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Grit Bugasch Fotos: Grit Bugasch, Matthias Ziegert, Pressematerial (Foto in der Kopfgrafik) |
Klar zum Nachtflug
Das Leben eines mit dem SILLY-Virus infizierten Musikfreundes ist wahrlich nicht leicht. Einmal gilt es, lange Phasen der Abstinenz unbeschadet zu überstehen und ein anderes Mal mit akut auftretenden Virusschüben fertig zu werden. Da gibt es nur ein Mittel - SILLY live und zwar in hoher Dosierung. Also verordnen wir uns nach dem beeindruckenden Ereignis in der Dresdner 'Jungen Garde' eine weitere Dosis der Live-Droge. Zwar haben wir uns schon so manches Mal gefragt, ob es nicht langweilig für die Musiker ist, dauernd die gleichen Gesichter in der ersten Reihe zu sehen. Aber diese Zweifel hat uns Ritchie genommen, als er uns in Dresden sagte, die vertrauten Gesichter in der ersten Reihe geben ihnen ein gutes Gefühl.
Für dieses gute Gefühl wollen wir wieder sorgen. Kurzerhand werden neue Tickets besorgt und so sind wir eine Woche später unterwegs nach Leipzig. Die Infizierten sammeln sich schon am Nachmittag vor der Bühne im Clara-Zetkin-Park zur gemeinsamen Therapie. Wie üblich gibt es jede Menge zu erzählen, schließlich haben wir uns eine ganze Woche nicht gesehen.

Den Startpunkt setzen RAUSCHENBERGER. Dass sie aus Hannover kommen, lässt uns Daniel Rauschenberger (Gesang und Gitarre) wissen und dass sie froh sind, wenn bei dieser Ansage nicht die in Hamburg üblichen Buh-Rufe ertönen. Das bleibt ihnen hier erspart und so ist ihnen Leipzig auf Anhieb sympathisch. Die Sympathie scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen - unterstützt von Gitarrist Lars Erhardt, Bassist Christoph Dubbel und Timon Schempp am Schlagzeug präsentieren RAUSCHENBERGER eine Kostprobe des aktuellen Albums "Alles fließt". Ihre Musik steht für deutsche Texte, unterlegt mit gitarrenlastigem melodischem Pop-Rock. In Songs wie "Hannover, nicht Hollywood" oder "Großstadtleben" erzählen sie vom alltäglichen Leben. Von der Welt, die sich immer schneller dreht und davon, wie wichtig es ihnen ist, die kleinen Dinge des Alltags zu sehen und zu schätzen.
Als sich die Pause nach dem üblichen Umbau in die Länge zieht, bleibt das Publikum erst recht geduldig. Bis sie kurz nach 20:00 Uhr den Musikern auf ihre Art mitteilen, dass es an der Zeit ist, loszulegen. Mit der inzwischen schon vertrauten Soundcollage geht es los. Die Kombination ungewohnter Klänge sorgt dafür, dass sich die volle Aufmerksamkeit auf die Bühne richtet. Und bei mir setzt wie üblich spontan Gänsehaut ein. Mit lautem Johlen, Klatschen und Pfeifen werden die Musiker auf der Bühne begrüßt und wie erwartet, legen sich Anna Loos, Uwe Hassbecker, Jäcki Reznicek, Ritchie Barton, Ronny Dehn, Daniel Hassbecker und Herr Petereit gleich voll ins Zeug.

Überall strahlende Gesichter - auch bei "Lotos" klappt der Publikumschor wunderbar. "So und nicht anders, nicht anders sind wir. So sind wir geworden und so bleiben wir. Wir machen sie so und sie werden wie wir. Jeder für sich - ein blinder Passagier." Aus Tamaras Text höre ich meine ganz persönlichen Doppeldeutigkeiten heraus. Er passt für mich bestens ins Hier und Heute. Und irgendwie ist das alles kein Wunder. Anna erzählt vom "Neubeginn" der SILLY-Geschichte und von der besonderen Verbindung zu Leipzig. Schließlich fing mit dem "SOKO Leipzig"-Dreh im Jahr 2009 (Bericht darüber siehe HIER) vieles an und der eine oder andere kann sich genau daran erinnern, weil er damals hautnah dabei war. Bei "Erinnert" tauchen wir ein in die Vergangenheit und in die verträumte Melodie.

