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Tino Eisbrenner

lp5 20130104 1448301987 lp6 20130104 1403127137 lp7 20130104 1866924481 lp8 20130104 2021140336






001 20130104 1589240989Fragte man mich als gebürtigen Wessi, wann und womit ich Tino Eisbrenner zum ersten Mal gesehen oder gehört habe, würden viele vielleicht vermuten, dass es nur mit Jessica und dem Lied "Ich beobachte Dich" zusammenhängen kann. Das wäre logisch, denn dieser Song war und ist ein Überhit, ein sogenannter All-Time-Classic und sehr bekannt. Die Band Jessica war damals ein Publikumsmagnet, eine der frischen und jungen Bands der DDR und ist auch lange nach ihrer Auflösung noch vielen Leuten in guter Erinnerung. Aber genau das habe ich alles verpasst. Ich habe Eisbrenner erst Mitte der 90er "entdeckt", und zwar als Solist. Richtig wahrgenommen habe ich erst sein '99er Werk "Stark sein" und ich wusste da noch nichts von all dem Trubel, den er schon erlebt hatte und den Erfolgen, die er schon feiern durfte. Erst danach erfuhr ich von Jessica, der "roten Mütze" und seinen anderen Arbeiten. Vielleicht ist es gerade das, warum ich in ihm nie das einstige Teenie-Idol gesehen habe, das nach der Wende versuchte, dieses Klischee abzustreifen und das letztlich auch erfolgreich geschafft hat. Eisbrenner ist ein Musiker, der nicht nur mit seiner Stimme zu begeistern weiß. Seine Kreativität in Sachen Texte sind auf einem Level einzustufen mit denen von Rio Reiser, Herwig Mitteregger oder auch Heinz Rudolf Kunze, mit dem ihn letztlich sogar mehr verbindet als nur eine gewisse Kollegialität. Tinos Spielfeld ist die deutsche Rock- und Popmusik und gleichermaßen auch die Weltmusik. Seine Spielzüge sind einzelne Lieder mit Tiefgang, Botschaft und Anspruch - seine Handschrift stets deutlich erkennbar. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass er als junger Musiker einst die Lieder von THE POLICE nachsang. Doch das ist lange her. Genauer gesagt 30 Jahre! Und wenn so ein runder Geburtstag ansteht, dann muss dieser auch würdig begangen werden. Es gibt deshalb seit Ende März nicht nur eine neue Doppel-CD mit alten, neuen und bekannten Liedern aus seiner Karriere, sondern an dieser Stelle auch ein sehr umfangreiches, aber eben wegen seiner langen und bunten Karriere längst nicht vollständiges, biographisches Interview. Es war klar, dass wir mit Tino über die Stationen seiner Karriere sprechen mussten. Es war auch klar, dass ich ihn ganz sicher nicht nach seiner "roten Mütze" fragen würde (außer vielleicht demnächst, ob er sie uns nicht für die Benefizauktionen zu Gunsten der Kinderhilfe Afghanistan überlassen möchte), schließlich gibt es weit wichtigere Themen, über die man sprechen muss. Nach einem der letzten bei uns veröffentlichten Interviews mit einem alten Weggefährten gab es aber obendrein auch noch einen anderen Grund, ein längeres und klärendes Gespräch zu führen. Das Ergebnis könnt Ihr hier nachlesen...
 



Hallo Tino! Ein Jahr mit einem runden Geburtstag: 30 Jahre Tino Eisbrenner auf der Bühne. In den 30 Jahren hast Du in Interviews sicher schon fast alles beantwortet. Welche Frage kannst Du nicht mehr hören oder hast keinen Bock mehr, drauf zu antworten?
Diese Fragen gibt's nicht. Ich bin so geschult, dass ich mein Gegenüber insofern achte, als ich auch seine Fragen respektiere. Und wenn die eine oder andere Frage von ihm noch einmal gestellt werden möchte, dann nur zu... Eine vielgestellte Frage ist z.B. die: "Hast Du denn die rote Mütze noch?" Die beantworte ich natürlich auch immer wieder... (lacht)

 

jessica1985 20130104 1046391552Du wirst es mir aber sicher nachsehen, wenn ich diese Frage heute nicht stelle. 30 Jahre zurück hatten wir das Jahr 1981. Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Auftritt, also Dein erstes eigenes Konzert erinnern? Wo und wann genau war das? 
Das ist ein bisschen diffus, denn damals kamen innerhalb weniger Monate ganz viele Ereignisse schnell hintereinander. Darum weiß ich heute ehrlich gesagt nicht mehr ganz genau, welcher Auftritt denn nun wirklich der erste war. Es war auf jeden Fall ein Auftritt in einem dieser sogenannten "Fresswürfel". Das waren die in den Neubaugebieten von Ostberlin in Würfelform gebauten "Klub-Gaststätten". Die nannten wir immer "Fresswürfel". Da gab es einen DJ, ich glaube er hieß Thomas Fregin, der uns immer im Keller proben gehört und sich deshalb etwas überlegt hatte. Er meinte zu uns: "Mensch, Ihr könntet mir einen Gefallen tun: Ihr spielt so geil Police nach, könntet Ihr nicht in meinem Programm mit auftreten?" Er wollte in sein Diskotheken-Programm Live-Musik einbauen. Weil diese "Fresswürfel" alle gleich aussahen und wir bei dem auf jeden Fall mehrere Sachen gemacht haben, weiß ich nicht mehr ganz genau, ob es nun in dem Klub oder in dem Klub das erste Mal war, dass wir aufgetreten sind. Auf jeden Fall war unser erstes Mal so ein Auftritt zusammen mit diesem Diskotheker. Die Musik von Police war damals unheimlich angesagt, so dass wir innerhalb sehr kurzer Zeit DIE Band waren, die Police spielt. Das kam bei den Leuten so gut an, dass sich später aus unserem Umfeld keine Band mehr an die Musik herangetraut hat (lacht), weil es immer hieß: "Wenn Du Police hören willst, musst Du zu Jessica gehen!" Das war für uns als junge Musiker auch sowas wie die Schule, unser "Nordstern" wie ich immer sage...

 

Das nimmt mir ein bisschen die nächste Frage vorweg: Über Jessica werden an verschiedenen Stellen unterschiedliche Gründungsjahre genannt. Die eine Quelle schreibt 1981, die andere schreibt 1983... Was ist denn jetzt richtig?
Jessica ist sogar schon 1979/80 gegründet worden. Jessica war eine Schülerband aus dem Berliner Stadtbezirk Lichtenberg. Die erste Besetzung hatte aber nicht mich als Sänger und auch nicht den Bassisten, den ich später mitbrachte. Die Band hatte zuerst einen Sänger, der kurze Zeit später, nämlich 1981, zur Armee musste. Er war ein bisschen älter als die anderen. Die Gruppe war dann in einer Situation, in der sie einen neuen Sänger brauchte und danach auch suchte. Es sprach sich herum, dass da eine Band war, die keinen Sänger hatte. Das wurde sozusagen von einer Party zur anderen weitergegeben. Meine Freundin hat dann erzählt, dass ihre Schwester einen Freund hat, der mit einer Band befreundet ist, die gerade keinen Sänger hat und meinte, ob ich denn da nicht mal hingehen will. Ich selbst hatte zu dem Zeitpunkt gerade zusammen mit meinem Freund Janek Skirecki, dem späteren Jessica-Bassisten, und unserem Kumpel Philippe Besson, der ein sehr talentierter Schlagzeuger war und obendrein der Sohn des Schweizer Schauspielers, Regisseurs und Theaterleiters Benno Besson, meine erste kleine Band gegründet. Wir waren eine Drei-Mann-Band, das heißt, mir wurde der Bass überreicht. Das konnte ich, als ich zu Jessica kam, aber nicht gut genug, um "Sting-mäßig" gleichzeitig Bass und Gesang abliefern zu können. Darum habe ich meinen Freund Janek Skirecki, mit dem ich zusammen zur Schule ging, gebeten, mit mir zu Jessica zu gehen. Janek spielte in meiner Band Gitarre und sollte bei Jessica den Bass übernehmen, so dass ich dort nur Sänger sein konnte.

