Interview vom 24. Februar 2020
Für Tino Eisbrenner ist das Jahr 2020 ein ganz besonderes. Vor genau 40 Jahren begann er seine Karriere als Musiker, in dem er bei der Gruppe JESSICA einstieg und innerhalb weniger Jahre zum großen Popstar aufstieg. Heute ist Eisbrenner mehr als nur der "Popstar", der die Herzen junger Mädels berührt und Poster ziert, die Jugendmagazinen beiliegen. In all den Jahren hat er vieles probiert und in alle Versuche eine Menge Herzblut fließen lassen. Auslandsaufenthalte formten sein Profil und ließen ihn über den Tellerrand des Pop hinaus blicken. Seine Lieder sind heute geprägt von vielen Einflüssen und tragen Spurenelemente verschiedenster Musikarten. Nach JESSICA kam die Zeit als Solist und die als Teil verschiedener Projekte, wie z.B. dem Wilden Garten oder aktuell dem mit Heiner Lürig unter dem Namen HAUSBOOT. Sein "besonderes Jahr" 2020 begann mit der Veröffentlichung des dritten HAUSBOOT-Albums, "Die letzten heiligen Dinge", aber da ist noch eine Menge mehr geplant. Die neue HAUSBOOT-Scheibe und das Bühnenjubiläum haben wir zum Anlass genommen, uns mit dem Jubilar mal wieder auf ein Gespräch zu treffen. Unser Kollege Mike tat dies und hatte einige Fragen im Gepäck ...
Hallo Tino, zunächst mal unseren herzlichen Glückwunsch zu Deinem 40. Bühnenjahr!
Merci bien :-)
Hand aufs Herz: Hättest Du Dir 1980/81 bei Deinem Einstieg in die Schülerband JESSICA - die ja ab 1983 eine rasante und äußerst erfolgreiche Entwicklung nahm - vorstellen können, ganze 40 Jahre später noch immer auf den Bühnen zu stehen und Musik zu machen?
Natürlich. Damals dachte ich sogar, dass es große Bühnen werden und bleiben würden. Was ich mir n i c h t vorstellen konnte war, dass das Land, welches ich sehr schnell eroberte, verschwinden würde und man in Folge dessen uns, die wir zu Fernsehgesichtern dieses Landes geworden waren, unserer Abstammung wegen blockieren und lange Zeit zu Künstlern dritter Klasse erklären würde. Die Amis, die Wessis, die Ossis ...
Kommen wir zum eigentlichen Anlass unseres Gesprächs: Nach "Strom ab" im Jahr 2009 und "Fluss der Zeit" im Jahr 2017 wurde am 24. Januar 2020 das dritte Album "Die letzten heiligen Dinge" des Projekts HAUSBOOT veröffentlicht. HAUSBOOT, das sind Heiner Lürig und Du. Stand von Beginn an fest, dass Ihr in dieser Konstellation mehrfach zusammenarbeiten wollt oder ergab sich das eher rein zufällig?
Unsere Arbeit begann ja schon in den Neunzigern mit Heiner als Produzenten von zwei Eisbrenner-Alben. Für das zweite davon steuerte er schon Kompositionen wie "Lachen" und "Wir folgen dem Wind" bei. Als wir dann beschlossen, mal ein ganzes Album zusammen zu schreiben und aufzunehmen und das Projekt HAUSBOOT zu nennen, gab es erstmal nicht mehr, als genau diese Verabredung. Darum hat das zweite Album von HAUSBOOT dann auch sieben Jahre auf sich warten lassen.
Erzähl' uns doch bitte mal was zur Entstehung dieses dritten Albums. In welchem Zeitraum wurden die Songs geschrieben und wie habt Ihr sie erarbeitet? Was war zuerst da, die Musik oder die Texte?
Als "Fluss der Zeit" veröffentlicht war und wir gemerkt hatten, dass wir zusammen nicht nur ein starkes Album zaubern konnten, wollten wir eigentlich sofort weitermachen und am dritten Album arbeiten. So hat Heiner mir nach einiger Zeit neue Kompositionen geschickt und ich habe sie nach und nach betextet. Wir arbeiten immer in dieser Reihenfolge. Der Prozess hat vielleicht ein halbes Jahr gedauert, dann begann die Produktion.
