000 20180902 1375597556  


uesc 20180902 1139848370

Interview vom 30. August 2018 (VÖ: 2. September 2018)

 

 
Man nennt ihn den Basskran. Aber warum eigentlich? Marcus Schloussen ist ein Baum von einem Kerl. Kann es daran liegen? Auf jeden Fall ist er seit den 70ern nun schon in der deutschen Musikszene unterwegs, und das ist auch ein interessanter Fakt, über den es sich zu unterhalten lohnt. Zuerst spielte bei den Gruppen SETZEI und REFORM, und nunmehr ist er schon seit genau 20 Jahren bei RENFT. Damals, 1998 stieg er dort ein und blieb bis heute. In all den Jahren, schon vor seiner Zeit bei SETZEI, bei REFORM und natürlich auch bei RENFT, ist allerhand passiert.001 20180901 1101191301 Schöne Dinge, die man gern mit in seine Erinnerungen aufnimmt, aber auch schlimme Erlebnisse, die man am liebsten versucht aus dem Kopf zu kriegen, sie aber dummerweise wohl nie wieder vergessen kann. Vor etwas mehr als 10 Jahren hätte ein tragischer Verkehrsunfall sein Leben beenden können. So, wie es das seines Bandkollegen Heinz Prüfer beendete, mit dem er im gleichen Auto saß. Gott sei Dank hat Marcus Schloussen diesen Unfall überlebt und kann so noch über die vielen Erinnerungen aus über 40 Jahren Karriere erzählen. Anlässlich des 20. Dienstjubiläums bei RENFT traf sich unser Kollege Christian mit dem Basskran und hatte viele Fragen im Gepäck ...




Zuletzt war ja immer mal wieder zu lesen, dass Du gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe bist. Was ist los, geht's Dir wieder gut?
Ja, gesundheitlich bin ich jetzt wieder stabil. Von gesund kann man nicht reden, aber von stabil. Bei mir wurde eine Lungenkrankheit sowie eine verminderte Herztätigkeit - also die Pumpleistung vom Herzen - festgestellt und da passieren schon mal Dinge, die nicht zu beeinflussen sind. Da haut's dich einfach um. Das ist ein bisschen blöd. Kurioserweise muss ich nun ein Jahr ein Medikament einnehmen, welches die Lungenkrankheit stoppen soll und dieses Medikament hat als Nebenwirkung den Effekt, dass es ins Knochenmark geht und die Bildung von weißen und roten Blutkörperchen behindert. Dann stehst du da, hast eine Anämie, hast ohnehin schon eine verminderte Pumpleistung vom Herzen, davon ist man beeinflusst, aber ich fühle mich beim Atmen momentan eigentlich ganz gut. Ich muss ja keine 100-Meter-Läufe mehr machen ... Aber wenn du dann obendrein noch zu wenig rote Blutkörperchen hast, die eigentlich den Sauerstoff ins Blut transportieren, dann schaffst du es nicht mal mehr, eine Mülltüte über den Hof zu tragen. Dafür fehlt dann die Kraft. Das hat sich jetzt wieder zum Positiven verändert, weil ich dieses Mittel abgesetzt habe. Anfang des Monats war ich in Schleswig-Holstein mit einem Kinderprogramm unterwegs und habe mir dort wahrscheinlich innerhalb von eineinhalb Tagen eine Lungenentzündung zugezogen. Dieses Medikament soll ja dein Immunsystem nach unten drücken, weil dieses Immunsystem die Lunge angreift. Wenn du aber kein Immunsystem hast, dann bist du gegen alle Arten von Entzündungen und ähnlichem anfällig. Da hebelte es mich mit einer beidseitigen Lungenentzündung aus und daher wurde entschieden, dieses Medikament abzusetzen.

Das ist aber nicht COPD, was Du hast, oder?
Nein, das ist nicht COPD. Was die Lunge betrifft, ist es Sarkoidose ... Kurioserweise ist das wissenschaftlich nicht erwiesen und niemand weiß, woher es kommt. Da setzen sich kleine runde, gutartige Kullern - Granulome - in verschiedenen Organen fest und blockieren das, was sie besetzt haben und behindern die Lungentätigkeit. Angeblich habe ich was am Herzen oder an der Milz. So hat man das 2012 oder 2011 festgestellt.

Mein lieber Marcus, wir sind ja nun nicht für ein Interview für die "Apotheken-Rundschau" zusammengekommen, lass uns mal über die Musik reden ...
Richtig (lacht) ...

Als erstes die Frage vorangestellt: Dein Spitzname "Basskran" - wo kommt der eigentlich her?
Das ist eine lustige Geschichte. Es war zu der REFORM-Zeit, wir waren in einem Proberaum in Magdeburg. Es passierte ganz selten, dass bei REFORM mal geprobt wurde, aber da ging es darum, den Schlagzeuger, den Keyboarder und mich einzuarbeiten. Wir hatten gute Laune und irgendwie meinte Grete Fischer: "Mensch, gib mir doch mal die Flasche Bier rüber", die in irgendeiner Ecke stand. Neben mir war der Schlagzeuger, neben ihm stand Grete und ich habe die Flasche Bier einfach über den Schlagzeuger zu Grete gereicht. (lacht) Über diese ausladende Bewegung meines rechten Arms musste er so lachen, dass er sagte: "Kick dir dit an, der Basskran." So war diese Wortschöpfung geschaffen, die kommt von Günter "Grete" Fischer. Er ist mittlerweilie übrigens in Neuseeland ...

Du kommst aus einer musikalischen Familie, wie ich gelesen habe. Deine Mutter war Opernsängerin, stimmt das?
Ja, das ist richtig. Die ganze Familie kommt ja eigentlich aus dem Westen. Meine Mutter ist in Friedrichroda geboren, wurde aber im Westen groß. Das war die Coburger und Frankfurter Ecke. Mein Vater kommt aus der Nähe von Wachtendonk in der Nähe von Krefeld und Aachen. Meine Eltern hatten in den 50er Jahren die Möglichkeit, hier an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" zu studieren. Irgendwie hat sie es auch in den Osten gezogen, weil sie politisch denkend waren und sie hat interessiert, mal in das Land zu gehen, in dem etwas Neues aufgebaut wird. Insofern verschlug es mich als kleinen Jungen mit fünf Jahren in den Osten. Sie machten dann ihr Studium fertig und 1961 hatte meine Mutter ihr erstes Engangement in Annaberg. Wir kamen von einer Urlaubsreise zurück - die Familie machte nach wie vor im Westen Urlaub, diesmal in Italien - und mein Vater und mein Bruder blieben dann bei der Oma drüben. Meine Mutter und ich gingen nach Berlin, hier hatte ich eine Pflegetante. Zu diesem Zeitpunkt - das war 1961 - war ich schon das zweite Jahr in einer anderen Schule. Meine Mutter musste nach Annaberg, ich wurde bei der Tante abgeliefert. Das war am 11. August und am 13. veränderte sich plötzlich etwas in Deutschland ... (lacht) Somit war die Familie auch getrennt, mein Vater kam erst ein oder eineinviertel Jahr später wieder, ihn verschlug es nach Karl-Marx-Stadt. Er ging dort in die Konzert- und Gastspieldirektion als parteiloser freier Mitarbeiter. Meine Mutter ging von Annaberg nach Rudolstadt, die Kinder wurden aufgeteilt. Mein Bruder ging zu meiner Mutter, ich ging zu meinem Vater. Dann war ich also in Karl-Marx-Stadt in der Schule und in irgendwelchen Winterferien besuchte ich meine Mutter und meinen Bruder. Dort gefiel es mir so gut, dass ich sagte "Ich möchte zu meinem Bruder", und dann setzte mich der Alte in den Zug. So war ich auch in Rudolstadt in Thüringen. Dort waren wir bis 1966 und danach ging es durch einen Wohnungstausch wieder nach Berlin. Es hatte immer etwas mit den Gastspielen meiner Mutter zu tun, je nachdem, was sich ergab.