 

jessica2 20130104 1970757364Die Band hat bei AMIGA lediglich ein Album und eine Single veröffentlichen können, war aber so beliebt wie eine, die 10 Platten gemacht hat. Auch noch weit nach dem Ende der Band. Wie erklärst Du Dir diese große Beliebtheit von Jessica?
Ich denke mir, dass das als erstes etwas mit der Musik zu tun hatte. Wir standen mit Jessica dafür, eine neue Art von Musik zu spielen, wie sie sich auch international gerade durchsetzte. Da waren Bands erfolgreich wie z.B. Depeche Mode, Duran Duran, aber auch noch Police, später dann U2, die Simple Minds oder A-ha. Diese Bands standen alle dafür, eine neue Art von Popmusik zu machen und waren natürlich auch unsere Heroes. Alles was in den 70er Jahren eine große Rolle gespielt hat, fiel deshalb für die Jugend sozusagen ein bisschen hinten runter. Natürlich habe ich in meiner frühen Jugend auch Neil Young und Cat Stevens gehört, aber das spielte in dem Moment, wo wir anfingen, selbst Musik zu machen, plötzlich keine Rolle mehr. Da gab es von diesen Bands bestenfalls noch Queen, bei denen man gesagt hat: "Wow, so muss man Rockmusik machen!", aber ansonsten war das eben New Wave und die daraus resultierende Popmusik, die angesagt war. Das war eine andere Art, mit Keyboards umzugehen und diese zu spielen. Wir waren mit unseren Police-Coversongs eher noch auf dem handgemachten Trip, aber es gab damals auch Bands, die versucht haben, in die Depeche Mode-Richtung zu gehen und alles auch so synthetisch zu machen. Das war der eine Grund, nämlich dass die Jugend nach einer neuen Art von Popmusik strebte. Ein anderer Grund war unsere eigene Jugend. Wir waren ja selbst noch sehr jung, 1981 war ich 19 Jahre alt. Das Publikum war im gleichen Alter oder vielleicht sogar noch einen Tick jünger, so 16 oder 17 Jahre. Die strömten uns dann eben zu. Diese Jugendlichen gingen sondern am liebsten zu jungen Bands wie Rockhaus, Jessica oder auch zu Stern Meißen, bei denen es kurz zuvor auch eine "Verjüngungskur" mit Uwe Hassbecker, Andreas Bicking und IC gegeben hatte. Zwei Jahre nach uns kam dann mit "Chicorée", aus denen später Die Zöllner wurden, sogar schon die nächste Generation. Es waren also die jungen Bands für das junge Publikum. Und weil das junge Publikum immer das euphorischste und gnadenloseste ist, war bei unseren Konzerten auch immer der Teufel los. Das war wirklich ein bisschen "Beatles-mäßig", wie die Fans damals verrückt gespielt, die Hotels belagert und die Autos blockiert haben. Das waren Bilder, wie man sie sonst nur von den Beatles oder anderen großen Rockstars kannte. Plötzlich passierte einem das selbst. Vor knapp zwei Jahren hat der POLICE-Trommler Stewart Copeland seine ganzen Kleinbildkamera-Aufnahmen zu 'nem Film gemacht. Er hat während der gesamten POLICE-Karriere alles dauernd gefilmt und daraus wurde ein Film gemacht, der natürlich die Reunion von THE POLICE vor zwei Jahren clevererweise auch ein bisschen vorbereitet hat. Diesen Film habe ich mir angeschaut und gesagt: "So sah das bei uns auch aus!"

 

Du sagst "junge Band - junge Musiker". Junge Musiker sind ja immer so ein bisschen revoluzzerhaft unterwegs. Die wollen immer ein bisschen was anders machen als die Vorgänger und etwas verändern...
Ja, man will was anders machen, klar!

 

jessica3 20130104 1389240796Du hast im Interview mit meinem Kollegen Fred im Jahre 2007 in einer Antwort davon gesprochen, ihr hättet mit Jessica gerne auch mal "Regeln unterlaufen". Was meintest Du damit? 
Das waren noch nichtmal die musikalischen Regeln, sondern sozusagen die "Business-Regeln". Wir haben bestimmte Sachen, die so eingefahren waren, zum Teil unterlaufen. Zum einen, weil wir bestimmte Regeln gar nicht kannten, und zum anderen, weil wir dachten: "Das muss man jetzt anders machen!" Z.B. gab es bestimmte Werdegänge. Man musste in der DDR eine Einstufung machen, d.h. man hat eigene Titel vorgelegt und dann vorspielen müssen, um zugelassen und eingestuft zu werden. Das war z.B. so eine Regel, die alle für normal gehalten haben. Wir auch! Auch wir haben diese Regel beachtet, aber nur bis zu einem bestimmten Moment. Als wir schon ziemlich populär waren und es um unsere Profi-Einstufung ging, haben wir gesagt: "Momentchen mal, jetzt nehmen wir hier aber nicht an einem Leistungsvergleich teil, nö!" Wir haben die Prüfungskommission einfach zu einem unserer Konzerte eingeladen und auf dieser Art vorgespielt. Das war z.B. so ein Regelbruch. Zwar nur ein ganz kleiner, aber wir haben schon mal was anders gemacht, als es die Regel vorsah. In der DDR gab es auch dieses Problem der Doppelbesetzungen, z.B. war der Chefredakteur vom Jugendradio gleichzeitig der Veranstalter aus der "Musikbörse" in Cottbus, oder die rechte Hand des Kulturministers war gleichzeitig Großveranstalter für irgendwelche Jugend-Revuen, die durch's Land zogen. Alle hatten also sozusagen ihren Funktionärsjob, daneben aber auch noch eine Business- bzw. Veranstalter-Tätigkeit. Das war immer ein ganz gefährliches Pflaster, denn wenn man den Veranstalter brüskierte, konnte das Folgen haben, wenn er wieder in seinem Funktionärsjob tätig war, und wenn man den Funktionär verärgerte, konnte es sein, dass man in bestimmte Veranstaltungen nicht rein kam. Darüber haben wir uns völlig hinweg gesetzt. Da war so eine jugendliche Arroganz in unserem kleinen Clan, dass wir immer gesagt haben: "Wieso denn? Die können uns alle mal!" Es gab z.B. eine Veranstaltung in Dresden, da wurden immer zwei Bands aufeinander gehetzt. Möglichst Bands unterschiedlicher Art bzw. Musikrichtung, z.B. eine Blues-Band gegen eine junge New Wave-Band. Die mussten dann vor Publikum gegeneinander spielen. Das war immer eine große Mugge und hinterher wurden die miteinander verglichen. Die Bands mussten eine bestimmte Zeit einhalten und bekamen Strafminuten, wenn sie länger als 45 Minuten spielten. Das hatte sich irgendein Schlaukopf mal ausgedacht und für eine Wahnsinns-Veranstaltungsidee gehalten. Sowas haben wir grundsätzlich abgelehnt und gesagt: "Ihr habt wohl 'n Knall! Wieso sollen wir denn gegen eine Bluesband spielen?" Dabei konnte uns entweder das Blues-Publikum nicht leiden, oder die Bluesband hätte verloren, weil mehr von unseren Fans vor Ort gewesen wären. Was soll denn sowas? Bei der Organisation war einer dabei, der beim Rundfunk ein wichtiger Mann und auch im Lektorat war. Der hat deshalb ein halbes Jahr nicht mit uns gesprochen. Der war persönlich beleidigt, weil wir gesagt haben: "So eine bekloppte Veranstaltung spielen wir nicht!" Oder die Sache mit "Rock für den Frieden" - also noch ein bisschen höher angebunden. Man war hoch geehrt, wenn man da spielen durfte. Und wenn man dahin eingeladen war, sollte man möglichst Auftragswerke verfassen. Die FDJ oder die Partei, ich weiß nicht, von wem das ausging, sagte dann: "Wir möchten gerne noch ein Auftragswerk für diese Veranstaltung haben." Dann wurde ins Studio gegangen und die Bands haben Auftragswerke gemacht. Die haben das auch bezahlt. Manche Bands waren Weltmeister darin, andauernd diese Gelder abzuholen und Auftragswerke zu verfassen. Gruppen haben damit ihr Geld verdient und wurde von der staatlichen Kulturmafia hoch gehalten… und 1989 mit Tomaten beschmissen, als sie vor den lang ersehnten internationalen Acts die Vorband abgeben wollten. Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Auch Jessica hat natürlich Geschäfte mit der FDJ gemacht. Sie war ja als Jugendorganisation auch der größte Veranstalter für Jugendkonzerte. Für viele unserer Openair-Konzerte kam also das Geld auch von der FDJ und unsere 100-Tage-Tour zum Album "Spieler" wurde u.a. von der FDJ gesponsort. Aber wir haben uns nie verbogen und hatten immer ein gutes Gespür, ab wann man Nein sagen musste, um sich nicht zu verkaufen. Als man uns ansprach für "Rock für den Frieden" und ein Auftragswerk von uns wollte, haben wir gesagt: "Wieso denn? Wenn Ihr uns bei 'Rock für den Frieden' haben wollt, dann sucht Euch aus unseren Liedern was aus. Wir haben Lieder, die zeigen, dass wir für den Frieden sind, auch für den Weltfrieden. Die spielen wir da gerne, aber wir setzen uns jetzt nicht hin und schreiben für Euch extra ein Lied!" Wir haben die Lieder immer für uns und unser Publikum geschrieben und haben überhaupt nicht eingesehen, warum wir das ändern sollten. Das hat bei den Funktionären natürlich keinen guten Eindruck hinterlassen (lacht). So ist im Laufe der Zeit ein schwarzes Brett über Jessica entstanden, auf dem immer Striche gemacht wurden. Irgendwann war das Fass auch voll und die haben sich gedacht: "Jetzt holen wir die Bengels mal auf den Teppich zurück." Es wurde dann die einfache Lösung gewählt - uns zur Armee zu schicken. Jedenfalls Teile der Band, die noch nicht bei der Armee waren. Damit haben sie die Gruppe Jessica letztlich getötet. Das ist die ganze Geschichte, die ich auch in meiner Biographie "Von Heute auf Morgen" erzählt habe. Der Gitarrist und der Trommler von Jessica sind zur Armee geholt worden. Wir anderen drei hatten die Armee schon hinter uns. Für uns stellte sich die Frage: "Machen wir weiter als Jessica und holen uns neue Leute dazu, die wir nach zwei Jahren wieder entlassen müssen?", oder sagen wir: "Es gibt nur Jessica, wenn wir alle fünf auf der Bühne stehen." An dem Punkt haben wir uns an die Beatles erinnert, die gesagt haben: "Es gibt die Beatles nur, wenn wir alle vier auf der Bühne stehen", und entschieden: "Genauso machen wir das!" Auch das zeugte von unserem eigenen Höhenflug. Wir finden ja bis heute, dass jeder einzelne bei Jessica seinen Platz hatte und dass es die Band ohne einen der fünf nicht geben kann. Romantisch oder? (lacht) Die Alternative zu Jessica war, "Tino solo". Zu meiner Soloband gehörten der Jessica-Keyboarder Ralf Böhme und der Jessica-Bassist Janek Skirecki. Ralf Böhme auch als musikalischer Kopf, denn er gehörte ja auch bei Jessica zum Kreativteam Böhme/Drechsler & Eisbrenner. Die kompositorische Handschrift bei meinem Soloprojekt blieb deshalb auch ein bisschen Jessica-mäßig, obwohl ich bei der Sologeschichte schon versucht habe, einen Unterschied zu Jessica herzustellen. Darum habe ich auch mit dem Blues-Gitarristen Peter Pabst von der Jonathan Blues Band zusammengearbeitet, so dass sich der Solist Tino schon anders anhörte als die Band Jessica. AMIGA hatte vorab eine Quartett-Single produziert. Danach haben die gesagt: "Das reicht uns jetzt erstmal. Mehr brauchen wir im Moment nicht!" Daraufhin bin ich zu Walter Zikan gegangen, der für die Rundfunk-Produktionen im Auftrag von AMIGA zuständig war. Der hat zuerst unser Material sondiert und anschließend wurden im Rhythmus von einem Vierteljahr immer zwei neue Titel produziert. So zog sich das tatsächlich über die gesamte Armeezeit der anderen beiden Musiker. Nach zwei Jahren kamen der Gitarrist und der Schlagzeuger zurück, zu dem Zeitpunkt war meine Solo-Platte aber noch nicht ganz fertig. Parallel zum Solo-Projekt wollten wir dann auch wieder als Jessica zusammenarbeiten. Daraufhin sagte AMIGA, dass sie meine Platte nicht veröffentlichen würden, wenn ich jetzt wieder mit Jessica arbeite. Und der Rundfunk meinte: "Wir haben das doch jetzt nicht über all die Jahre produziert, damit wir das am Schluss ins Regal legen. Wir wollen die Platte bei AMIGA veröffentlichen, Du kannst jetzt nicht mit Jessica weitermachen. Mach das, wenn die Platte raus ist." So habe ich diese Idee in die Band getragen. Aber manche aus der Band und unserem Team verstanden nicht und meinten, ich würde mich über die anderen erheben. Daraufhin hat der Keyboarder gesagt, was für mich sehr verblüffend war, denn er hatte an dem Solo-Material für das Tino-Album großen Anteil, dass er dann ganz aufhören wolle. Damit war Jessica Geschichte.