Arbeitet jeder von Euch in seinem stillen Kämmerlein und sendet die Ergebnisse dann dem jeweils anderen zu oder habt Ihr die elf neuen Songs auch räumlich vereint miteinander geschrieben?
Jeder für sich.
Wer Heiner Lürigs künstlerische Laufbahn ein wenig verfolgt, erkennt selbstverständlich auf Anhieb seine musikalische Handschrift. Lässt Du ihm dafür komplett freie Hand oder flossen auch Deine musikalischen Ideen in die Songs mit ein?
Heiner ist ein Komponist, der sehr genau weiß, wie er seinen Song hören möchte. Darum produziert er auch selbst. Im Laufe der drei Alben und vor allem auch der gemeinsamen Livearbeit hat sich natürlich ein Vertrauen zwischen uns entwickelt und so kann ich hier und da auch eine musikalische Idee für das Arrangement einbringen. Zum Beispiel, indem ich schon in der grundsätzlichen Frage des Bandsounds mitdenke und auch sage, wenn ich einen Song lieber still als laut hätte oder lieber folkig, als rockig. Aber zu 99% ist HAUSBOOT Heiners musikalischer Style. Die Arbeit mit mehr Eisbrenner-Ideen haben wir ja bei den Eisbrenner-Alben, wo es sich dann vornehmlich auch um meine Musik und meine Vorstellungen dreht. Bei HAUSBOOT bin ich der Sänger und Texter.
Kommen wir auch zu den Texten: Sie stecken voller Poesie und sind dennoch aktuell und beleuchten - wie beispielsweise in "Die Taschenspielerin" - Themen, denen wir alle in unserem alltäglichen Leben begegnen können und sicher auch würden, wenn wir sie wahrnehmen wollen. Woraus schöpfst Du die Ideen für die Worte und wie lange dauert es, bis ein solcher Text "rund" und auch singbar ist?
Pablo Neruda hat auf so eine Frage mal geantwortet: "Habt Erbarmen mit uns, die wir die Grenzen des Unerklärbaren durchschreiten." Und im Ernst, wo Ideen herkommen, weiß man nie. Ich beobachte etwas, ich höre etwas und denke darüber nach, ich erlebe etwas und erzähle davon … Manche Themen sind in den Jahren zu "meinen Themen" geworden. Und viel davon hat zunehmend mit Gesellschaftskritik zu tun. Denn viele unserer heutigen gesellschaftlichen Probleme kommen daher, dass wir zu politischen Kesselflickern geworden sind. Wir stopfen hier ein Loch und dort noch eins, aber wir fragen uns nicht, wo und wann die Löcher entstanden sind. Wir haben dem Prinzip des Kapitalismus geschworen und der ist inzwischen einmal mehr zu einem rasenden Zug geworden, der in Richtung Abgrund donnert. Wir wissen das genau, aber wir wollen auf keinen Fall bis zur vorletzten Weiche zurück, um sie für uns und unsere Kinder anders zu stellen. Wir schwören auf: Vorwärts, weiter und mehr. Und weil das nur noch mit immer größerer Eigennützigkeit und Rücksichtslosigkeit zu machen ist, haben wir es nun mit Empathielosigkeit, Entsolidarisierung, Wirtschaftskriminalität, Kriegshetze, Ausländerhass und Ratlosigkeit zu tun, derer wir nicht Herr werden, weil wir die Grundsatzfragen nicht stellen. Ich suche mit meinen Texten den Weg zurück bis zur vorletzten Weiche. Und dabei begegnen mir Orte, Gedanken, Figuren, Ideale und Idole aus meiner Kindheit und Jugend, denen ich meine Fragen neu stelle. Die Antworten, die ich dabei finde, verarbeite ich in Liedern. Sie sind für mich die letzten heiligen Dinge.
Noch ein Zitat aus dem Titelsong des Albums:
"Hat man nicht lang schon den Beweis / für all ihr Tun zahlen wir den Preis / nach Feuersbrunst / nach Sturm und Flut / und sie spielen weiter mit der Glut / In den letzten wilden Flüssen / wird unbemerkt verklingen / was wir längst schon nicht mehr wissen / von den letzten heiligen Dingen"
Was gibt Dir - offensichtlich nach wie vor - die Kraft, Dich statt mit alltagstauglichem "Radio-Pop" mit solchen ernsthafteren Dingen zu beschäftigen und sie Eurem Publikum anzubieten?