Wenn Du von Deinem Bruder sprichst, sprichst Du dann von Alexander?
Ja, von Alexander Schloussen. Er ist auch Musiker gewesen, war Mitbegründer der GAUKLER ROCK BAND bzw. in deren Erstbesetzung dabei.

Bei der SCHUBERT BAND hat er auch gespielt ...
Er spielte bei SCHUBERT, bei EXPRESS und zum Schluss bei KEKS. Das war eigentlich auch alles sehr traurig durch diese Überreaktion bei einer Leistungsschau - auch in Karl-Marx-Stadt - bei der man den Jungs nach ihrer tollen Arbeit eine schon versprochene Goldmedaille wieder aberkannt hatte, weil der Gitarrist Powileit wahrscheinlich zu blond gefärbte Haare hatte. Da hatte die Hälfte der Band einen Ausreiseantrag gestellt und dadurch hatte sich KEKS dann auch erledigt. Die Band bestand zwar weiter, aber nicht mehr in dieser großartigen Besetzung, in der sie richtig gut war.

Er macht heute keine Musik mehr?
Nein, Alex macht keine Musik mehr. Er lebt in Mahlow. Als er in Westberlin war, merkte er, dass das mit den gebratenen Tauben auch nicht so richtig funktioniert, vor allem nicht beim Musikmachen. Er fuhr dann lange TAXI, zur Wendezeit war er im Immobiliengeschäft (nicht im Maklergeschäft) tätig.

003 20180901 1790774754Was war denn der Auslöser für Dich, auch eine musikalische Laufbahn einzuschlagen? Wann und in welcher Form kam das?
Es stimmt. Irgendwelche Talente schlummerten schon immer in mir und richtig zum Vorschein kam das erst, als ich in Karl-Marx-Stadt bei meinem Vater war. In diesen eineinhalb Jahren kam ich an eine Schule, die während dieser Zeit den Ehrennamen "Valentina Tereschkowa" bekam, weil eben diese Valentina Tereschkowa zu dieser Zeit gerade wieder aus dem Orbit zurückkam. An dieser Schule gab es einen Fanfarenzug. Ich war in der vierten Klasse und nahm dort an der Trommelausbildung teil. Das machte mir Spaß und schulte mich unheimlich. Gleichzeitig schickte mich mein Vater privat zum Klavierunterricht. Dann erkannte man, dass die wesentlichen Dinge in mir schlummerten: Talent, Rhythmusgefühl und Intonation. Das sind so die wichtigen Geschichten, die man als Voraussetzungen haben sollte. Das musikalische Talent entwickelte sich im Laufe der Zeit, Überleg mal, 1966 in Berlin-Hohenschönhausen: Berlin war der Nabel der Welt, die ganze internationale Szene der Beatmusik war in Berlin immer abrufbar, über Radio zu hören, es gab jeden Tag großartige Bands, die BEATLES, die STONES, die HOLLIES und alles, was es noch gab. Das war so bunt, so reichhaltig und solch eine großartige Musik, dass man autodidaktisch über Freunde die ersten Griffe auf der Gitarre gelernt hat. So ging es los, als wir so 13, 14 Jahre waren. Dann konnte ich die ersten fünf Griffe auf der Gitarre, konnte "Heart Of Gold" und ein bisschen "Lady Jane" spielen und damit war klar, dass jetzt eine Weltkarriere beginnt ...

Also wir halten fest: Du hast Klavier richtig mit Unterricht erlernt ...
Ja, aber auch nur ein Jahr. Und in dem Fanfarenzug Trommelunterricht für die kleine Trommel. In einem Fanfarenzug müssen 20 Leute immer das gleiche trommeln. Zum Üben wurden wir in der Schule in den Werkraum geschickt und dort wurde auf den Werkbänken getrommelt. 20 Mann nebeneinander ... Diese Bänke federten genau so zurück, wie eine richtige kleine Trommel. Aber du kannst dir vorstellen, was eine kleine Trommel für einen Krach macht. Wenn das 20 Leute machen, fallen dir die Ohren ab. Deswegen wurde auf Werbänken getrommelt und man hat jeden falschen Schlag gehört. So wurde geübt und das schulte unglaublich.

Das Instrument, welches Du heute in der Band fest spielst, hast Du also autodidaktisch erlernt?
Ja, ich bin ein Autodidakt. Es war auch schwer mit den Noten, es passierte alles erst, nachdem ich von der Armee zurück kam. Nach Noten spielen zum Beispiel in der Musikschule Friedrichshain.

Gab es während Deiner Schulzeit Bands?
Während der Schulzeit war es völlig verrückt und das war auch immer ein Anreiz. Ich ging in eine Schule, in der in Klassen über mir Musiker wie Bobby Görke (er war auch mal Bassist bei REFORM) oder auch Axel Stammberger, mit dem ich heute noch zusammenarbeite, gingen. Ich war in der sechsten, die aber schon in der achten oder neunten Klasse. Die gaben sich also nie mit mir ab. Die gingen in Hohenschönhausen immer in den Jugendclub "Dr. Victor Aronstein". Das war in der 60er, 70er Jahre-Szene ein sehr bekannter Club, weil dort auch viele Bands spielten. Um Kontakt zu diesen Leuten zu bekommen, ging ich auch in diesen Club.004 20180901 1684307300 Aber ich war ja ein kleiner Pimpf und ging also in den Fotozirkel dieses Clubs, so dass ich dort immer Zutritt hatte und mir heimlich an den Türen der Proberäume dieser Bands die Nase plattdrücken konnte. So konnte ich mehr oder weniger daran teilnehmen, wie die in ihren Bands spielten. Innerhalb dieses Jugendclubs gab es dann einen großen Umbruch, diese Generation ging dort raus und wir als Nachzügler kamen rein. Dort hatte ich dann - mehr oder weniger - meine erste Band. Das war so 1969, 1970, die Band bestand aus befreundeten kleinen Jungs und mit einem von denen sollte ich dann später bei SETZEI spielen, das war Peter Scheffler.

Was hast Du direkt nach der Schule gemacht, war sofort die Armee dran oder erst noch ein Beruf?
Erst die Lehre. Ich bin ausgebildeter Chemie-Facharbeiter. (lacht) Irgendeinen Beruf musste man ja machen und eigentlich wollte ich Koch werden, dazu kam es allerdings nicht, da die Halbjahreszeugnisse zu schlecht waren. So lernte ich also zwei Jahre, wurde Chemie-Facharbeiter und spielte in dieser kleinen Schülerband. Wir hatten auch vereinzelt Muggen, kleine Sachen also.