 

jessica1986 20130104 1328494152Da hak ich nochmal nach: War Dein '89er Solo-Album "Tino" die logische Weiterentwicklung von Jessica?
Nein, Jessica hätte sich anders weiterentwickelt. Es war mein Versuch, etwas anderes zu machen als Jessica. Diesen kleinsten gemeinsamen Nenner, der ja logischerweise fehlte, zu ignorieren und zu sagen: "Was hat denn Tino Eisbrenner sonst noch für musikalische Phantasien?" Dabei hat auch der Produzent Matthias Schramm eine sehr große Rolle gespielt. Der ist inzwischen leider auch schon verstorben. Man kannte ihn als ersten Bassisten von SILLY und auch als Produzenten. Die Alben "Mont Klamott" bis "Bataillon d'Amour" tragen unüberhörbar seine Handschrift... Ihn habe ich damals angesprochen und gefragt, ob er als Produzent für mein Album zur Verfügung stehen würde. Er hat mir zugesagt und wir haben sofort angefangen zu arbeiten. Er war zu dem Zeitpunkt sehr auf dem Computer-Trip. Er hat immer gesagt: "Ich brauche keinen Bassisten, das kann ich alles hier mit dem Computer machen." Schon bemerkenswert, denn er war ja selbst Bassist (lacht). Er schwor jedenfalls auf Computer-Drums und Bass von der Maschine. Schon allein dadurch ergab das einen ganz anderen Sound, als Jessica ihn hatte. Dazu dann noch die Idee, andere Musiker mit dazu zu holen. Volker Schlott hat z.B. auf meinem Soloalbum mitgespielt und eben erwähnter Peter Pabst. Damit haben wir auch so einen Clapton-Sound mit reingeholt. Das alles war ganz weit weg von dem Jessica-Sound.

 