Diese Kraft entsteht aus einer Not heraus. Ich bin in zwei sehr gegensätzlich angelegten Gesellschaftsordnungen Mensch geworden. In beiden war der Zweifel mein treuester Berater und hat mich zu einem denkenden Menschen gemacht. Aus dem Denken heraus entstand mein Bedürfnis, zu verbessern und gestalterisch zu wirken. Die Kunst öffnet da viele Türen. Und nun kommt wieder das Ost-West-Ding. 1990 hat sich der Westen zwar um den kleinen Teil Deutschlands, DDR genannt, und somit um 17 Millionen Konsumenten bereichert, nicht aber um die Ideen jener Köpfe, die dort eben noch um Verbesserung - nicht Abschaffung - eines Sozialstaates gerungen hatten. Damals waren wir von zwei Seiten an der schon letzten Weiche angekommen und wie es seither Richtung Abgrund geht, wissen wir alle. Manche haben womöglich keine Ahnung, wie man den brennenden Zug stoppen könnte, andere wissen es und schweigen, wieder andere sind in Bewegung und suchen nach der Notbremse, aber wollen sich nicht eingestehen, dass es gut wäre, den Zug zu verlassen. Aber wir brauchen neue Ideen und die Erinnerung an unsere einstigen Ideale. Wir müssen zurück zu vorletzten Weiche, um zu verstehen und um uns ein neues Versprechen zu geben.
Ein weiterer Song "Poetenherz" beschäftigt sich äußerst beeindruckend mit Bob Dylan. Was bedeutet Dir dieser Song und was gab bzw. gibt Dir Bob Dylan mit auf Deinen eigenen Weg?
Genau wie ich es gerade erklärt habe. Der Weg zurück zur vorletzten Weiche führt uns auch vorbei an unseren Helden. Bob Dylan hat in Songs für eine ganze Generation und ihre Erben gesprochen. Hat die Ideale und die Rebellion in Lyrik gefasst. Was oder wer hat ihn zum Schweigen gebracht? Wir selbst vielleicht? Wenn wir ihn wiederfinden, was finden wir dabei von uns wieder? Wo sind wir falsch abgebogen? Wo haben wir unsere Helden und Ideale zurückgelassen?
Am 9. November 2019 fand im Berliner "Neu-Helgoland" das Record-Release-Konzert statt, am Tag darauf spielte HAUSBOOT im Studio 7 in Panketal. Weitere Live-Termine - abgesehen von einer "Sender-Reise" - sind bisher leider nicht zu finden. Hängt es damit zusammen, dass Heiner Lürig ab April erstmals seit vielen Jahren wieder mit Heinz Rudolf Kunze auf Tour gehen wird oder gibt es noch andere Gründe?
Es wäre ungerecht, es so zu behaupten. Dass Heiner Lürig nach Jahren wieder für HRK komponiert und ein Tourangebot angenommen hat, sperrt ein paar Termine aber nicht halb so viele, wie meine Konzertarbeit in verschiedenen Projekten innerhalb meines 40. Bühnenjahres. Ich spiele solistisch, mache Musik-statt-Krieg-Konzerte, habe wieder ein Rockkonzept mit Eisbrenner & Tatanka Yotanka und in der Adventszeit wird es meine zweite Weihnachtstour geben. Im November wird, wieder mit Release im Neu Helgoland Berlin, mein Doppelalbum "Selbstportrait 2020" (AT) erscheinen, das übrigens auch von Heiner Lürig produziert werden wird. In der zweiten Jahreshälfte wird es auch HAUSBOOT-Konzerte zum dritten Album "Die letzten heiligen Dinge" geben. Was wir bisher nicht gefunden haben, ist eine Bookingagentur, die sich deutschlandweit des Themas HAUSBOOT annehmen kann. Danach suchen wir.
Wie fielen auf Eurer "Sender-Reise" die Reaktionen der verschiedenen Medien auf Euer neues Album aus?