Und dann gab es während der Armeezeit das einschneidende Treffen mit Rainer Schossig ...
Armeezeiten sind ja manchmal sehr sehr unglücklich und ein ziemliches Hin und Her. Alles, was ich im Prinzip so erlebte, lernte sicher auch jeder andere so kennen. Ich hatte Glücksmomente während dieser Armeezeit. Das erste Glücksmoment war, dass ich nicht bei der Armee, sondern bei der Bereitschaftspolizei war. Die dort zu erfüllenden Aufgaben waren andere, als zum Beispiel bei der Armee irgendwo in einer Sandwüste zu dienen. Wir waren am Rande von Berlin stationiert und für Berlin zuständig. Der zweite Glücksumstand war, dass ich Rainer Schossig kennenlernte und noch zwei, drei oder vier weitere großartige Kollegen, mit denen ich heute noch befreundet bin. Und der dritte war der, dass wir gemeinsam in einer Band spielen konnten und aufgrund unserer ziemlich großen Bandbreite auch oft eingesetzt wurden. Manchmal spielten wir mehr, als dass wir auf Wache geschickt worden wären ... (lacht)

Und wer waren diese Kollegen?
Ich kann mich namentlich nicht mehr an alle erinnern. Es gab aus der Leipziger Szene jemanden, der Trompete und auch professionell Noten spielen konnte, dann gab es jemanden, der Saxophon und Akkordeon spielte. Das Akkorden war eine Allzweckwaffe. Du musst Dir vorstellen, die haben uns ja desöfteren hier in Berlin auf die Polizeireviere verteilt. Wann immer die also eine Frauentags-, Weihnachts- oder irgendeine andere Feier hatten, spielte dort diese Band. Wir konnten von CHICAGO bis hin zum "Blauen Bock" alles spielen. Einfach alles. Und am Schlagzeug war Cornelius Gröger, der später dann bei der Hallenser Band ZEBRA Schlagzeuger wurde. Mit Conny Gröger, Rainer Schossig und meiner Position war in der Band plötzlich nur noch der Bass frei. Ich war für den Bass noch gar nicht vorgesehen, ich war ein schlechter Rhythmusgitarrist. Mehr war ich eigentlich nicht. Und ich habe Rainer Schossig kennengelernt, der einen unglaublichen Blues in den Fingern hatte und eine unglaubliche Gitarre spielen konnte. Den Rainer holten wir mit in die Band und er konnte dasselbe auch noch mal auf der Orgel spielen. Er brachte mir während dieser Zeit den Blues bei, er brachte mir alles bei. Es war einfach ein Glücksfall. Kurioserweise musste ich dann den Bass in die Hand nehmen und wusste aber auch sofort, was man da zu tun hat. Ich wusste es. Wir hatten auch das Glück, ich war von 1973 bis 1976 bei der Armee, dass sich durch die Anerkennungswelle der DDR die Dienstvorschriften etwas zum Positiven geändert hatten. Es lockerte sich also einiges. Man musste in den 70er Jahren also keinen Fassonschnitt - so wie heute die Glatzen rumrennen - mehr haben, sondern ein Messerformschnitt war erlaubt. Wir waren ja immer scharf darauf, die Haare so lang wie möglich zu tragen. Das war in den 70er Jahren alles sehr sehr wichtig ... (lacht) Und es war möglich, dass auf jeder Bude, auf der sechs Leute waren oder auch auf den Unteroffiziersbuden, auf denen zwei oder drei Leute wohnten, dass da ein Radio, ein Tonbandgerät oder auch ein Plattenspieler sein konnte. Das waren alles Erleichterungen und insofern hatten wir als musikbegeisterte Leute die Möglichkeit, Musik zu hören. Wir hörten alles, wir hörten Musik, es war völlig unglaublich ... Wenn irgendeine Band in der Welt eine neue Platte herausbrachte, hatte die einer von uns eine Woche später auf Tonband. Insofern konnten wir uns bilden, wir waren so wissbegierig. Die 70er Jahre, das waren ja BLOOD SWEAT & TEARS, CHICAGO, es kamen die ganzen DEEP PURPLE- und LED ZEPPELIN-Sachen, dann die Jazzrock-Zeit, wir konnten uns bilden. Es war unglaublich. Ab und zu konnten wir dann auch in den Proberaum gehen, um zu versuchen, das eine oder andere auf unseren Instrumenten umzusetzen. Das war unglaublich kreativ ...

Wann in dieser Zeit entstand denn die Idee, die Gruppe SETZEI ins Leben zu rufen?
Da hieß sie noch nicht SETZEI. Aber während dieser Zeit war klar, dass wir eine Band gründen werden. Rainer kam ein halbes Jahr nach mir wieder raus und so wurden nach unserer Entlassung in Berlin einige Sachen vorbereitet. Gleichzeitig mit mir wurde mein Bruder entlassen, der brachte wiederum einen Sänger mit, der dann später bei SETZEI auch der erste Sänger wurde. Das war Winfried Katscher aus Glauchau. Mein Bruder diente nicht mehr in Eggesin, er brachte dan Katscher gleich mit. Der fuhr nach der Entlassung gar nicht erst nach Hause, sondern kam gleich nach Berlin und hatte schon bei uns eine Kammer. Dann ging es sofort los und aus dieser Besetzung entstand in Fürstenwalde eine Band namens PATHOS. Dann zogen wir nach Berlin und namentlich wurde daraus die Band SETZEI. Zwischenzeitlich kam dann auch Peter Scheffler wieder aus Hohenschönhausen zurück, wo er in einer anderen Band spielte, und es gelang uns, ihn bei uns unterzubekommen. Dann spielten Peter und Rainer Schlossig gemeinsam mit uns bei SETZEI. Das war eine großartige Zeit ...

Du hast es gerade schon erzählt. Ihr habt alles, was neu auf dem Markt war, schon auf Tonband gehabt und versucht, es nachzuspielen. Ich las, dass SETZEI anfangs Sachen von Rory Gallagher, Roger Chapman oder ZZ TOP nachgespielte. Wie habt Ihr Euch das früher draufgedrückt? Ihr hattet ja keine Noten und nichts, sondern wahrscheinlich eben nur diese Tonbänder, oder?
Autodidaktisch. Wenn du auf der Gitarre anfängst, lernst du erst mal Griffe. Hallo, ich kann den, ey, ich kann Barreé und so weiter und so fort. Die Musik hat dich umschwirrt, man konnte hier in Ostberlin sämtliche Westsender hören. Und dann sagte einer: "Kiek mal, das sind die Griffe vom letzten BEATLES-Song." So hat man sich das erarbeitet. Man war auch wissbegierig, das zu lernen. In Zusammenarbeit mit Rainer Schlossig kam ja noch hinzu, dass das Blues-Feeling rüberkam. Rainer hat gezeigt, wie so der Blues hängt. Es war dann auch gar kein Problem, zum Beispiel Titel von Rory Gallagher zu spielen. Gallagher hat 1978 im Rockpalast gespielt und wir konnten ja auch Westfernsehen sehen. Die Rockpalast-Nächte waren für uns die größten Festivals, die man sich vorstellen konnte. Da saßen wir vor dem Fernseher und sahen uns diese Ereignisse an. Das war unglaublich. Und Gallagher war ja gleich der erste oder zweite, der den Rockpalast eröffnet hat und fackelte dort ein Konzert ab, da bekamen wir überhaupt keine Luft mehr ...