Ein Comeback von Jessica gab's 1993 incl. Maxi CD-Veröffentlichung. Wie kam es zu dem kurzzeitigen Neustart, wie ist die Single "Du verzauberst mich" entstanden und wie viele Songs habt Ihr in der Zeit fertig gemacht?
Im Grunde war es gar kein richtiges Comeback. Ich hatte damals die Möglichkeit, über K&P (Krahl & Puppel Music) einen Major-Deal bei BMG zu bekommen. Toni und Fritz kamen direkt auf mich zu und sagten, dass sie sich nach Leuten aus dem Osten umsähen, mit denen man gesamtdeutsch was anfangen könne. Sie erzählten, dass K&P ein Ostlabel sei und dass sie die Ostkünstler in das große Label gesamtdeutsch einbringen wollten. Damals waren Keimzeit und André Herzberg schon bei K&P, und sie wollten auch Eisbrenner haben. Toni hat damals argumentiert: "Der Eisbrenner hat alles, was ein Star haben muss. Auch in der neuen Zeit.", und er glaubte auch ganz fest an mich. Mit der Draufsicht auf die Zeit betrachtet, waren die Dinge damals nicht zu Ende gedacht. Krahl und Puppel wollten, dass wir wieder Jessica heißen, weil Jessica ein Name war, der schon eingeführt war und mit dem man das Ostpublikum abholen konnte. Andererseits wollten sie nicht, dass ich Inhalte transportiere, die zeigen, dass ich eine "Ostsicht" habe. Es ging da speziell um ein Lied, das "Das kriecht" heißt. In dem Lied gehe ich mit der ganzen Nachwendesituation um und beschreibe darin, was auf dem Gebiet der ehemaligen DDR damals stattfand. Im Refrain heißt es: "Das kriecht in meine Lieder, das wühlt in meiner Seele rum". Das fanden die gar nicht so toll und meinten, man würde sich damit völlig enttarnen. Ich entgegnete, dass Jessica doch eh ein Ostprodukt sei und fragte, wo denn da die Tarnung sei. Es wurde geantwortet, dass den Namen Jessica im Westen ja keiner kenne und nur dazu dienen sollte, das Ostpublikum abzuholen. Mehr nicht. Für das Ostpublikum sei die Nummer zwar in Ordnung, das West-Label würde da aber immer den Finger drauf haben und sagen: "Was kotzt der sich denn da gerade aus?" Und weil unser Keyboarder Ralf Böhme immer konsequent dabei geblieben war und nicht wieder zurück auf die Bühne und Teil von Jessica sein wollte, und weil unser Janek ich weiß nicht mehr was machte, war es sowieso von Anfang an keine richtige Jessica-Reunion. Darum haben wir auch gesagt: "Jessica ist jetzt ein Trio". Dieses Trio bestand aus dem Trommler Olaf Becker, dem Gitarristen André Drechsler und mir. Wenn wir gespielt haben, hatten wir Gastmusiker dabei, aber im Grunde haben wir es gemacht - und jetzt nehme ich wieder mal ein großes Beispiel - wie die Stones, die eben auch nicht mehr komplett sind. Um aber live spielen zu können, haben die ebenfalls Gastmusiker dabei. Lassen sie sich aber fotografieren, sind da nur die Ur-Musiker auf den Bildern zu sehen. Live oder im Studio bedienen sie sich dann Gastmusiker. Wir haben uns gesagt: "Wenn die Firma das so unbedingt will, dann nehmen wir den Namen mit rüber, sind aber nur noch ein Trio". Das war dann geklärt, dann gab es aber eben erwähnte Diskussion um die Texte. Puppel und Krahl meinten dann, wir bräuchten dazu unbedingt einen Produzenten, der gleichzeitig auch ein guter Texter ist. Das müsse außerdem ein Westler sein, der mir da auch ein bisschen auf die Sprünge helfen kann. Das sollte dann Heinz Rudolf Kunze sein. Toni Krahl fuhr mit mir nach Hannover. Heinz Rudolf Kunze hatte vorher gesagt, er habe Interesse, wenn auch sein Produzent und Gitarrist Heiner Lürig mitmache. Das Ende vom Lied war, dass wir vor Ort nur Heiner Lürig trafen, weil Heinz gar keine Zeit hatte. Wir haben mit Heiner verabredet, dass produziert wird. Zuerst eine Single, die heißt "Du verzauberst mich", und anschließend ein komplettes Album. Das war der Deal. Wir haben diese Single dann tatsächlich produziert und auch unter dem Namen Jessica veröffentlicht. Auf dem Cover war das Trio Andre Drechsler, Olaf Becker, Tino Eisbrenner zu sehen. Ko-Produzent war unser Ralf-Böhme. Wir hatten mit dem Song auch ein paar Fernsehauftritte, das war gar kein so schlechter Einstieg. Daraufhin sagten Krahl und Puppel: "Ok, dann machen wir jetzt das Album." Die Textdiskussion wurde aber im Verlauf schärfer und Heinz Rudolf Kunze sagte an einem bestimmten Punkt, er möchte die Diskussion an dieser Stelle beenden. Er fände es gut, dass man dem Texter Tino Eisbrenner anmerkt, wo er herkommt und dass er in der Lage ist, sich zu den Dingen, die um ihn herum passieren, zu äußern. Er meinte außerdem noch, dass er niemals den Rotstift ansetzen und irgendwelche Texte verändern würde. Daraufhin haben Krahl und Puppel den gesamten Vertrag gekündigt. Wir saßen damals bereits im Studio und produzierten das Album und mitten in der Arbeit rief Fritze Puppel an und sagte, dass sie vom Vertrag zurücktreten würden. Danach war im Studio erstmal so ein bisschen die Luft raus. Kunze und Lürig sagten: "Sowas gibt's ja gar nicht, wir produzieren das jetzt auf unsere Kosten zu Ende und auf Eure Kosten wird das veröffentlicht!" Ich bin hinterher mit dem fertigen Produkt zu BuschFunk gegangen, und so konnten wir das Album "Willkommen in der Welt" erstens herstellen und zweitens bei BuschFunk vertreiben. Die wurde gar nicht so schlecht verkauft, sogar so schnell, dass wir mit dem Nachpressen gar nicht hinterher gekommen sind, weil wir damals das Geld, das wir mit der CD verdient haben, einfach zum Leben verbraucht haben. Wir konnten das nicht großartig sammeln oder sparen. Darum ist diese Platte eine von denen, die man heute nur sehr schwer finden kann. Die ist als Erstauflage erschienen, wurde dann abverkauft und ist nicht nachgepresst worden.

 

jessicasingle93 20130104 1232096383Diese CD ist dann aber nicht unter dem Namen Jessica sondern unter dem Namen Eisbrenner erschienen, oder?
Ja, genau! Die Single ist unter dem Namen Jessica veröffentlicht worden und hinterher kam nochmal die Frage auf: "Soll das wirklich Jessica heißen? Das ist im Westen kein Name für eine Band", sagten die beiden Wessis. Deshalb haben wir weiter über den Namen nachgedacht und einen ganzen Tag damit verbracht zu ergründen, was wir für Musik machen und wie die Band dann heißen könnte. Heinz meinte dann, er habe nochmal drüber geschlafen und fände, dass "Eisbrenner" ein genialer Name für ein musikalisches Projekt sei. Ich antwortete, dass aus dem Dreierding durch den Namen "Eisbrenner" wieder ein Solisten-Ding würde und es die Frage sei, ob die Band das aushalte. Aber die Jungs haben gesagt, sie fänden es gut. Die Begründung war, dass ich sowieso den Motor all dieser Dinge darstellen würde und darum könne das Projekt auch so heißen, wie ich heiße. So ist das dann ja auch bis heute geblieben.

 

Kommen wir mal zu etwas ganz anderem: Würdest Du mir zustimmen, wenn ich sagen würde, dass Du zu den Pionieren der Weltmusik in Deutschland gehörst?
Na, das würde mich auf jeden Fall ehren. Fakt ist, dass ich schon sehr früh Lust hatte, mich mit diesen Dingen zu befassen, also deutsche Texte auf Weltmusik zu machen. Bei mir ging das 1992 damit los, dass ich mit L'Art de Passage auf Tournee war. Schon da ging es sehr weltmusikalisch zu, und da wurde in alle möglichen Register gegriffen, so dass da schon viele Leute gesagt haben: "Also das hier ist jetzt nicht mehr nur Chanson!"

 

Viel Einfluss dürfte da ja auch die Zeit haben, die Du nach der Wende im Ausland verbracht hast. Du hast dort Erfahrungen gesammelt und von Deinen Reisen Musikideen mitgebracht. Wohin genau hat es Dich verschlagen und welche Erfahrungen waren dabei für Dich besonders wichtig?
Die ganz große und prägende Kindheitserfahrung waren die drei Jahre Bulgarien zwischen 1970 und 1973. Das war eine ganz intensive Erfahrung, denn wenn ein Kind anfängt Lesen und Schreiben zu lernen, dann setzt im Bewusstsein und der Wahrnehmung etwas ganz Besonderes ein. Diese Zeit der intensivsten Wahrnehmung habe ich in Bulgarien verbracht, d.h. davon zehre ich heute noch. Z.B. fliege ich am Sonntag nach Sofia, weil ich mal wieder von draußen auf unser Tun hier gucken will. Für diese Reise wähle ich Sofia, weil das die Stadt meiner Kindheit ist. Dort bin ich auf eine andere Art zu Hause, kann da abschalten und bin in einer anderen Kultur. Das war also ganz prägend und hatte - wenn ich jetzt mit einem Satz schon mal vorgreifen darf - eine ganz große Wirkung auf die Zusammenarbeit mit Joro Gogow und mir beim "Wilden Garten". Außerdem war ich als Kind ein großer DEFA-Indianerfilm-Fan - der Effekt in Bulgarien leben zu können war obendrein noch der, dass ich in der Kulisse unserer DEFA-Indianerfilme lebte. Die Filme sind ja zu großen Teilen dort gedreht worden. Das heißt, ich befand mich in meiner Phantasie im Grunde in Amerika. Das war die Kulisse, die ich in den Filmen sehen konnte, und die mir dort als Amerika verkauft wurde. Das spielte auch eine Rolle. Später kamen über die Jessica- und Tino-Zeiten Tourneen ins sozialistische Ausland, was für mich auch immer sehr schön war. Sei es Ungarn, Polen, Tschechien oder die Sowjetunion, das hat alles diesen slawischen Einfluss, den ich als Kind sehr stark erfahren hatte. Deswegen waren diese Tourneen für mich auch immer sehr wichtige Momente. Dann kam für mich 1989 der besondere Moment, als für die DDR-Künstler eine Nicaragua-Tournee angeboten wurde und da keiner hinfahren wollte. In Nicaragua war eigentlich Krieg. Ich war wahrscheinlich in dritter oder vierter Instanz der, den man fragte: "Willst Du nicht dahin?" Ich habe "Ja" gesagt. Das war 1989 in einer Situation, in der in der DDR alles drunter und drüber ging und in der eine Sache großgeschrieben wurde, die ich in der Kunst überhaupt nicht leiden kann, nämlich das Plakative. Ich bin und war schon immer ein Freund von Zwischentönen. Je flacher es wird, desto mehr wende ich mich ab. In unserer DDR-Rockszene setzte gerade ein, dass sich alle für Revolutionäre ausgaben, indem sie diese Resolution unterschrieben, die wir in der Sektion "Rock", in der ich auch in der Leitung war, geschrieben hatten und in der es um Menschenrechte ging, die in der DDR eingeführt werden sollten. Diese Resolution wurde damals auch bei bestimmen Gelegenheiten verlesen, und plötzlich wurde jedes Rockkonzert dazu genutzt. Oftmals leider auch von Künstlern, die gar nicht verstanden haben, was eigentlich da drin stand. Die fanden das einfach nur "chic", dass man dadurch plötzlich einen Zuschauerzulauf bekam, weil sich herumsprach, dass die auf ihren Konzerten diese Resolution verlesen und da deshalb ein Hauch von Revolution wehe. Das brachte vollere Konzerte und eine höhere Popularität bei bestimmten Bands, die sie vorher kaum hatten. Das war mir alles ein bisschen unbehaglich. Deshalb habe ich die Gelegenheit, einfach mal von draußen drauf zu gucken und obendrein das erste Mal nach Amerika zu kommen, sofort genutzt. Ich hatte deshalb auch ein paar Diskussionen mit meinem Gitarristen Andre Drechsler, der mich jeden Abend anrief und sagte: "Machst Du bitte mal den Fernseher an und guckst, was in Nicaragua los ist?! Da willst Du hin?" (lacht). Ich hab immer wieder gesagt: "Wenn die uns dahin einladen und uns garantieren, dass wir auch lebend wieder zurück kommen, dann werden die sich etwas dabei gedacht haben. Hab mal ein bisschen Vertrauen. Allet wird jut!" Wir sind dann tatsächlich dahin geflogen und es war sehr ergreifend. Ich war zum ersten Mal in diesem Klima, bin das erste mal über den großen Teich geflogen und war in einem amerikanischen Land. Das erste Mal war ich bei Indianern und konnte sehen, wie die heutzutage wirklich leben. Während wir in Nicaragua waren und ich all diese Erfahrungen sammelte, fiel die Mauer. Es war in der Heimat so aufregend, dass von den Eindrücken, die ich in Nikaragua gesammelt habe, kaum einen etwas interessiert hat, als ich zurück kam. Mich hatte es aber voll erwischt und danach gingen diese Trips nach Lateinamerika los. Guatemala, Mexiko und eben Chile, was dann ja auch nachhaltiger wurde und wo ich immer wieder hinfahre, waren Ziele meiner Reisen. Mich in der Nachwendezeit neu zu entdecken - und das auf einem anderen Weg - auch mal zu vergessen, dass ich gerade eben noch in einem kleinen Land ein Popstar war, war für mich sehr wichtig.