Die ersten zwei Singles "Komm so leise wie der Schnee" und "Die Taschenspielerin" sind gut angenommen, in Hot Rotations und Hitparaden gelandet. Das Album hat uns auf Interviewreisen gebracht, in denen wir auf wirklich interessierte Journalisten treffen, denen es ein merkliches Bedürfnis ist, den Themen unserer Lieder ein Podium zu geben. In verschiedenen Sendern waren wir Album der Woche oder des Monats. Das alles freut uns sehr und auch, dass ich jetzt hier mit Euch ausführlich reden darf, ist großen Dank wert.
Wir drücken Euch und Eurem Team die Daumen, dass Ihr mit dem äußerst gelungenen Album ein möglichst großes Publikum erreichen werdet. Ebenfalls bereits im Handel erhältlich ist ein Buch über Deine Reisen nach Russland. Was verbindet Dich mit diesem Land und den Menschen dort?
Ja, "Das Lied vom Frieden" erzählt von meinen Konzertreisen in den letzten 4 Jahren nach Russland, Belarus, Georgien, auf die Krim etc. Ich bin als DDR-Kind mit russischer Kultur aufgewachsen. Bücher, Musik und Filme haben mich geprägt und nähren meine Zweifel, wo man uns heute wieder Russland als gefährlichen Feind darstellen will. Und da diese Spirale sich ja auch wieder ins Bodenlose zu drehen scheint, habe ich begonnen, anfänglich mit Nachdichtungen russischsprachiger Rock- und Bardensongs, später mit dem Buch, das übrigens auch in einer deutsch-russischen Version erschienen ist, einen Gegenstrom zu erzeugen. Ich habe viel Positives zu erzählen und ich finde das Treiben von Politikern wie Herrn Röttgen, der keine Gelegenheit auslässt, um sein Russlandbashing in die Welt zu posaunen, unverantwortlich, undifferenziert und hochgradig dumm und gefährlich. Und das zum 75. Jubiläum des Sieges über den Hitlerfaschismus, für den die Russen die größten Opfer zu bringen hatten ...
Wird es eine Fortsetzung geben und wirst Du als Autor weiter in diese Richtung arbeiten oder war das ein einmaliger Ausflug in dieses Fach?
Na, es war ja nicht mein erstes Buch und ich bin sicher, dass es nicht das letzte gewesen sein wird.
Du spielst ja auch Konzerte in Russland. Ist das immer noch so wie in den 80er Jahren, dass die Säle voll sind und das russische Publikum neugierig ist?
Na, wenn Du das so pauschal einschätzt, dann darf ich ja auch pauschal antworten. Was die Russen noch immer in die Waagschale zu werfen haben, ist eine hohe kulturelle Bildung und sehr aktuell wird in der Politik Russlands auch wieder genau darauf gesetzt. Und eine hohe kulturelle Bildung bringt zwangsläufig interessiertes Publikum in die Konzertsäle. Was mich aber besonders rührt, ist die warmherzige Offenheit, mit der sie mich als Deutschen empfangen und mir ihr Gehör schenken. Das ist keine Selbstverständlichkeit bei dem, was sie von deutscher Politik so abbekommen. Aber die Russen glauben nach wie vor daran, dass Deutschland und Russland eigentlich gute Nachbarn sein können und werben dafür mit großer Langmut. Wenn dann einer wie ich kommt und sie in ihrer Vorstellung von deutsch-russischem Zusammenhalt bestärkt, sind sie sehr dankbar. All so etwas erzählt mein Buch in wirklich schönen Episoden.
Bringst Du Deine Songs dort auf Deutsch zu Gehör oder gibt es Übersetzungen Deiner Lieder ins Russische?
Ich bringe ihre Songs auf Deutsch. Das begeistert sie sehr. Und inzwischen gibt es auch ein paar Lieder von mir auf Russisch. Zum Beispiel die beiden HAUSBOOT-Songs "Fluss der Zeit" und "Lied vom Frieden".
Wie nehmen es die russischen Menschen eigentlich auf, wenn ein Deutscher die Lieder von dort nach Deutschland trägt und sie für das Publikum dort sogar in der Landessprache vorträgt?
Staunend, begeistert und dankbar.
Wird es darüber hinaus zu Deinem 40. Jubiläum noch weitere neue Dinge geben?