Jüngere Menschen, wenn sie heute dieses Interview lesen, sollten vielleicht dazu wissen: Sich den Rockpalast anzusehen, war in der DDR ja eigentlich gar nicht erlaubt ...
In der DDR erlaubt? Man hat es ja sowieso gemacht und wäre dafür nicht ins Gefängnis gekommen. Westsender nicht zu hören oder zu sehen, daran hielt sich natürlich niemand. Kein Mensch. Natürlich war es offiziell nicht erlaubt, aber es stand auch nicht unter Strafe. Wenn du das nun publik oder Werbung dafür gemacht hättest, vielleicht. Wir hatten in den 60er Jahren alle eine Kofferheule, mit denen wir oft genug unterwegs waren und wenn wir uns auf den Straßen trafen, dann standen vier Leute mit vier Kofferheulen, also Transistorradios, auf den Armen herum und jeder hatte seinen eigenen Sender. So wie heute jeder sein Handy hat, hatte damals jeder seine eigene Musik dabei. Nur wenn du Glück hattest, hörten alle zufällig den gleichen Sender. Da hat sich niemand drum geschert, was verboten oder nicht verboten war. Wir haben damals Sender wie DT64 eher verlacht, weil auch die DDR-Schlager- oder Beat-Musik in den Anfängen eigentlich ziemlich lächerlich war. Richtig interessant wurde die ganze Geschichte ab 1969, als es auch politisch durchgesetzt wurde, dass man DDR-Rockmusik förderte. Es gab dann die einzelnen Sendungen dazu. Dann gab es die Auflagen, es dürfen sich Bands gründen. Denn Bands gab es natürlich schon seit Beginn der 60er Jahre. Es gab schon RENFT, die spielten natürlich meist ihre Helden nach und offiziell war auch das nicht erlaubt.

Zurück zu SETZEI. Wie entstanden denn die ersten eigenen Songs, wer war da federführend und woher kamen die Ideen dazu?
Das passierte innerhalb der Band. Zuerst mal haben wir uns ein Programm erarbeitet, mit dem wir in der Lage waren, im Land aufzutreten und konkurrenzfähig zu sein. Unsere Idee war, nicht die Songs zu spielen, die andere spielten. Um uns herum gab es ja Bands ohne Ende, aber die spielten meistens dasselbe. Wenn sie ein Keyboard hatten, spielten alle MANFRED MANN's EARTH BAND oder DEEP PURPLE ... Wir wollten eine Art Rockmusik machen, die zwar toll losgeht, aber nicht unbedingt so bekannt war. Und da half uns der Rockpalast mit Gallagher, das war erst mal eine Idee. Wir spielten auch mal zwei AC/DC-Titel, dann gab es 1978 die großartige Peter Frampton-Live-Platte, von ihr spielten wir auch zwei Titel. So haben wir damals die Auswahl getroffen. Und nachdem wir eigentlich ein gutes Repertoire hatten, um drei Mal eine dreiviertel Stunde - wie es damals üblich war - spielen zu können, kam uns die Idee, lasst uns doch auch mal was eigenes machen. Das war dann auch ein wenig die Anstachelung durch andere Bands, auch daran zu denken, irgendwann mal Profis werden zu wollen. Da heißt, du musst zur Musikschule, du musst dich bilden, du musst deine Abschlüsse machen. Aber du musst als Band natürlich auch was anbieten, dann reicht es nicht, eine Coverband zu sein, wie es heute gang und gäbe ist. Es müssen eigene Titel her und die entstanden dann gemeinsam im Proberaum. Und was ganz interessant war, unser damaliger Manager war - wie sich das aber auch alles dreht (lacht) - auch gleichzeitig der Techniker und Kraftfahrer einer gewissen Liedermacherin namens Barbara Thalheim. Er fuhr sie immer zur Mugge und wir hatten bis dahin auch noch nie Kontakt miteinander. Aber Thalheims Mann Fritz-Jochen Kopka, der für Thalheim die Texte schrieb, was vielen nicht bekannt ist, hat sich von unserem Manager erweichen zu lassen, zwei Texte für SETZEI zu schreiben. Das tat er sonst nie, er schrieb und textete nur für Barbara Thalheim, so lange die beiden ein Lebenspaar waren. In diesem Fall schrieb er die Texte zu "Hallo Setzei" und - wenn ich mich nicht irre - "Der Mond und ich". Eigentlich noch für einen dritten Titel, der wurde allerdings im Lektorat für SETZEI nicht anerkannt, Barbara Thalheim nahm ihn zurück und sollte den Titel dann selbst singen und spielen, als ich zehn Jahre später zu ihr in die Band kam ... (lacht) So entstanden die ersten beiden Titel von SETZEI.

Du hast die Titel gerade schon genannt, es muss 1981 gewesen sein. Da hattest Du mit SETZEI dann also Deine erste Plattenproduktion ...
Ja, wir waren 1980 oder 1981 in Suhl zur Werkstattwoche der Jugendtanzmusik, zu dem Zeitpunkt hatten wir die Titel aber schon zwei Jahre auf der Bühne gespielt.

Fand diese Plattenproduktion zufällig in dem Ü-Wagen von Luise Mirsch statt?
Nein, die ganze Geschichte fand in diesem Kulturhaus in Suhl statt. Hinter dem Vorhang war eine Art Studio aufgebaut und die Titel wurden unter Live-Bedingungen eingespielt. Mit Luise hatte das leider weniger zu tun, sie lernte ich erst bei REFORM kennen. Damals war es Walter Cikan, der für die Produktion zuständig war. Die Platte hieß "Auf dem Wege", neben zum Beispiel ZOE war dort auch ein Titel von SETZEI drauf.

Also nicht direkt im Studio, sondern eine studioähnliche Geschichte?
Es war studioähnlich, bei der man Amateurbands auf die Schnelle verewigte, aber es waren durchaus brauchbare Produktionen.

Später kam noch das Stück "Kofferpacken" hinzu, das muss wohl ein oder zwei Jahre später gewesen sein ...
Im Laufe der Zeit passierte folgendes: Die "BEAT-KISTE" der DDR war ja auch die Wertungssendung und der Redakteur Harry Balkow-Gölitzer - der leider im Februar verstarb - hatte an uns einen Narren gefressen. Harry mochte die Band und ermutigte uns und sorgte dafür, dass wir mal ein Konzert spielen konnten, welches live mitgeschnitten wurde. Bei diesem Live-Mitschnitt wurden, bevor das Konzert startete, auch noch mal zwei Titel unter Live-Bedingungen aufgenommen.008 20180901 2022786309 Einer von ihnen war "Kofferpacken" und der zweite Song schaffte es sogar in die Wertungssendungen. Das war Harrys Verdienst und er sollte dann auch unser Texter werden. Er textete unter anderem auch für CITY und insofern war Harry unser Mentor. Und zur SETZEI-Zeit hatten wir noch einen Mentor, das muss ich unbedingt erwähnen: Der hieß Georgi Gogow und war der Bassist von CITY und kümmerte sich ab und zu mal um SETZEI, wir schrieben auch gemeinsam mal eine Partitur ...

Warst Du während Deiner SETZEI-Zeit auf der Hochschule "Hanns Eisler" in Berlin?
Nein. Ich kam von der Armee zurück und lernte durch einen anderen Freund, den wir dort hatten, Karsten Rätz, dessen Vater „Charlie“ Rätz beim Rundfunk arbeitete und auch eine eigene Band im Jazz-Bereich hatte, kennen. Es gab da mehrere Söhne und Charlie sah mich an und sagte: "Du wirst ein Bassknecht." Ich spielte damals schon Bass, aber E-Bass. Er vermittelte mir auf privater Ebene einen Lehrer, das war Manfred Rehorek. Der war Bassist im Großen Rundfunk-Tanzorchester unter der Leitung von Robert Hanell und gab Privatunterricht. Er brachte mir - zum ersten Mal überhaupt - alle Ansätze auf dem Kontrabass bei und dann ging es auch los mit Noten, Bogenhaltung, Fingerhaltung ... es war unglaublich. Aber nach einem Jahr Unterricht konnte ich durch diese Geschichte die Aufnahmeprüfung an der Musikschule Friedrichshain schaffen. Dahin wollte ich ja. Nachdem ich dort ein paar Etüden und Tonleitern spielen konnte, bemerkten die, dass ich gewisse Vorkenntnisse habe und auch Noten kann und sie nahmen mich in die Musikschule auf.