 

007 20130104 1947836655Es wäre also einfacher zu fragen, in welchem Süd- oder Lateinamerikanischen Land Du noch nicht warst, oder?
Nein, ich war in mehr Ländern nicht als ich war.

 

Das hörte sich gerade so viel an...
Es waren nur Nicaragua, Guatemala, Mexiko und Chile. Mexiko und Chile habe ich mehrfach besucht. Guatemala bedeutet eigentlich bei der Aufzählung nicht so sehr viel, denn Mexiko und Guatemala liegen auf der Halbinsel Yukatan ganz nachbarschaftlich beieinander. Du bewegst Dich dort in Mexiko völlig frei, bist dann plötzlich in Guatemala und bekommst das gar nicht mit. Auch die dort lebenden Indios missachten die Grenzen völlig. Dass es da eine Grenze gibt und ob die jetzt in Mexiko oder Guatemala sind, ist denen völlig Wurscht. Die sind auf Maya-Land (lacht). Insofern kann ich Guatemala immer mit aufzählen, obwohl das gar keine so große Rolle spielt und kein Reiseziel als solches war. Die Erfahrungen des "Sich-selbst-findens" waren für mich ganz wichtig. Dann wieder nach Deutschland zu kommen und zu gucken: "Wer will ich sein? Womit will ich mein Geld verdienen?", und darauf zu kommen, dass ich der sein will, der ich vorher auch schon war, nämlich ein singender Texter, ein Songarchitekt, der Freude daran hat, auch Musiker zusammen zu bringen, die von selbst gar nicht auf die Idee kämen, miteinander zu musizieren, und daraus einen speziellen Sound zu formen, der dann vielleicht für eine Platte, ein Projekt oder vielleicht auch nur für einen Song hält. Das ist es, was mich immerzu antreibt. Das ist auch eine Form von Weltreisen, sich jetzt nicht nur nach Schema F auf irgendwelche Popformate zu stürzen und damit immer dasselbe zu produzieren, sondern immer zu gucken, wie und womit man Musik anreichern kann, z.B. zu probieren was passiert, wenn man einen bulgarischen Dudelsackspieler in einen eher britisch geformten Song einbaut. Auch zu schauen, was unter den Musikern passiert, was dort für Reibungen positiver Art entstehen, herauszufinden was funktioniert und was nicht. Gerade wenn man mit großartigen Musikern zusammenarbeitet, arbeitet man auch mit großen Egos. Dabei ist immer die Frage, wie lange hält sowas? Was ist das Interesse des anderen? Wie kommt man hinterher auch wieder friedlich auseinander? Eine weitere wichtige Frage ist, wie man Dinge würdigen kann, die man zusammen gemacht hat. Das ist ja meine ganz persönliche große Enttäuschung, was meine Zusammenarbeit mit Joro Gogow betrifft. Enttäuschung deshalb, weil er nicht würdigt, was wir beide in der Zeit großartiges kreiert haben. Auch wenn es so war, dass er mich letztlich an seiner Seite nicht aushalten konnte.

 

dwg 20130104 2001031764Bleiben wir mal bei dem Thema: Du hattest mir per Mail und über das Gästebuch auf www.deutsche-mugge.de schon geschrieben, dass es im Interview mit Joro Gogow ein paar Fehler, die Gruppe "Der Wilde Garten" betreffend, gibt. Das betraf wohl insbesondere die Gründung der Band und Deinen Ausstieg. Vielleicht erzählst Du das Ganze auch mal aus Deiner Sicht?
Was die Daten bezüglich des "Wilden Gartens" betrifft, haut es insofern schon mal nicht hin, als er sagt, wir hätten mit Jessica "Aus der Ferne" gecovert, er hätte sich das dann von mir vorspielen lassen und dadurch hätten wir uns für den "Wilden Garten" verabredet. Damit hat er einen Zeitraum von 10 Jahren zusammengefasst. So war das nämlich nicht! Erstens hat Jessica nie "Aus der Ferne" gecovert, sondern ich habe das Stück auf meiner Solo-Platte "Tino" gesungen. Eben auch schon mit der Lust, nach anderen Dingen zu greifen und Neues zu probieren, habe ich den Song "Aus der Ferne", den ich schon immer toll fand, sozusagen verändert, ihm eigentlich auch einen ganz neuen Groove gegeben und ihn dann auf meiner Solo-Platte veröffentlicht. Der Song wurde viel im Radio gespielt, dazu gab's ein Video in der Sendung "Elf99" und er kam auch sonst ganz gut in den DDR-Medien vor. Das hat Joro gefallen, und da hat er mich mal zu sich eingeladen. Das war noch 1989. Er gab mir damals noch eine Broschüre von Gorbatschow, die man so eigentlich gar nicht kriegen konnte. Er hatte sie jedenfalls und gab sie mir mit den Worten: "Hier lies mal." Er war für mich so ein bisschen wie ein Mentor, denn ich bin ja mindestens 10 Jahre jünger als er. Für mich war er der große "Joro", den ich als Teenager schon bewundert hatte und ich für ihn sozusagen die nächste Generation. Ich glaube, er hat gut gefunden, was ich mit Jessica gemacht habe und wusste über mich Bescheid. Wir waren uns ja immer wieder mal begegnet, denn Jessica hat nicht selten mit NO55 zusammen gespielt. Wir waren immer die Vorband und NO55 der Hauptact - sie waren ja die Dienstälteren ;-) Nach 1989 war auch für Joro eine ganze Weile Ruhe. Joro hat nach dem K.O. von NO55 versucht, mit einem Musikvertrieb Musik zu verkaufen. Bei City spielte er in dieser Zeit nicht und als das mit seinem Vertrieb zu Ende ging, war er auch so ein bisschen auf der Suche. Ich habe in dieser Zeit live relativ gut zu tun gehabt und Joro eingeladen, bei einer kleinen Konzertreihe als Special Guest dabei zu sein. So haben wir zwei oder drei Konzerte zusammen gespielt, vielleicht waren es auch vier oder fünf, bei denen Joro Gogow Special Guest war. Daraus hat sich dann eine kollegiale Freundschaft entwickelt. Eine ganze Zeit später trafen wir uns wieder, das muss 1996 gewesen sein. Bei diesem Treffen überreichte er mir Songs und sagte, dass er diese über viele Jahre gesammelt hätte. Er erzählte auch, dass er die teilweise schon bei CITY hatte, die sie aber nicht wollten, weil sie eben sehr speziell seien. Weder Toni Krahl noch Tamara Danz, der er die Songs auch angeboten hatte, konnten sich vorstellen, irgendwas davon zu singen. Zu folkloristisch und speziell. Ich habe diese Kassette genommen. Darauf waren ca. 20 Stücke, die ich dann alle komplett betextet habe. Joro war davon total begeistert. Das Spezielle, was diese Lieder ausmachte, war ihr bulgarischer Hintergrund, der mir bedingt durch meine persönliche Geschichte sehr am Herzen lag. Mich erinnerte das an meine Kindheit und an das Bulgarische, das ich sowieso schon immer hörte, weil es schon bei meinen Eltern immer auf dem Plattenteller gelaufen war. Jemand Kongenialerem war Joro bis zu dem Moment offenbar nicht begegnet. Deswegen bin ich auch so enttäuscht, dass er das heute so abtut. So kam es nämlich dazu, dass wir plötzlich Material für zwei Alben hatten und gesagt haben: "Wir gründen jetzt ein Projekt und spielen!" Ich hatte auch die Idee, Tobias Morgenstern dazu zu holen. Den Namen hatte Joro zwar schon mal gehört, hatte mit ihm aber ansonsten überhaupt keinen Kontakt. In dem Interview bei Euch tut er ja so, als hätte er mit Morgenstern schon zusammengearbeitet, bevor ich zum "Wilden Garten" kam. Das war überhaupt nicht der Fall. Ich habe die beiden miteinander bekannt gemacht und das war auch die ideale Erstbesetzung, denn Morgenstern spielte mit dem Akkordeon das gesamte Fundament und Joro verblüffte die Leute, indem er brillant Gitarre spielte. Die Leute kannten ihn bis dahin ja als Bassisten und Violinisten. So sind wir dann zu dritt losgezogen, ich habe die Front gestaltet und den Inhalt mitgebracht, denn alle Texte waren von mir. Außerdem habe ich anfangs auch das Management für den "Wilden Garten" gemacht und somit die "Muggen" besorgt. Und als unser Baby von selbst zu laufen begann, hat er mich rausgeworfen. Seine sogenannte "Trennung von Tino Eisbrenner" war nämlich eine ganz fürchterlich unschöne Geschichte...