Als Ritchies wunderbare Pianotakte erklingen, verkünden sie den Auftakt zu "Asyl im Paradies". Dann setzen Gitarren, Bass und Schlagzeug ein. Ich liebe die steigende Intensität dieses Songs - einfach die Augen zu und in vollen Zügen genießen. Der Titelsong des Albums, das sie nie live mit Tamara spielen konnten und das gerade deshalb auf so unverbrüchliche Weise mit ihr und dem Schicksal dieser Band verwoben ist, erstrahlt live endlich wieder in voller Schönheit und Länge. Ein weiteres Highlight des Konzertes ist für mich "Vaterland". Absolut genial und äußerst eindrucksvoll umgesetzt. Die orientalisch anmutenden Klänge von Uwes kretischer Lauto und Annas gefühlvolle melancholische Stimme bilden für mich eine passende Kombination, die den Finger direkt in die Wunde legt. Plötzlich verlassen alle ihre angestammten Plätze - außer Ronny, der an seinen Drums bleibt. Die kraftvolle Leidenschaft der Trommeleinlage von Daniel, Jäcki, Anna, Reini und Ritchie an den eigens dafür auf der Bühne platzierten Standtoms verschlägt einem fast den Atem. Voll anklagender Wut trommeln sie die dumpfen Töne in den friedlichen Abendhimmel heraus, untermauert von den archaischen, an das Kriegsgeheul früherer Schlachten erinnernden Gesängen.

Danach geht es in eine vermeintlich ruhigere akustische Runde, die jedoch nicht weniger intensiv ist. Wie schon während des ganzen Abends werden einmal mehr die Arbeitsgeräte getauscht. Jäcki lässt die Saiten seines E-Kontrabasses vibrieren und Uwe wechselt zu den Akustikgitarren. "Unter uns waren wir zuhause. Deine Träne war mein Leid und dein Lachen war mein Glück." Mit "Blutsgeschwister" habe ich es nicht leicht, weil der Song für mich mit ganz persönlichen Erinnerungen und Empfindungen verbunden ist. Der Text bringt es auf den Punkt: Manchmal trennen sich miteinander verschlungene Wege voneinander und langjährige Freunde sind einfach nicht mehr da. Und doch fällt es schwer, das zu akzeptieren. Der Ausflug in die SILLY-Schatzkiste schließt sich da wunderbar an. "Bye, bye, my love. Ich will nur einmal mit den Vögeln zieh'n. Bye, bye, my love. Ich komme wieder, wenn die Wiesen blüh'n." Hier kommen wir in den seltenen Genuss von Uwes wundervollem Spiel auf der Geige, das diesen Titel so unverkennbar macht. Auch bei "Traumpaar" führen schon die ersten Takte zu spontanem Applaus - für den einen oder anderen mag es eine Verbindung zur heutigen Zeit geben. Der Ausflug in die SILLY-Vergangenheit wird abgerundet mit "Wo bist du", der zu Annas erklärten Lieblingen gehört.
Als Gäste kann und will man Daniel, Ronny und Herrn Petereit, die beim nächsten Titel wieder einsteigen, nicht wirklich bezeichnen. Mit ihrem Einsatz an den Keyboards, Cello und Gitarre, an den Drums sowie an den Gitarren schätzen wir sie seit langem als festen Bestandteil der Live-Besetzung.

Mit dem passenden Gastgeschenk aus Berlin halten sie das Feuer am Kochen. "Mitten in der City, zwischen Staub und Straßenlärm, wächst 'ne grüne Beule aus'm Stadtgedärm." Es ist einer der grandiosen SILLY-Klassiker, der auch heute die Begeisterung spüren lässt. Das pulsierende Leben der Großstadt wird greifbar und die urbane Kraft bricht sich ungebremst Bahn, so dass sie förmlich über die Bühne fliegen. Uwe, Jäcki und Reini bringen die Saiten zum Glühen. Und Ritchie geht hinter seinen Keyboards so tief in die Knie, dass er einige Male fast aus unserem Sichtfeld verschwindet. Ronny, die Trommelmaschine hinter Plexiglas, arbeitet unter Hochdruck, als gäbe es kein morgen. Und sogar der Hocker an Daniels Arbeitsplatz ist auf wundersame Weise verschwunden, damit es in dieser heißen Phase keinen Schaden gibt. Einzig Anna hat mit ihrem "Instrument" volle Bewegungsfreiheit und nutzt die auch, um von einer Bühnenseite zur anderen zu fliegen. Bei aller Ekstase verlieren sie nie den Faden und so findet Uwe glücklicherweise immer mal den Weg zum Bühnenrand, wo er uns seine genialen Gitarrenriffs um die Ohren schleudert.
Bei "Atlantis", einem meiner Lieblingstitel des aktuellen Albums, darf weiter gerockt werden. Ganz egal, ob in der ersten oder zweiten Reihe - es ist klar erkennbar, dass sie sich alle wohl fühlen da oben. Wir amüsieren uns über die kleinen Frotzeleien, die es zu beobachten gibt: Sei es Daniel, der ganz nebenbei Ronny imitiert. Sei es Anna, die das hilfreiche Crew-Mitglied wegfängt, das ihren umgestoßenen Mikroständer wieder aufrichtet.