Nun, ich verteile über das Jahr ein paar Schmankerl, die ich auf die Bühne bringe. Z. B. werde ich am Wochenende vom 28./29.05. gleich zwei Premieren bzw. Ausnahmekonzerte geben. Details dazu findet man unter www.eisbrenner.de/termine
Tino, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Dir für Dein 40. Bühnenjahr und alle Deine Projekte alles Gute! Gibt es noch etwas, was Du unseren Lesern mitteilen möchtest?
Ich danke auch. Und Euren Lesern wünsche ich einfach nur glückliche Momente und den Mut zu Gemeinsamkeit. Auf bald!
Hallo Tino, zunächst mal unseren herzlichen Glückwunsch zu Deinem 40. Bühnenjahr!
Merci bien :-)
Hand aufs Herz: Hättest Du Dir 1980/81 bei Deinem Einstieg in die Schülerband JESSICA - die ja ab 1983 eine rasante und äußerst erfolgreiche Entwicklung nahm - vorstellen können, ganze 40 Jahre später noch immer auf den Bühnen zu stehen und Musik zu machen?
Natürlich. Damals dachte ich sogar, dass es große Bühnen werden und bleiben würden. Was ich mir n i c h t vorstellen konnte war, dass das Land, welches ich sehr schnell eroberte, verschwinden würde und man in Folge dessen uns, die wir zu Fernsehgesichtern dieses Landes geworden waren, unserer Abstammung wegen blockieren und lange Zeit zu Künstlern dritter Klasse erklären würde. Die Amis, die Wessis, die Ossis ...
Kommen wir zum eigentlichen Anlass unseres Gesprächs: Nach "Strom ab" im Jahr 2009 und "Fluss der Zeit" im Jahr 2017 wurde am 24. Januar 2020 das dritte Album "Die letzten heiligen Dinge" des Projekts HAUSBOOT veröffentlicht. HAUSBOOT, das sind Heiner Lürig und Du. Stand von Beginn an fest, dass Ihr in dieser Konstellation mehrfach zusammenarbeiten wollt oder ergab sich das eher rein zufällig?
Unsere Arbeit begann ja schon in den Neunzigern mit Heiner als Produzenten von zwei Eisbrenner-Alben. Für das zweite davon steuerte er schon Kompositionen wie "Lachen" und "Wir folgen dem Wind" bei. Als wir dann beschlossen, mal ein ganzes Album zusammen zu schreiben und aufzunehmen und das Projekt HAUSBOOT zu nennen, gab es erstmal nicht mehr, als genau diese Verabredung. Darum hat das zweite Album von HAUSBOOT dann auch sieben Jahre auf sich warten lassen.
Erzähl' uns doch bitte mal was zur Entstehung dieses dritten Albums. In welchem Zeitraum wurden die Songs geschrieben und wie habt Ihr sie erarbeitet? Was war zuerst da, die Musik oder die Texte?
Als "Fluss der Zeit" veröffentlicht war und wir gemerkt hatten, dass wir zusammen nicht nur ein starkes Album zaubern konnten, wollten wir eigentlich sofort weitermachen und am dritten Album arbeiten. So hat Heiner mir nach einiger Zeit neue Kompositionen geschickt und ich habe sie nach und nach betextet. Wir arbeiten immer in dieser Reihenfolge. Der Prozess hat vielleicht ein halbes Jahr gedauert, dann begann die Produktion.
Arbeitet jeder von Euch in seinem stillen Kämmerlein und sendet die Ergebnisse dann dem jeweils anderen zu oder habt Ihr die elf neuen Songs auch räumlich vereint miteinander geschrieben?
Jeder für sich.
Wer Heiner Lürigs künstlerische Laufbahn ein wenig verfolgt, erkennt selbstverständlich auf Anhieb seine musikalische Handschrift. Lässt Du ihm dafür komplett freie Hand oder flossen auch Deine musikalischen Ideen in die Songs mit ein?