 

Ir009 20130104 1736349681gendwie denke ich da jetzt an CITY und die Geschichte 1982...
Ja genau. Es war, als würden wir die CITY-Trennung von damals noch einmal nachspielen. Nur dass ich mit Joro keinen Streit über die Namensrechte hatte. Mehr will ich dazu gar nicht sagen, denn ich respektiere die Entscheidung der City-Köpfe, heute über diesen Teil ihrer Bandgeschichte aus innerpolitischen Gründen kein Wort mehr zu verlieren. Ich war 2001 unendlich enttäuscht und auch in Panik, denn "Der wilde Garten" war gerade auch ein wichtiges ökonomischen Standbein für mich geworden. Wir waren nach vier Jahren Arbeit an einem Punkt angelangt - das war auch der Grund warum er dachte, er könne das Ganze jetzt zu sich rüber reißen - wo wir fast jeden Veranstalter anrufen konnten und der sagte: "Au ja, davon hab ich gehört! Kommt mal!" Wir hatten in einer für Ostmusiker so schweren Zeit etwas zum Blühen gebracht. Gemeinsam: Er, ich und die Kollegen Morgenstern, Lauschus, Hennig. Dieses gemeinsame Glück konnte Joro nicht erfassen. Und sein Interview bei Euch zeigt auch - er kann nach wie vor nicht respektieren, dass unser Erfolg von damals vielleicht auch etwas mit mir, meiner Arbeit, mit den Texten und meiner Art, mit den Leuten umzugehen, zu tun hatte. Und übrigens, er spricht immer von der Trennung von Tino Eisbrenner aber auch Tobias Morgenstern hat seit damals nie wieder mit Joro gespielt. Tobias hat nicht gesagt: "Mit Dir spiel ich nicht mehr", sondern der sagt: "Au, Du... da hab ich gar keine Zeit." Aber der Effekt ist derselbe. Für mich hatte er Zeit - immer wieder in den Jahren. "Der wilde Garten" ist noch heute ein Bandprojekt mit erstklassigen Musikern. Natürlich, denn sein Kopf - Joro Gogow - war, ist und bleibt ein musikalisches Genie. Aber dem Projekt fehlt es an Charakter. Es erzählt keine Geschichte mehr… und darum fehlt ihm auch das Publikum.

 

Hast Du Kontakt zu Felix Lauschus und Manne Hennig? Und würdest Du je wieder als Sänger des "Wilden Garten" arbeiten?
Natürlich. Felix hat ja auch nach DwG ein paar Jahre in meiner Trio-Akustik-Besetzung gespielt und wir telefonieren immer mal wieder… erzählen uns die neusten Witze. Manne spielt seit Kurzem in meinem Trio (Trio heißt ja immer: Eisbrenner/Drechsler + ...) und Tobias Morgenstern steuert grad wieder ein paar Kompositionen zu meinem 2012er Album bei. Joro geht mir komplett aus dem Weg. Grad letzten Herbst hat er sogar seinen Kollegen gesagt, dass sie ohne ihn auftreten müssten, wenn Tino Eisbrenner bei "OstrockKlassik" dabei sei. Und während ich mir von den ORK-Konzerten versprochen hatte, dass es Gelegenheit geben würde, mit Joro wieder Einvernehmlichkeit zu erlangen, tat er alles, um genau das zu umgehen. Dabei hatten wir uns 2007 schon einmal wieder auf einen Kaffee getroffen, sogar überlegt, ob es DwG in Originalbesetzung wieder geben könnte und nach meiner Ansicht Frieden gemacht. Es muss richtig schwere Arbeit für ihn gewesen sein, hinter den Bühnen und in Hotels immer dort zu sein, wo ich nicht stand. Dabei bin ich so ein elender Harmoniesüchtler und hätte ihm gern gesagt, dass ich ihn als Musiker sehr achte und mich auch gern an unsere Freundschaft von einst erinnere. Aber das kann ich ja hier jetzt tun :. Ich bin jederzeit bereit, mit Menschen Frieden zu schließen und ich bestaune Leute, die das nicht können, sondern lieber über Jahre und Jahrzehnte so eine Art kriegerischen Zustand erhalten. Wenn eine Zeit vergangen ist und man mit Abstand noch einmal dem Anderen zu erklären vermag, was einen von ihm weggetrieben hat, sollte Frieden eintreten dürfen - auch wenn die Sichtweisen konträr bleiben. Es gibt nur zwei Menschen in meinem Leben, mit denen mir das bisher nicht geglückt ist: Eine meiner Ex-Frauen und Joro Gogow. Beide erlauben keine Entwicklung in Richtung Verständnis, Akzeptanz und Handreichung. Aber ich bleibe optimistisch. Und wenn im Fall Joro eine Handreichung auch zu einer gemeinsamen Lust an musikalischen Experimenten führen würde, würde ich wohl nicht nein sagen… glaube ich.

 

hausboot1 20130104 1924935599Kommen wir zu etwas Erfreulicherem: Ein weiteres Deiner Projekte war z.B. das mit Heiner Lürig gegründete "Hausboot". Ist das als abgeschlossen zu betrachten, oder kommt nach der CD "Strom ab" und der Tour in diesem Jahr nochmal was aus der Richtung?
Also wir gehen schon davon aus, dass es ein zweites Album geben wird. Wir schreiben auch weiter fleißig Songs. Ich habe jetzt drei neue Sachen von ihm betextet, und es liegen noch ein paar weitere Kompositionen da. Aber nebenbei haben alle irgendwie auch anderes zu tun. Heiner hat sein Theater-Projekt und Produktionen - Ich habe mein 3-Dekaden-Feier-Jahr. Unsere Live-Termine am Jahresanfang haben wir hinter uns. Die Tour, die wir gespielt haben, haben wir noch selbst gebucht. Hannover und Hamburg hat Heiner organisiert, ich habe die anderen Termine auf dem Ost-Territorium gemacht. Es ist aber nicht unser Plan, dass wir jetzt zu Bookern werden. Deswegen sind wir derzeit auch auf der Suche nach einer Agentur, die das übernimmt. Es gab und gibt da auch immer wieder Gespräche, aber es war bisher noch nicht so, dass man sagen könnte, hier entsteht jetzt eindeutig eine Zusammenarbeit. Es stellt sich dabei immer die Frage: "Wer kennt Hausboot schon? Kann man mit der Gruppe auf Tournee gehen?", oder: "Wo setzt man an?". Auf diese Fragen haben die Agenturen natürlich verschiedene Antworten. Die einen sagen, dass man auf dem Eisbrenner-Territorium ansetzen muss, die anderen sagen, sie kennen Eisbrenner gar nicht. Wir selbst sagen, dass wir deutschlandweit denken und uns nicht wieder nur auf den Osten reduzieren wollen. Da sind wir im Moment also noch ein bisschen auf der Suche.