Also nicht "Hanns Eisler"?
Nein, nein. Und dann ging die ganz normale Amateurausbildung los. Wir wollten ja alle auf die Musikschule Friedrichshain. Es gab die normale Amateurausbildung und die zweijährige Profiausbildung. In dem Moment, als ich 1978 an die Schule kam, gab es schon den Beschluss, dass die Profiklasse in Friedrichshain nicht mehr weiter gefördert wird. Uns war also allen klar, wir können hier nur die Amateurklasse zu Ende machen. Das habe ich vier Jahre lang gemacht. Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe, Sonderstufe. Jedes Jahr eine weiter, jedes Jahr auch mit den gleichern Schülern. Unter anderen mit meinem Freund Christian „Chrissel“ Weise, dem ich zu verdanken habe, durch alle theoretischen Prüfungen gekommen zu sein (lacht), weil Chrissel als ausgebildeter Keyboarder mit den Noten natürlich bedeutend besser klar kam ... Als Bassist lernst du deine Noten meistens nur im Bass-Schlüssel. Wenn du urplötzlich noch ein paar Noten singen oder spielen sollst, die im Violinen-Schlüssel spielen, dann stehst du ziemlich blöd da ...

Aber trotz alledem hast Du Deinen Abschluss gemacht?
Ja. Zuerst die vier Jahre Amateurausbildung, dann das zweite Glück mit dem Basslehrer Georg Dietrich, den ich kennengelernt hatte und der mir vier Jahre lang das Bassspiel und die Ästhetik des Bassspielens beigebracht hat. Nach dem Abschluss der Amateurausbildung wurde ich von der Musikschule Friedrichshain für weitere zwei Jahre auf die "Hanns Eisler" delegiert. Dort war der Georg Dietrich auch, ich hatte also sechs Jahre lang den gleichen Lehrer und das war ganz großartig. Der hat zwar erkannt, dass ich eine geniale faule Sau bin, aber man konnte mit mir Musik machen und ich habe ihn oft genug nicht enttäuscht. Ich bin ihm sehr sehr dankbar.

Du warst dann bei SETZEI quasi einer von zwei Profis, wie geschrieben steht. Ein Musiker, der studiert hatte und somit die Möglichkeit hatte, in einer Profiband zu spielen ...
Pass auf, während dieser Zeit bist du ja laufend unterwegs, du spielst mit anderen Bands zusammen und als richtiger Patriot der DDR-Rockmusik habe ich natürlich auch die DDR-Hitparaden gehört, auch wenn SETZEI noch gar nicht in ihnen vertreten war. Trotzdem hörte ich sie mir an. Die westliche Musik habe ich sowieso gehört, aber ich nahm mir immer die Zeit, hörte mir an, was machen die PUHDYS, was machen CITY, was macht der, was macht der ... Man kannte dann ja auch schon Leute persönlich und es gab natürlich auch großartige Leute, die ich heute noch bewundere und respektiere. Wenn ich an Ed Swillms, Franz Bartzsch oder Vroni Fischer denke ... Und einer von denen war logischerweise der Sänger Stephan Trepte. Als ich Trepte zum ersten Mal bei LIFT mit Christiane Ufholz mit dem Song "Komm doch einfach mit" oder "Mein Herz soll ein Wasser sein" hörte, da dachte ich, mir fallen die Plomben raus. Und es gab natürlich so eine kleine Annäherung und dann gab es plötzlich REFORM. Als ich diese Band in der damaligen Besetzung mit Dobbersch, Kunze, Blankenburg, Piele und Trepte hörte, da dachte ich: "Was war denn das jetzt?" Da störte mich noch nicht einmal, dass es eigentlich eine blueslose Band war, die in Form von WISHBONE ASH usw. spielte. Eine tolle Band. Und dann kam doch plötzlich Blankenburg zu mir und sagte, er würde mich gern in der Band haben. Bei REFORM! Da habe ich natürlich lange mit mir gehadert, aber die Verführung, mit einem Typen wie Trepte zusammenzuarbeiten und dann auch noch in dieser Band spielen zu können, war einfach zu groß. Eine der wichtigen Sachen war auch, dass es bei SETZEI nicht mehr so richtig vorwärts ging, weil der Rest der Band einfach nicht zur Schule gegangen ist. So schnell kannst du nicht Profi werden. Wir hatten zur damaligen Zeit ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu vielen Berliner Bands, unter anderen auch ROCKHAUS, mit denen wir auch sehr gut befreundet waren. Die waren etwas jünger und wir halfen ihnen auch hin und wieder. Und die haben uns dann links überholt, die hatten ein Konzept und wollten was, und ruckzuck ging es los. Die waren Profis und hatten eben ihre Hausaufgaben gemacht. Da war ich natürlich auch ein wenig sauer und dann kam das Angebot von REFORM. Da verließ ich SETZEI, wenn auch mit einem blutenden Herz, das muss ich ehrlich sagen. Zumal zu diesem Zeitpunkt Matthias "Felix" Lauschus der Sänger von SETZEI war, der mir wiederum auch geholfen hatte. Felix war ein ausgebildeter Musikerprofi, ein Pfarrerssohn, völlige Klavier- und Orgelausbildung, Posaune und Trompete. Mundharmonika und Gitarre hatte er sich selbst beigebracht, er konnte singen und obendrein konnte er sich auch noch am Mikrofon verständlich machen, er konnte mit den Leuten reden. Also Felix war eine sehr perfekte Geschichte innerhalb der Band und zur damaligen Zeit - ich war ja immer noch an der Hochschule bzw. im Endstadium an der Musikschule Friedrichshain und hatte alle viertel oder halbe Jahre irgendwelche Prüfungen - war Felix derjenige, der mich dort am Klavier begleitet hat, während ich die schweren Etüden auf dem Kontrabass spielen musste. Mir ist das schon schwer gefallen, bei SETZEI wegzugehen, aber irgendwie hat Felix mich auch ermutigt. Er sagte: "Natürlich gehst Du zu Trepte, natürlich gehst Du zu REFORM."

Reden wir hier von 1982 oder 1984? Im Internet gibt es dazu zwei unterschiedliche Angaben ...
Ich denke, das wird dazwischen liegen. Nein, warte mal ... Ich war schon bei REFORM und habe mit REFORM meinen Abschluss auf der "Hanns Eisler" gemacht. Also muss es 1982 gewesen sein. Ich war - glaube ich - ein Jahr bei REFORM und danach begann die Reiserei. Also wir konnten mal nach Bulgarien, mal nach Ungarn und dann gab es auch mal die Trasse und eine große Russland-Tournee. Das muss so 1983 gewesen sein.