Heiner ist ein Komponist, der sehr genau weiß, wie er seinen Song hören möchte. Darum produziert er auch selbst. Im Laufe der drei Alben und vor allem auch der gemeinsamen Livearbeit hat sich natürlich ein Vertrauen zwischen uns entwickelt und so kann ich hier und da auch eine musikalische Idee für das Arrangement einbringen. Zum Beispiel, indem ich schon in der grundsätzlichen Frage des Bandsounds mitdenke und auch sage, wenn ich einen Song lieber still als laut hätte oder lieber folkig, als rockig. Aber zu 99% ist HAUSBOOT Heiners musikalischer Style. Die Arbeit mit mehr Eisbrenner-Ideen haben wir ja bei den Eisbrenner-Alben, wo es sich dann vornehmlich auch um meine Musik und meine Vorstellungen dreht. Bei HAUSBOOT bin ich der Sänger und Texter.
Kommen wir auch zu den Texten: Sie stecken voller Poesie und sind dennoch aktuell und beleuchten - wie beispielsweise in "Die Taschenspielerin" - Themen, denen wir alle in unserem alltäglichen Leben begegnen können und sicher auch würden, wenn wir sie wahrnehmen wollen. Woraus schöpfst Du die Ideen für die Worte und wie lange dauert es, bis ein solcher Text "rund" und auch singbar ist?
Pablo Neruda hat auf so eine Frage mal geantwortet: "Habt Erbarmen mit uns, die wir die Grenzen des Unerklärbaren durchschreiten." Und im Ernst, wo Ideen herkommen, weiß man nie. Ich beobachte etwas, ich höre etwas und denke darüber nach, ich erlebe etwas und erzähle davon … Manche Themen sind in den Jahren zu "meinen Themen" geworden. Und viel davon hat zunehmend mit Gesellschaftskritik zu tun. Denn viele unserer heutigen gesellschaftlichen Probleme kommen daher, dass wir zu politischen Kesselflickern geworden sind. Wir stopfen hier ein Loch und dort noch eins, aber wir fragen uns nicht, wo und wann die Löcher entstanden sind. Wir haben dem Prinzip des Kapitalismus geschworen und der ist inzwischen einmal mehr zu einem rasenden Zug geworden, der in Richtung Abgrund donnert. Wir wissen das genau, aber wir wollen auf keinen Fall bis zur vorletzten Weiche zurück, um sie für uns und unsere Kinder anders zu stellen. Wir schwören auf: Vorwärts, weiter und mehr. Und weil das nur noch mit immer größerer Eigennützigkeit und Rücksichtslosigkeit zu machen ist, haben wir es nun mit Empathielosigkeit, Entsolidarisierung, Wirtschaftskriminalität, Kriegshetze, Ausländerhass und Ratlosigkeit zu tun, derer wir nicht Herr werden, weil wir die Grundsatzfragen nicht stellen. Ich suche mit meinen Texten den Weg zurück bis zur vorletzten Weiche. Und dabei begegnen mir Orte, Gedanken, Figuren, Ideale und Idole aus meiner Kindheit und Jugend, denen ich meine Fragen neu stelle. Die Antworten, die ich dabei finde, verarbeite ich in Liedern. Sie sind für mich die letzten heiligen Dinge.
Noch ein Zitat aus dem Titelsong des Albums:
"Hat man nicht lang schon den Beweis / für all ihr Tun zahlen wir den Preis / nach Feuersbrunst / nach Sturm und Flut / und sie spielen weiter mit der Glut / In den letzten wilden Flüssen / wird unbemerkt verklingen / was wir längst schon nicht mehr wissen / von den letzten heiligen Dingen"
Was gibt Dir - offensichtlich nach wie vor - die Kraft, Dich statt mit alltagstauglichem "Radio-Pop" mit solchen ernsthafteren Dingen zu beschäftigen und sie Eurem Publikum anzubieten?