 

Die Konstellation passt aber doch sehr gut: Lürig hat im Westen einen guten Namen als Mann hinter Heinz Rudolf Kunze, Du hingegen bist im Osten bekannt wie ein bunter Hund...
Ja, das passt! Was wir nur feststellen ist, dass der gute Name von Heiner Lürig ein Szenenname ist. Die Musikszene sagt: "Ach ja, Heiner Lürig. Ein toller Musiker, alles klar!" Es ist aber kein Name, der Publikum in die Konzertsäle zieht. Mein Name ist diesbezüglich auch nicht riesig, ist aber auf dem Ost-Territorium ein bisschen berechenbarer. Es ist ja oft ein Trugschluss von Musikern, die einen Namen haben und die man kennt, dass sie glauben, der Name allein reicht, um Publikum zu ziehen. Diesem Irrtum ist Heiner nicht verfallen. Da gibt's ja die schärfsten Konstellationen, wo plötzlich der Sänger weg war und deshalb dann das Publikum ausblieb, obwohl alles andere noch da war. Das ist ein Phänomen. Der Gesang ist immer die direkteste Art, die Leute anzusprechen. Gesang ist eine Urkraft, und das vermittle ich auch in meinen Seminaren "Die Kraft der Töne". Gesang geht immer ganz direkt rein und deswegen ist die Identifikation über den Gesang oft die stärkste. Es gibt Konstellationen, wie z.B. bei Carlos Santana, der das über sein Instrument löst und andere Leute singen lässt, aber das ist dann auch von Anfang an das Konzept. Sowie das Konzept ein anderes ist, und sich die Sache über einen Sänger aufbaut, der irgendwas transportiert und in meinem Fall auch noch den Inhalt, wird das eben schwierig, wenn der komplett weggeht. Aber an dem Punkt sind wir ja bei Hausboot nicht, sondern noch am Anfang der Dinge. Um so erfreulicher, dass dieser Anfang schon mit so vielen Radioeinsätzen geschmückt ist.

 

hausboot3 20130104 1020454888Ihr habt mit Hausboot für Euer erstes Album ein eher kleines Label ausgewählt. Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass das ein kleiner Nachteil ist, weil das Album dadurch nicht die Menge an Leuten erreicht, die es erreichen könnte, wenn man ein größeres Werbebudget hätte.
Größere Labels haben aber auch manchmal den Nachteil, dass sie nach dem Gießkannen-Prinzip arbeiten. Wenn sich irgendeine Sache nicht sofort durchsetzt, nehmen sie die Finger davon wieder weg. So verschwinden viele gute Projekte im Nichts. Ich glaube, es gab beim Hausboot auch ein paar Versuche, mit einem größeren Label zu sprechen. Das hatte Heiner in der Hand, darum kann ich dazu keine genauen Auskünfte geben. Es war aber auch so, dass Phil Friederichs mit seinem "Wunschkind"-Label von Anfang an als Freund mit bei uns im Team war. Heiner hatte ihn als so eine Art Berater dazu geholt, so dass man immer wieder mal eine dritte Meinung hat, wenn man über wichtige Dinge spricht. Bei der Suche, was denn der Weg sein könnte, stellte sich irgendwann die Frage: "Wieso macht Phil das nicht gleich selbst?" Wir fanden die Idee sofort gut und ich glaube, dass dieses kleine Label in der Entwicklung von Hausboot sogar unser Glück war. Phil hat vier Singles aus diesem Album ausgekoppelt. Das ging mit "Du gehst vorbei" los. Dieser Titel löste bei den Redaktionen einen kleinen Achtungserfolg aus. Damit konnten wir sehr gut auf uns aufmerksam machen und den Leuten zeigen, wer wir sind. Dann folgte "Immer wenn ich Dich seh'", und alle sagten: "Das muss die Single sein, die folgt. Das wird der Durchknaller."

 

Das habe ich beim Rezensieren der CD übrigens auch gesagt...
Ja, war sie aber nicht. Nach dem Titel "Du gehst vorbei" war die Single "Immer wenn ich Dich seh'" eher ein Flop. Die Redaktionen, die bei "Du gehst vorbei" noch gesagt haben, dass sie das toll fänden, fanden "Immer wenn ich Dich seh'" eher beliebig. Mit dem Song passierte überhaupt nichts Besonderes. Daraufhin folgte so ein bisschen die Ratlosigkeit und wir sind dazu übergegangen, an ein paar Redaktionen, die wir kannten, zwei bis drei Lieder zu schicken und zu fragen: "Wollt Ihr von den drei Songs nicht etwas spielen?" Dabei waren "Eisernes Reich", "Wär nicht schwer" und noch ein weiteres Lied. Und plötzlich setzte sich "Wär nicht schwer" so ein bisschen ab. Ein paar Sender haben es gespielt, und es war bei Radio Cottbus wochenlang auf Platz 1, gelangte dadurch noch in ein paar andere Hitparaden. Daraufhin hat Phil Friedrichs, der Chef unseres Labels, gesagt: "Dann lass uns das Ding auskoppeln." Bei dem Lied hätte ich nie gedacht, dass das eine Single sein könnte. Dafür hat er dann nochmal eine Promotion-Firma eingestellt. Das kostet alles Geld, und das hätte ein großes Label nie gemacht. Diese Agentur hat sich mit dem Song richtig durchgebissen, und jetzt stehen wir schon bei "Eisernes Reich" als vierte Single-Auskopplung aus dem Album. Würde jetzt ein großes Label kommen und uns unter Vertrag nehmen wollen, sagt Phil, dass er uns natürlich jederzeit unterstützen und in die große Firma helfen würde. Insofern ist sowieso alles offen. Phil ist an dem "Strom ab"-Album auch nicht reich geworden, aber er selbst spricht von einem zweiten Album. Er hat zuletzt überlegt, ob er zum Jahresende vom ersten Album nicht sogar noch eine Special Edition veröffentlichen soll oder ob man dann nicht sogar schon mit einem neuen Album kommt. Das hängt jetzt sicher auch von uns ab, wie schnell wir mit neuen Songs an den Start kommen. Außerdem ist Wunschkind jetzt nicht so klein, dass sich Phil nichts leisten könnte. Er hat schon ein bisschen Budget, um uns zu helfen, und er steht eben auch unheimlich auf die Musik. Er war in Hannover, hat unser erstes Konzert gesehen und war hinterher völlig von den Socken und begeistert. Er ist unbedingt der Überzeugung, dass wir weitermachen müssen. Ich weiß nicht, ob wir soviel Empathie wie von Phil und dem Label "Wunschkind" von einer großen Firma bekommen hätten.

 

Es gab noch weitere interessante Stationen in Deiner Karriere, u.a. die "Arctic Mystery Tour", auf der Du zusammen mit Nick Beggs ("Kajagoogoo", "Ellis Beggs & Howard") live in Skandinavien unterwegs warst. Wie genau hat das Programm ausgesehen, das Ihr dort gespielt habt?
Ich war drei Mal in Finnland auf Tournee und nannte sie "Arctic Mystery Tours". Nick war beim dritten Mal dabei. Unsere Tourmanagerin rief mich damals an und fragte, ob ich nicht einen britischen Chapmanstick-Spieler dabei haben wollte, der sich dringend nach einer Auszeit sehne und gern mit uns nach Finnland käme. Zu ihrer Verblüffung kannte ich Nick Beggs, hatte sogar seine Platten im Schrank und war sofort begeistert. Mein Gitarrist André Drechsler und ich schickten also die Songs an Nick, die wir spielen wollten und er lernte sie. Dann trafen wir uns in Tampere auf dem Flugplatz, bezogen das Hotel und probten einen Tag zusammen. Danach ging die Tour los. 4000km und mehr als 20 Konzerte. Das schmiedet zusammen, sag ich Dir. Nick wollte anfangs nicht mal was von sich spielen. Aber natürlich haben wir ihn überredet.

 

Warum gibt es davon keinen Mitschnitt, oder besser gefragt: Kann man sich noch Hoffnungen machen, dass man davon mal was zu hören oder sehen (DVD) bekommt? 
Nick fuhr nicht dorthin mit, um sich vermarkten zu lassen. Und ich gehe mit solch sensiblen Dingen immer sehr respektvoll um. Bin kein Trittbrettfahrer, der sich an bekannte Kollegen ranhängt wie ein Blutegel. Im Gegenteil, um nicht in genau diesen Verdacht zu geraten, bin ich immer besonders zurückhaltend. Das hat Nick geschätzt. Das schätzen auch Rolf Hoppe oder Gojko Mitic und momentan auch Simone Thomalla. Nick hat mit mir gemeinsam einen Song für mein Album "Mango" geschrieben. Eine Zeit lang sahen wir uns immer, wenn er in Berlin spielte. Jetzt ist es ab und zu noch eine Mail zum Gruße.