Die Band REFORM gab es ja schon ein paar Jahre. Du sagtest ja, dass Du das alles aus der Ferne beobachtet hast. Die hatten schon zwei Langspielplatten produziert und waren ziemlich angesagt. In welcher Verfassung hast Du die Gruppe REFORM bei Deinem Einstieg vorgefunden bzw. wie war die Stimmung innerhalb der Gruppe?
Na dann wieder gut, denn es gab ja eine Veränderung. Mein Vorgänger in der Band war ja Mike Demnitz. Über ihn gibt es gar nichts Negatives zu sagen, es war einfach großartig. Er hatte aber eine Spielart, die er wahrscheinlich heute noch hat, die manchmal nicht richtig zu orten war. Ansonsten war es aber völlig in Ordnung, was Mike dort machte. Die erste Platte, die REFORM machte, als noch Kunze mit dabei war, da waren Trepte und Kunze diejenigen, die sich gegenseitig mit eigenen Kompostionen hochgeschaukelt haben. Das war so eine positive Hassliebe. Und dabei kamen großartige Songs wie "Feuerball", "Ich suche dich", "Dicke Bohnen" oder "He, Schwester küss mich" heraus. Das sind alles tolle Sachen, die riesigen Spaß machen. Diese Formation hat mich erst mal richtig angemacht. Im Lauf der Zeit sah ich dann die andere Besetzung, Kunze ging raus zu ELEFANT und Ute Freudenberg und für ihn kam Günter "Grete" Fischer, spielte mit Matze zusammen und die Band war nach wie vor gut, da gibt es überhaupt keine Frage. In diesem Zustand bin ich rein und Matze wollte sich von Demnitz trennen. Die gingen sich aber ohnehin schon jahrelang auf den Senkel. Matze wollte sich verändern, sah mich dann mal mit SETZEI in Magdeburg im Café Impro und meinte: "Den Typ am Bass will ich haben." Und seitdem stellte er mir nach ... (lacht)

011 20180901 1465403876Kannst Du Dich denn noch an Dein allererstes Konzert mit REFORM erinnern?
Ja, das kannst Du glauben. Das war in Jena-Lobeda. Wir hatten ein paar Wochen geprobt und mussten dann immer nach Magdeburg fahren und es war klar, da und da ist die erste Mugge, und das war in Jena-Lobeda in einer Neubau-Gaststätte. Es war ja auch gleichzeitig die erste Mugge für den Keyboarder Thommy Kolbe. Bis dahin spielte Trepte Keyboards, wollte aber davon weg und nur noch ans Mikrofon. Und da holten wir uns Thommy Kolbe, der spielte zur damaligen Zeit festangestellt beim Orchester Curt Dachwitz in Magdeburg. Er musste erst mal aus seinem festen Vertrag mit Hilfe vom Rat der Stadt usw. herausgeeist werden. Ich glaube, das war ein dreijähriger Theatervertrag und ich weiß ja, was so ein Vertrag wert ist. Und da hatten wir Thommy Kolbe mit dabei, das war unser erstes Konzert.

Jetzt hattest Du mit SETZEI und mit REFORM auf der Bühne gestanden. Wo lagen für Dich die größten Unterschiede zwischen den beiden Bands?
Dass SETZEI fleißiger war und mehr geprobt hat. Ich hatte gedacht, ich komme von einer Amateur- in eine Profiband und dann musste ich mich erst mal fragen, wo bin ich hier überhaupt gelandet? REFORM konnte sich immer - das ist übrigens auch bei RENFT so - auf das Talent und das Können der jeweiligen Musiker verlassen. Es wurde einmal geprobt, dann stimmte die Chose und es ging raus ins Land zum Spielen. Bei REFORM war es so, dass man alle halbe Jahre die Möglichkeit hatte, in den Rundfunk zu fahren um drei Titel zu produzieren. Da musste sich die Band dann wieder zusammenfinden, denn die neuen Titel mussten ja erst mal geprobt werden, die man da neu erstellt hatte. Trepte war dann immer aufgefordert, mal wieder ein paar Titel zu schreiben, denn es war ja eine Art Kontingent, welches über Luise Mirsch für die jeweiligen Bands zur Verfügung gestellt wurde. Also jedes halbe Jahr konnte die Band drei Titel produzieren und wenn - sagen wir mal - 12 Titel fertig waren, gab es eine LP. So wurde das ja damals gemacht. Und wenn du den Draht zum Rundfunk hattest, hattest du deine ganzen Geschichten wie Lektorat und Produzenten über den Rundfunk abgehandelt und die anderen Bands wie KARAT oder SILLY hatten den Deal mit der Schallplatte. Da war es einfacher zu produzieren, aber da musste auch ein Konzept vorgelegt werden und du musstest gleich zehn Titel fertig haben, die man aufnimmt, damit die Platte auch voll wurde.

Das erklärt übrigens auch, warum auf dem REFORM-Album "Uhren ohne Zeiger" mit "Was ich liebe" noch ein Song drauf ist, bei dem Dein Vorgänger Mike Demnitz spielt, obwohl er zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr dabei war ...
Genau, und es gibt, glaube ich, noch einen weiteren Titel, die dann zusammen quasi zum "Auffüllen" genommen wurde. Die Titel waren auf noch keiner anderen Platte drauf. Auf der LP sind also Aufnahmen mit einer Spanne von ca. drei Jahren drauf.

Aber bei den restlichen Titeln bist Du am Bass zu hören, richtig?
Es kann sein, dass es noch einen Titel gibt, den ebenfalls Mike spielt. Ich weiß jetzt nicht mehr, welche Titel alle auf dem Album sind. Aber die anderen sind schon von mir. Besonders stolz bin ich ja auf das "Stehaufmännchen", da hat mir Trepte eine schöne Stimme geschrieben. Da kann man nicht meckern, was da auf dem Bass passiert.

Nach knapp vier Jahren war Deine Zeit bei REFORM auch schon wieder rum. Blankenburg verließ die Kapelle, kurz darauf auch Du. Was war denn da los, warum seid Ihr raus?
Das sind private Probleme gewesen. Ich habe mich bei REFORM immer wohl gefühlt und es gab auch keinen Knatsch in der Band. Meine Familie, die aus dem Westen kam, ging in der Zwischenzeit wieder zurück in den Westen. Meine Eltern über einen Ausreiseantrag, sie waren schon verrentet. Die politische Situation wurde immer angespannter, gewisse Sachen waren für uns alle einfach nicht mehr zu ertragen. Mein Bruder hatte den Vorfall mit KEKS und seinen Ausreiseantrag und erzwang sich die Ausreise über die tschechische Botschaft. Das übrigens noch zu einem Zeitpunkt, bevor Genscher auf dem Balkon stand ... Auch zu dieser Zeit wurden Leute nach hartnäckigem Kampf schon "verkauft". Plötzlich stand ich also alleine da und dachte mir: "Na, wie soll denn das mal werden?" Ich wollte ja irgendwann mal in einer Band spielen, die auch mal in den Westen durfte. Mit meiner Kaderakte - das kann man sich ja vorstellen, denn die ganze Familie war im Westen und das auch noch per Ausreisenatrag - hätte ich niemals die Chance gehabt, eventuell in einer Band zu spielen, die in den Westen reisen kann. Im Prinzip wollte ja jeder Musiker mal Reisekader werden. Wie mir Matze sagte, gab es desöfteren Anfragen von Agenturen aus Finnland und Dänemark, die REFORM haben wollten. Ohne, dass das überhaupt bis zu Matze kam. Das bekam er erst im Nachhinein heraus, dass die Kulturbezirksdirektion oder die Agentur für Unterhaltungskunst den Leuten in Finnland und Dänemark abgesagt hatte. "Nein, die Band kann nicht kommen, sie hat schon zu viele Verpflichtungen im Ausland." Das stimmte natürlich gar nicht ... So wurde das damals gehandhabt. Wir waren dann auch innerhalb der Band ziemlich abgewichst. Nicht untereinander, aber über die ganze Situation. Zu dieser Zeit hat das Land unglaublich viele gute Musiker verloren. Entweder sind sie im Westen geblieben oder sie sind ausgereist. Es gab plötzlich keinen Hansi Biebl mehr, es gab keinen Lenz mehr, Franz Bartzsch war nicht mehr da, Vroni Fischer ging, Holger Biege, Stefan Diestelmann ... Also die ganze erste Garde und wenn da eine ganze Bandbereite an Kollegen wegfällt, es aber scheinbar immer noch genügend in der zweiten Reihe gibt, die noch nicht mal im Ansatz in der Lage waren, die erste Reihe zu ersetzen, wird es ziemlich langweilig um dich herum. Gleichzeitig schossen dann diese furchtbaren Diskotheken aus dem Boden und es gab dort Veranstaltungen. Im Saal war eine riesige Diskothek aufgebaut und als Band spielte man lediglich als Beiwerk. Wobei im großen und ganzen ja auch gar keine Leute mehr da waren. Das war alles FDJ-gesteuert. Diese wirklich gut gemeinte Geschichte mit "Rock für den Frieden" wurde im Laufe der nächsten Jahre so politisiert und mit Vorgaben versehen, dass es eigentlich schon unerträglich war. In den Gaststätten wurde plötzlich ein goldenes "T" verliehen, aber es waren kaum noch Leute da. Es gab so viele Probleme in diesem Land, die durch die DDR Unterhaltungs- und Rockmusik nicht mehr geklärt werden konnten. Und glücklicherweise - das war wieder ein Glücksfall - sollte ich dann später mal mitbekommen, wie und von wem die Probleme angesprochen wurden, nämlich durch die Kleinkunst, in der ich später mal landen sollte ...