Diese Kraft entsteht aus einer Not heraus. Ich bin in zwei sehr gegensätzlich angelegten Gesellschaftsordnungen Mensch geworden. In beiden war der Zweifel mein treuester Berater und hat mich zu einem denkenden Menschen gemacht. Aus dem Denken heraus entstand mein Bedürfnis, zu verbessern und gestalterisch zu wirken. Die Kunst öffnet da viele Türen. Und nun kommt wieder das Ost-West-Ding. 1990 hat sich der Westen zwar um den kleinen Teil Deutschlands, DDR genannt, und somit um 17 Millionen Konsumenten bereichert, nicht aber um die Ideen jener Köpfe, die dort eben noch um Verbesserung - nicht Abschaffung - eines Sozialstaates gerungen hatten. Damals waren wir von zwei Seiten an der schon letzten Weiche angekommen und wie es seither Richtung Abgrund geht, wissen wir alle. Manche haben womöglich keine Ahnung, wie man den brennenden Zug stoppen könnte, andere wissen es und schweigen, wieder andere sind in Bewegung und suchen nach der Notbremse, aber wollen sich nicht eingestehen, dass es gut wäre, den Zug zu verlassen. Aber wir brauchen neue Ideen und die Erinnerung an unsere einstigen Ideale. Wir müssen zurück zu vorletzten Weiche, um zu verstehen und um uns ein neues Versprechen zu geben.
Ein weiterer Song "Poetenherz" beschäftigt sich äußerst beeindruckend mit Bob Dylan. Was bedeutet Dir dieser Song und was gab bzw. gibt Dir Bob Dylan mit auf Deinen eigenen Weg?
Genau wie ich es gerade erklärt habe. Der Weg zurück zur vorletzten Weiche führt uns auch vorbei an unseren Helden. Bob Dylan hat in Songs für eine ganze Generation und ihre Erben gesprochen. Hat die Ideale und die Rebellion in Lyrik gefasst. Was oder wer hat ihn zum Schweigen gebracht? Wir selbst vielleicht? Wenn wir ihn wiederfinden, was finden wir dabei von uns wieder? Wo sind wir falsch abgebogen? Wo haben wir unsere Helden und Ideale zurückgelassen?
Am 9. November 2019 fand im Berliner "Neu-Helgoland" das Record-Release-Konzert statt, am Tag darauf spielte HAUSBOOT im Studio 7 in Panketal. Weitere Live-Termine - abgesehen von einer "Sender-Reise" - sind bisher leider nicht zu finden. Hängt es damit zusammen, dass Heiner Lürig ab April erstmals seit vielen Jahren wieder mit Heinz Rudolf Kunze auf Tour gehen wird oder gibt es noch andere Gründe?
Es wäre ungerecht, es so zu behaupten. Dass Heiner Lürig nach Jahren wieder für HRK komponiert und ein Tourangebot angenommen hat, sperrt ein paar Termine aber nicht halb so viele, wie meine Konzertarbeit in verschiedenen Projekten innerhalb meines 40. Bühnenjahres. Ich spiele solistisch, mache Musik-statt-Krieg-Konzerte, habe wieder ein Rockkonzept mit Eisbrenner & Tatanka Yotanka und in der Adventszeit wird es meine zweite Weihnachtstour geben. Im November wird, wieder mit Release im Neu Helgoland Berlin, mein Doppelalbum "Selbstportrait 2020" (AT) erscheinen, das übrigens auch von Heiner Lürig produziert werden wird. In der zweiten Jahreshälfte wird es auch HAUSBOOT-Konzerte zum dritten Album "Die letzten heiligen Dinge" geben. Was wir bisher nicht gefunden haben, ist eine Bookingagentur, die sich deutschlandweit des Themas HAUSBOOT annehmen kann. Danach suchen wir.
Wie fielen auf Eurer "Sender-Reise" die Reaktionen der verschiedenen Medien auf Euer neues Album aus?
Die ersten zwei Singles "Komm so leise wie der Schnee" und "Die Taschenspielerin" sind gut angenommen, in Hot Rotations und Hitparaden gelandet. Das Album hat uns auf Interviewreisen gebracht, in denen wir auf wirklich interessierte Journalisten treffen, denen es ein merkliches Bedürfnis ist, den Themen unserer Lieder ein Podium zu geben. In verschiedenen Sendern waren wir Album der Woche oder des Monats. Das alles freut uns sehr und auch, dass ich jetzt hier mit Euch ausführlich reden darf, ist großen Dank wert.
Wir drücken Euch und Eurem Team die Daumen, dass Ihr mit dem äußerst gelungenen Album ein möglichst großes Publikum erreichen werdet. Ebenfalls bereits im Handel erhältlich ist ein Buch über Deine Reisen nach Russland. Was verbindet Dich mit diesem Land und den Menschen dort?