 

A propos Simone Thomalla - Du hast für Deine neue Doppel-CD-Werkschau ein Duett mit der Tatort-Kommissarin aufgenommen? Wie kamst Du denn auf diese Idee?
Die wenigsten Leute wissen, dass Simone 1986 Backgroundsängerin bei der 100-Tage-Jessica-Tour war und wir ein Liebespaar wurden. Ich schrieb ihr "Ich sterbe für Dich" und veröffentlichte es 1987. Als jetzt die Idee für ein paar Remakes entstand, fiel die Wahl auch auf diesen Song. Ich schrieb ihn um und erweiterte ihn auch textlich zu einem Duett. Dann bat ich Simone, ihn mit mir zu singen. Sie sagte ja.

 

4winde 20130104 1910815925Inzwischen gibt es immer wieder mal ein Live-Programm auf dem Vier Winde Hof, Deinem Zuhause. Nach welchen Kriterien lädst Du Dir dorthin Gäste ein?
Das sind alles Leute, die mir auf meinen Reisen begegnen und die ich selbst gut finde. Leute von überall auf der Welt. Mein Hoffest ist inzwischen ein zweitägiges Hoffest(ival). Das nächste findet am 02./03.Juli statt.

 

Bist Du mit dem Zuspruch dieser Veranstaltungen zufrieden? Finden die Leute Dich und Deine Angebote draußen auf dem Lande?
Mit jedem Mal werden es mehr. Leute reisen von weit her an und übernachten hier. Macht Spaß.

 

Wie siehst Du die heutige Medienlandschaft? Wird Kultur zum Wegwerfartikel oder wird es irgendwann eine "Kulturrevolution" geben, weil den Leuten vor den Geräten das Angebot in Funk und Fernsehen zu platt wird?
Gegen zu große Dummheit ist leider noch nie eine Revolution losgegangen. Die Menschen, denen die Formatsender zu platt werden, suchen sich ihre Nischen, gehen z.B. in Konzerte. Die Medienlandschaft spiegelt nur wider, was in der Gesellschaft ohnehin sichtbar wird. Frag mal heute einen Zwanzigjährigen, wer Stefan Zweig war oder auch bloß, ob er Jack London gelesen hat. Gelesen! Geschweige denn Puschkin, Gorki, Hemingway... die ganzen Klassiker eben, die uns zu Menschen gemacht haben. Frag sie, ob sie je eine Sinfonie von Sibelius gehört haben oder von Gustav Mahler… Das sind die Dinge, die mich ratlos machen.

 

Zu Deinem diesjährigen Bühnenjubiläum also das passende Album, das Ende März bei SONY veröffentlicht wurde. "Ich beobachte Dich - 3 Dekaden Songs" (Rezension: HIER). Was sind für Dich die Highlights dieser Doppel-CD?
Na z.B. die Studiosession mit meinen alten Freunden von JESSICA. Nach 24 Jahren haben wir wieder zusammen einen Song geschrieben und aufgenommen. André hat ihn produziert und die Band klingt so frisch wie eh und je. Mit dieser Band hat für mich alles angefangen und dreißig Jahre später beweist sie noch einmal ihren besonderen Charme. Das Album geht durch die Jahre: Jessica, Eisbrenner, Der wilde Garten, Hausboot. Die ganze Wanderschaft meiner neugierigen Songarchitektur.

 

cd 20130104 1565030610Auch bei John Silver Production gab's zuletzt eine Veröffentlichung mit Songs, an denen Du nicht unbeteiligt warst, nämlich die Wiederveröffentlichung von Songs der ersten beiden CDs des Wilden Gartens. War das Deine Idee?
Nach dem Crash 2001 war ich der einzige, der noch unsere beiden Alben "Grönland-Hawaii" und "Lust" verkaufte. Joro tat ja fortan beinahe so, als hätte es unsere gemeinsame Gründerzeit nie gegeben. Als die Alben dann ausverkauft waren und die Plattenfirma sich fragen musste, für wen sie hätte nachproduzieren sollen, entstand eine mehrjährige Denkpause und dann kam die Idee, eine CD der ersten Jahre des "Wilden Garten" mit Eisbrenner als Sänger und Texter zusammenzustellen. Ich bin sehr froh, dass dadurch die Songs wieder auf dem Markt sind. Es war eine ganz besondere Band. Das Best Of ist grad erschienen und zur Zeit nur über meine HP www.eisbrenner.de zu beziehen aber wir arbeiten daran, dass es auch bei amazon zu haben sein wird.

 

Es gibt Leute, die wünschen sich von Tino Eisbrenner eine DVD mit einem Live-Auftritt und einer Zusammenstellung von Clips. Wirst Du den Leuten diesen Wunsch vielleicht demnächst erfüllen?
In der Tat wollen wir im September einen Konzertmittschnitt für DVD machen und zwar im Theater am Rand in Zollbrücke, welches meine Freunde Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann aufgebaut haben. Ein großartiger, sehr spiritueller Ort, der wunderbar zu dem passt, was ich mit meinem Kollegen Heiner Frauendorf (Akk) auf der Bühne treibe. Denn obwohl ich das zurzeit noch nicht sehr laut sage, verabschiede ich mich nach dreißig Jahren aus dem Rock'n Roll. Meine Ausflüge in andere Musikwelten habe ich immer gehabt und es wird Zeit, dass ich diesen Sehnsüchten mehr Raum gebe. Mein nächstes reguläres Album wird "Fremde Strände" heißen und an solchen werde ich mich damit auch tummeln. Die DVD soll den "neuen" Weg bebildern und damit leichter verständlich machen - auch für Veranstalter und Medien.

 

002 20130104 1588630431Es gibt viele Musiker, die Dir sehr ähnlich sind und mit denen sich eine Zusammenarbeit förmlich anbietet (Lacasa, Sonny Thet, L'art de Passage). Was wäre eine Konstellation, die Du Dir sehr gut vorstellen könntest und auf deren Ergebnis der Zusammenarbeit Du selbst neugierig wärst?
Nun, mit L'Art de Passage habe ich schon 1993/94 eine ausgedehnte Tour gemacht und das war toll. Damals entstand die Freundschaft zu Morgenstern. Auch mit Stefan Kling (piano) habe ich später noch gearbeitet und wir hatten obendrein Volker Schlott (sax) dabei. Solche Zusammenspiele können jederzeit wieder passieren. Tobias Morgenstern hat, wie erwähnt, grad für "Fremde Strände" zwei Stücke komponiert, Volker hat bei dem Remake "Ich sterbe für Dich" Sopransax gespielt. Aurora Lacasa hat sich wie ich in die lateinamerikanische Musik verliebt und wir teilen uns über's Jahr sogar die Musiker, die ich damals aus Chile "mitgebracht" habe. Ende letzten Jahres war ich einmal Special Guest in Auroras Konzert. Das war eine sehr freundschaftliche Begegnung und hat mir großen Spaß gemacht. Und den Leuten auch. Es wird eine Revanche geben. Wahrscheinlich bei mir auf dem Hof im Sommer.

 

Ich habe Dich gleich zu Anfang gefragt, welche Frage Du nicht mehr hören kannst. Kehren wir das mal um: Was hat man Dich in einem Interview denn noch nie gefragt bzw. was möchtest Du mal gefragt werden?
Ich denke manchmal, wenn ein Journalist meine Biographie und die musikalische Vita sieht, dass er mich wohl als erstes fragen müsste, wonach ich eigentlich suche? Und ich könnte manches darauf antworten. Aber vielleicht rechnet man einem Künstler einfach positiv an, wenn er in Bewegung bleibt. Vielleicht hat man sogar Angst, die Reise zu unterbrechen, wenn man den Reisenden fragt, warum und wofür sie gemacht wird. Ich freue mich immer über Gespräche zu einzelnen Alben. Weil man dann nicht aufzählen muss, was alles so passiert ist und wie alles angefangen hat, sondern weil es um Gedanken und Sehnsüchte und um Musik geht. Natürlich, dass auch wir beide heute über den Eisbrenner im Wandel der Zeit gesprochen haben, liegt wegen des dreißigsten Bühnenjubiläums auf der Hand. Aber ich freue mich schon auf das nächste Interview zu einem neuen Hausboot oder dem Eisbrenner an "Fremden Stränden" Und wir haben noch kein Wort über meine indianischen Freunde, die Schamanen Agustin oder Yerpun gewechselt, die jedes Jahr bei mir Seminare geben oder über meine eigenen Seminare "Kraft der Töne". Aber was sollen wir hier noch alles anreißen oder?

 

Oh ja! Das ist vielleicht wirklich mal ein Extrathema. Unsere Leser werden uns wissen lassen, ob sie mehr auch darüber lesen wollen. Damit sind wir am Ende unseres Gesprächs. Möchtest Du abschließend noch ein paar Worte an unsere Leser richten?
Das tue ich doch die ganze Zeit. Oder nicht? ;-) Muchos saludos! Und danke für Euer Interesse. Tino

Interview: Christian Reder
Bearbeitung: kf, cr
Fotos: Manana Records, Tino Eisbrenner privat, Herbert Schulze, Archiv Deutsche Mugge
 
 
 

   
   
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