Also um es kurz zu sagen: REFORM sah sich nicht in der Lage, eine Reform einzuleiten ...
Nein, wir hatten sie zwar im Kopf, aber auch Trepte war müde. Alles verständlich. Wenn du acht Jahre hintereinander zum besten Sänger der DDR gewählt wirst und wenn sich das nicht auch mal in deinem Honorar niederschlägt - es gab ja diese Festeinstufung - oder du auch mal zu einem Festival fahren durftest, wo man sein Können hätte zeigen können, dann wird man müde. Wenn man hunderte Male zwischen Kulturhäusern in Rostock und Suhl hin- und hergefahren ist und seine Muggen gemacht hat, wird man müde. Und dann hat man eigentlich auch keine Lust mehr. Ich hatte dann einen Ausreiseantrag gestellt, sagte der Band Bescheid und es war klar, dass man damit rechnen musste, ganz plötzlich und überraschend ausreisen zu können oder zu müssen. Das war alles beredet und war nicht einfach. Da war Matze noch dabei und meinte: "Aber ich finde hier so schnell nicht einfach einen Bassisten, den ich nehmen kann." Ich sagte zu Matze: "Das ist richtig, ich möchte Euch auch nicht in den Arsch treten, bin vielleicht über Nacht weg und Ihr steht da und habt keinen Bassisten. Also sieh mal, ich habe hier einen kleinen frechen Schüler, der spielt in Berlin in einer kleinen Blues-Band. Er macht einen guten Eindruck, hat alle Voraussetzungen. Ich werde also meinen Lehrplan ändern, ihn auf REFORM-Geschichten umpolen und dann wird er in einem viertel Jahr meinen Job annehmen." Dieser Schüler war Reinhardt "Maxs" Repke. Ihn bereitete ich vor und er fiel zunächst aus allen Wolken. Jedenfalls hat er mich dann ersetzt, ich hörte freiwillig auf und sollte noch weitere eineinhalb Jahre warten. Insgesamt wartete ich zwei Jahre und zwei Monate und war aber raus. Maxs hatte meinen Job übernommen und während meiner untätigen Zeit drehte sich das berühmte Bassisten-Karussell in allen, aber wirklich allen Bands. Protzmann flog bei KARAT raus, Bimbo ging von STERN MEISSEN zu DATZU, Mathias Schramm wurde von SILLY entfernt und kaltgestellt, Reznicek ging von PANKOW zu SILLY, Ingo Griese ging zu PANKOW und schloss Rezniceks Lücke. Und Repke - nachdem er ein gutes Jahr bei REFORM war - kündigte plötzlich, weil er zu ROCKHAUS wollte. Und dann stand plötzlich Trepte wieder vor meiner Tür und meinte: "Pass auf, es ist jetzt eigentlich scheißegal, ob Du einen Ausreiseantrag hast oder nicht, wir haben noch 25 Muggen und die wirst Du auch noch überleben. Danach wird sich REFORM sowieso auflösen. Also mach' die letzten 25 Muggen noch mit." Also stieg ich noch mal bei REFORM ein und wir spielten mit sehr viel Spaß und sehr viel Freude die letzten 25 Muggen. In der Zwischenzeit war auch Blankenburg raus, weil er eine sehr schwierige Operation hatte und - wie man munkelte - auch vorhatte, auszureisen. Das war aber alles ziemlich verschwiegen ...