Ja, "Das Lied vom Frieden" erzählt von meinen Konzertreisen in den letzten 4 Jahren nach Russland, Belarus, Georgien, auf die Krim etc. Ich bin als DDR-Kind mit russischer Kultur aufgewachsen. Bücher, Musik und Filme haben mich geprägt und nähren meine Zweifel, wo man uns heute wieder Russland als gefährlichen Feind darstellen will. Und da diese Spirale sich ja auch wieder ins Bodenlose zu drehen scheint, habe ich begonnen, anfänglich mit Nachdichtungen russischsprachiger Rock- und Bardensongs, später mit dem Buch, das übrigens auch in einer deutsch-russischen Version erschienen ist, einen Gegenstrom zu erzeugen. Ich habe viel Positives zu erzählen und ich finde das Treiben von Politikern wie Herrn Röttgen, der keine Gelegenheit auslässt, um sein Russlandbashing in die Welt zu posaunen, unverantwortlich, undifferenziert und hochgradig dumm und gefährlich. Und das zum 75. Jubiläum des Sieges über den Hitlerfaschismus, für den die Russen die größten Opfer zu bringen hatten ...
Wird es eine Fortsetzung geben und wirst Du als Autor weiter in diese Richtung arbeiten oder war das ein einmaliger Ausflug in dieses Fach?
Na, es war ja nicht mein erstes Buch und ich bin sicher, dass es nicht das letzte gewesen sein wird.
Du spielst ja auch Konzerte in Russland. Ist das immer noch so wie in den 80er Jahren, dass die Säle voll sind und das russische Publikum neugierig ist?
Na, wenn Du das so pauschal einschätzt, dann darf ich ja auch pauschal antworten. Was die Russen noch immer in die Waagschale zu werfen haben, ist eine hohe kulturelle Bildung und sehr aktuell wird in der Politik Russlands auch wieder genau darauf gesetzt. Und eine hohe kulturelle Bildung bringt zwangsläufig interessiertes Publikum in die Konzertsäle. Was mich aber besonders rührt, ist die warmherzige Offenheit, mit der sie mich als Deutschen empfangen und mir ihr Gehör schenken. Das ist keine Selbstverständlichkeit bei dem, was sie von deutscher Politik so abbekommen. Aber die Russen glauben nach wie vor daran, dass Deutschland und Russland eigentlich gute Nachbarn sein können und werben dafür mit großer Langmut. Wenn dann einer wie ich kommt und sie in ihrer Vorstellung von deutsch-russischem Zusammenhalt bestärkt, sind sie sehr dankbar. All so etwas erzählt mein Buch in wirklich schönen Episoden.
Bringst Du Deine Songs dort auf Deutsch zu Gehör oder gibt es Übersetzungen Deiner Lieder ins Russische?
Ich bringe ihre Songs auf Deutsch. Das begeistert sie sehr. Und inzwischen gibt es auch ein paar Lieder von mir auf Russisch. Zum Beispiel die beiden HAUSBOOT-Songs "Fluss der Zeit" und "Lied vom Frieden".
Wie nehmen es die russischen Menschen eigentlich auf, wenn ein Deutscher die Lieder von dort nach Deutschland trägt und sie für das Publikum dort sogar in der Landessprache vorträgt?
Staunend, begeistert und dankbar.
Wird es darüber hinaus zu Deinem 40. Jubiläum noch weitere neue Dinge geben?
Nun, ich verteile über das Jahr ein paar Schmankerl, die ich auf die Bühne bringe. Z. B. werde ich am Wochenende vom 28./29.05. gleich zwei Premieren bzw. Ausnahmekonzerte geben. Details dazu findet man unter www.eisbrenner.de/termine
Tino, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Dir für Dein 40. Bühnenjahr und alle Deine Projekte alles Gute! Gibt es noch etwas, was Du unseren Lesern mitteilen möchtest?
Ich danke auch. Und Euren Lesern wünsche ich einfach nur glückliche Momente und den Mut zu Gemeinsamkeit. Auf bald!
Interview: Mike Brettschneider
Bearbeitung: cr
Fotos: Marius Lürig, Pressematerial, Redaktion (Dajana Gehn)
Bearbeitung: cr
Fotos: Marius Lürig, Pressematerial, Redaktion (Dajana Gehn)