Inzwischen hat es Anna aufgegeben, von Uwe das erwünschte "Ja" zu hören, um zum nächsten Titel überzuleiten. Aber auch das Publikum tanzt nicht geschlossen nach ihrer Pfeife. Als sie verlangt, "Sagt mal Ja!", antworten etliche Gäste mit einem lauten "Nein". Dabei wissen wir längst, was kommt. "Ich sag nicht Ja" ist die Aufforderung, sich gut zu überlegen, was man so von sich gibt. Bei diesem Titel wird der Gitarrensound noch intensiver, denn Uwe wechselt zu seiner doppelhalsigen roten Wunderwaffe und auch Daniel tauscht seine Keyboards gegen die Gitarre ein. Zu überlegen, was man sagt und tut, gilt umso mehr im Wahljahr. Die leicht gelangweilte Reaktion des Publikums steht beispielhaft für das schwindende Interesse an der Politik. Also erklärt Anna mit aller Deutlichkeit, wovor Politiker Angst haben - "Deine Stimme" ist gefragt und zwar die jedes einzelnen. Um zu testen, ob wir wirklich verstanden haben, worauf es ankommt, sollen wir den Refrain übernehmen. Und weil das zum Konzertbeginn so gut geklappt hat, will sich das Publikum auch jetzt nicht lumpen lassen. Ein paar Mal geübt wird der Gesang Dank des Ansporns und der fabelhaften Dirigenten auf der Bühne unüberhörbar; "Gib mir deine Stimme, lass sie mich von weitem hör'n. Schick sie in den Himmel und du wirst ein Echo spür'n."

Als Uwe dann zu seiner feuerroten Düsenberg greift, wissen Eingeweihte, dass hier gleich alle abheben. "In mir drin ist alles rot, das Gegenteil von tot." Mit rotem Bühnenlicht als farblich passendem Rahmen bestätigen die SILLYs, was sie eben schon so eindruckvoll bewiesen haben. Und wie lebendig diese Band ist... "Alles rot" ist nicht nur der Titelsong des 2010er Albums, sondern auch ihr Lebensmotto - Vollgas auf allen Positionen. Um nicht überrannt zu werden, "flüchtet" Anna zu Daniel und verstärkt im Instrumentalteil die Fraktion an den Keyboards. Das ist wohl besser so, denn vorn drehen vor allem Uwe und Jäcki Runde um Runde, bis sich letztlich alle auf den wilden Drummer fokussieren. Ronny trommelt, was Drumsticks und Felle hergeben - als gelte es, den Plexiglaskäfig von der Bühne zu fegen. Der Druck steigt unaufhörlich, bis sich die Spannung in hochfliegenden Sprüngen von Uwe, Jäcki und Reini auflöst. Plötzlich ist es vorbei und als wäre nichts gewesen, stehen sieben fröhlich strahlende Gesichter am Bühnenrand und verbeugen sich zum Dank für diesen heißen Abend.

Da wir uns wie so oft nach dem Konzert nicht spontan voneinander trennen können, verlängern wir die Nacht noch ein Weilchen. Vor der Parkbühne wird die Runde fortgesetzt - es wird jede Menge erzählt, gesungen und laut gelacht. Als dann irgendwann der Bus mit den Musikern an uns vorbei fährt, wird es auch für uns Zeit, den Clarapark zu verlassen und die Runde der SILLY-Verrückten schweren Herzens aufzulösen. Auf der nächtlichen Rückfahrt nach Berlin lassen wir den Abend und die vielfältigen Eindrücke Revue passieren. Die vielen Kleinigkeiten, die jeder einzelne aufgenommen hat, werden zusammengetragen und zu einem bunten eindrucksvollen Bild verwoben, das wir in unseren Köpfen und Herzen nach Hause tragen.
Bitte beachtet auch:
- off. Homepage von SILLY: www.silly.de
- Portrait über SILLY: HIER
Live-Impressionen
Rauschenberger
SILLY