedern und Emotionen und dabei hätte sie noch so viel mehr zu geben. Sie wirkt wie ein Bündel nicht enden wollender Energie, ist voller Pläne und Ideen. Sie berichtet von ihrer jahrelangen Zusammenarbeit mit Reinhard Lakomy, von den Liedern, die einst der blutjunge Andreas Bicking für sie schrieb, genauso wie von den eigentlich niederschmetternden Erlebnissen bei einem Songfestival vor etlichen Jahren. Aber was es auch immer war, sie wirkt dankbar für alle diese Erfahrungen und hat stets die positiven Aspekte für sich bewahrt. Sie spricht von ihren aktuellen Theaterplänen und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie ganz locker 48-Stunden-Tage bewältigen könnte. Sie passt in keine Schublade und sie braucht auch keine. Auch sie genießt die ganz besondere Atmosphäre am Strand und präsentiert das dazu passende "Wellenlied", das sie noch nie vor so passender Kulisse gesungen hat. Und nachdem sie zum Ende mit "Mary Stuart" und "Liebes Tagebuch" zwei meiner Favoriten gesungen hat, beschert sie dem lauthals klatschenden, pfeifenden und trampelnden Publikum (ok, letzteres ist im Strandsand nicht so gut zu hören) als Highlights noch das legendäre "Champuslied" und den Janis Joplin-Klassiker "Mercedes Benz". Viel mehr geht nicht und so wird sie denn auch formvollendet mit einem Handkuss von der Bühne verabschiedet.
Nach der anschließenden Umbaupause hat wie schon am Vorabend Tina Powileit wieder ihren Auftritt, als sie die beiden "Wiggis" dieses Abends an ANGELIKA MANN und DIRK MICHAELIS überreicht. Und im Hintergrund läuft wieder die perfekte Inszenierung - der Sonnenuntergang schillert in den schönsten Farben, wie goldfließende Lava. Der passende Übergang zu DIRK MICHAELIS und seinen Songs, nicht nur zu dem vom "Feld aus Gold" (weiteres zum Konzertteil von DIRK MICHAELIS findet ihr im Bericht von Steffen Huth).
Sonntag, 27.07.2014: Mein Lerneffekt vom vorigen Jahr: Möglichst nicht gleich am Sonntag wieder nach Hause fahren. Und so nutze ich den Tag zum Ausruhen und Ausklingenlassen. Später am Abend gönne ich mir noch einen Abschiedsspaziergang an der Steilküste. Komisch, dass der Himmel auf einmal anfängt, zu weinen ... Morgen früh geht es wieder zurück nach Berlin. Aber die Eindrücke und Emotionen von einem wunderbaren Open Air-Wochenende in der schönsten Konzertlocation der Welt bleiben. Bis zum nächsten Jahr, dann werden sie hoffentlich wieder aufgefrischt. Das Orga-Team hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet und eins ist sicher: Nach dem Reriker Liedersommer ist vor dem Reriker Liedersommer! Der Termin für 2015 steht schon in meinem Kalender :-)
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Bitte beachtet auch:
• off. Homepage von HOCHfELd: www.hochfeld-band.de
• off. Homepage von Wingenfelder: www.wingenfelder.de
• off. Homepage von Angelika Mann: www.angelika-mann.de
• off. Homepage von Dirk Michaelis: www.dirk-michaelis.de
• Homepage vom Veranstalter: www.liedersommer-rerik.de
• off. Homepage von HOCHfELd: www.hochfeld-band.de
• off. Homepage von Wingenfelder: www.wingenfelder.de
• off. Homepage von Angelika Mann: www.angelika-mann.de
• off. Homepage von Dirk Michaelis: www.dirk-michaelis.de
• Homepage vom Veranstalter: www.liedersommer-rerik.de
Fotostrecke:
Beobachtungen am Rande ...
Auftritt: HOCHfELd
Auftritt: Wingenfelder
Auftritt: Angelika Mann
Auftritt: Dirk Michaelis