Wann war denn dann genau Deine Ausreise in den Westen?
Nein nein nein, dazu ist es ja nicht gekommen. Ich machte meine letzte REFORM-Mugge im damaligen Garbaty-Club in Pankow und da kam ein Freund zu mir, der gerade zu Besuch war. Er sagte mir, dass ich gerade ein Telegramm bekommen und er es gleich mitgebracht hätte, weil er wusste, wo er mich treffen konnte. Er drückte mir also dieses Telegramm in die Hand, ich hatte den Bass noch gar nicht ganz weggelegt, machte das Telegramm auf und dort war zu lesen: "Bitte sofort bei mir melden. Schubi, Telefonnummer, oder Barbara Thalheim, Telefonnummer. Brauche Bassisten." Da dachte ich, "Was wird denn das jetzt? Barbara Thalheim?" Ich wusste natürlich, wer Barbara Thalheim ist, eine sehr angesehene und auch in meiner Familie, bei meinen Eltern, hochgehandelte Künstlerin. Ich nahm dann Kontakt auf und Barbara sagte, sie brauche einen neuen Bassisten. Mehr oder weniger war ich mal wieder der Nachfolger von Jäcki Reznicek, weil der nämlich bei ihr spielte, durch seinen Weggang zu SILLY allerdings sämtliche anderen Nebenbei-Geschichten liegengelassen und nicht mehr wahrgenommen hat. Schubi war u.a. der Manager von PANKOW und hatte mit Barbara insoweit zu tun, dass er der Manager der ganzen Westmuggen war. Bei diesen Muggen stellte er die PANKOW-Technik und die Band wurde mit Schlagzeuger Dohanetz und Bassist Jäcki verstärkt. Aber Jäcki ging dann raus und ich sollte rein. Das war im Februar 1987. Es sollte ein neues Programm erstellt werden, es wurden Proben verabredet und plötzlich stellte sich heraus, dass für alle, die in dieser Band waren - die ich außer Christine Reumschüssel alle gar nicht kannte - das Programm völlig neu war, welches Barbara erstellt hatte. Dann wurden 13 oder 14 neue Titel erarbeitet, die damals vom musikalischen Leiter Jürgen Ecke arrangiert wurden. Die Kompositionen stammten hauptsächlich von Barbara, die Texte machte Fritz-Jochen Kopka und Ecke machte Musik daraus. Dann kam ich also bei den Proben an und hatte mich eigentlich auf ganz andere Titel von Barbara vorbereitet. Und auf einmal lerne ich erstens völlig neue Kollegen kennen, die ich in meinem Leben noch nie gesehen habe, und zweitens wurde völlig neue Noten verteilt und dann wurde sich da durchgekämpft. Da wurde ich natürlich hart gefordert, aber am ersten Tag kam Schubi an und fragte Jürgen Ecke: "Wie sieht's aus hier mit Marcus, ist alles okay?" Darauf sagte Jürgen Ecke: "Hier ist alles in Ordnung, hier ist alles okay." Das war für mich schon der erste Ritterschlag, denn ich saß plötzlich neben dem Solotubisten vom Rundfunksinfonieorchester, neben mir stand der Solopauker von den Berliner Philharmonikern am Gendarmenmarkt, an der Gitarre spielte Janis Sotos, Jürgen Ecke vom Rundfunksinfonieorchester spielte Keyboards. Und ich saß da mit meinem Bass und habe dazwischen herumgehupt. Die Mischung aus Rockern, der Kleinkunstmusik (Janis hatte grichische Wurzeln) und Klassikern machte plötzlich aus dieser Band eine blanke Explosion mit diesen Arrangements von Jürgen Ecke. Ich sagte dann zu Barbara: "Du weißt aber, ich habe einen Ausreisenatrag laufen." Sie sagte: "Du kannst so lange bei mir spielen, bis Du ausreist, damit habe ich kein Problem." Dann ging ich in mich, weil ich mir sagte, so eine Band und so ein Umfeld findest du so schnell nicht wieder. So eine Musik und vor allem auch die Inhalte, die Texte, alles das, was ich zum Schluss in der DDR-Rockmusik nicht mehr fand, wo alles nur noch schön geredet wurde, wo keine Inhalte mehr vorhanden waren. Die paar kleinen Lichtblicke von PANKOW und von SILLY sind zwar erwähnenswert, aber eh auch die anfingen, mutig zu werden, da haben die Kleinkünstler ganz anders gearbeitet. Ich habe Gerhard Schöne kennengelernt, ich habe Wenzel & Mensching kennengelernt, ich lernte im Laufe der Zeit dadurch die ganze Kleinkunstszene kennen und bekam mit, hier werden die Nägel eingehauen und hier sind jetzt plötzlich die Kirchen voll. Die Leute haben die Kirchen gestürmt, die haben ja richtig über die Musik und über die Kunst von denen, die ich gerade aufzählte, Lebenshilfe bekommen. Das waren ja nicht nur Lieder ... Jürgen Ecke war der musikalische Leiter von Barbara, hat sich im Laufe unserer Zusammenarbeit mit Barbara überworfen, verließ die Band, aber das sollte wohl so sein. Der nächste glückliche Umstand - ich hatte ja nur glückliche Umstände - war, dass ein neuer musikalischer Leiter in die Band kam und das war Erik Kross, mit dem ich heute noch zusammenarbeite. Mit ihm arbeite ich nicht nur schon 30 Jahre zusammen, sondern zog auch mit ihm durch die Theater, in denen ich Musik machte.

Aber Dein Wunsch nach Ausreise hatte sich dann erledigt, habe ich das richtig verstanden?
Ich habe nach zwei Monaten mit Barbara geredet. Ich sagte ihr, dass ich es mir überlegt habe und Barbara sagte zu mir: "Ich verstehe Dich, Du hast genügend Gründe, Deine ganze Familie ist im Westen, aber mit einer normalen Rockband kommst Du mit Deiner Kaderakte nicht in den Westen. Aber solltest Du Dir das überlegen und ziehst den Antrag zurück, dann melde ich Dich einen Tag später als Reisekader an." Das sagte sie mir und Schubi, den ich öfter mal traf, weil er auch bei mir um die Ecke wohnt, sagte mir im Nachhinein: "Wenn die Thalheim Dir das sagt, dann kannst Du Dich darauf verlassen. Die hebt im Kulturministerium die Tische an." Also ging ich zum Magistrat, vereinbarte einen Termin und zog im Mai 1987 meinen Antrag zurück. Dann passierten ein paar kuriose Dinge und ich sagte denen, dass ich nichts mehr habe, ich habe keine Wohnung, wohne bei einem Kumpel, lebe in Scheidung, habe bald den Scheidungstermin und Ihr müsst mir jetzt bei diesem Neuanfang auch helfen. Ich brauche eine neue Wohnung, was damals ja alles recht schwierig war. Mit vielen Eingaben und der Hilfe von Schubi, Briefverkehr mit dem Kulturministerium war es dann doch irgendwie möglich und Ende Februar 1988 - also zehn Monate nach Rücknahme des Antrags - konnte ich in den Westen fahren und bin auch wieder zurückgekommen. (lacht) Und ich bin immer wieder zurückgekommen.

Dann hast Du die Wendezeit quasi dort erlebt, wo Du auch gelebt hast ...
Genau, ich war gar nicht in den Westen gegangen, war aber oft genug dort.

015 20180901 1880931829Wo hast Du den Fall der Mauer erlebt?
(lacht) Das wirst Du mir nicht glauben. Da waren wir gerade auf Tournee und hatten einen freien Tag in Heidelberg. Wir waren also im Westen. Lass mich noch mal kurz überlegen: Am 4. November nehmen wir hier an dieser großen Demo auf dem Alexanderplatz teil und treffen uns danach um 14.00 Uhr am Bühneneingang der Volksbühne, steigen in unsere Autos ein und fahren mit der Übertragung der Demo noch im Radio in Richtung Hamburg, weil wir am nächsten Tag eine Vormittagsveranstaltung im Stadtradio Hamburg hatten. Und dann begann die lange Tournee, drei Wochen durch Westdeutschland, alles klar. Wir hatten diese großartigen Eindrücke der politischen Bewegung, der Veränderungen in der DDR vom 4. und 5. November usw. Jeden Morgen amüsierten wir uns am Frühstückstisch darüber, wer denn nun schon wieder aus dem Politbüro zurückgetreten ist. Am 9. November waren wir dann schon in Heidelberg und hatten einen Tag frei, weil Barbara an einer Fernseh-Talkshow in Österreich teilnahm. Und genau an dem Tag fällt die Mauer und wir hingen in Heidelberg fest. (lacht) Wir hatten noch zwei Wochen zu fahren, denn wir hatten ja noch Muggen. Aber wir wollten alle nach Berlin, die Mauer war weg, wir wollten nach Berlin. Wir machten die Muggen und zehn Tage, nachdem die Mauer gefallen war, kamen wir nach Berlin zurück und haben wundersame Dinge erlebt. Wir sind zum so und so vielten Male wieder durch die Grenze zurück und fanden an der Grenze, die ja noch da war, völlig aufgelöste, gut gelaunte und lächelnde Zollionäre und Polizisten. Alle hatten gute Laune, wir wurden durchgewunken, es wurden keine Autos mehr kontrolliert, das war einfach unglaublich.

Das kann ich mir vorstellen ...
Erst mal wieder zurück zur Familie, am nächsten Tag wollte ich mir das natürlich auch mal ansehen und durch die Mauer gehen. Ich konnte ja vorher schon fahren, weil ich einen Pass hatte und ich war auch privat öfter drüben. Mein Bruder war ja schon drüben, bevor die Mauer fiel und so konnte ich das nutzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen leiblichen Vater in Westdeutschland, der im Sommer 1989 eine sehr schwere Erkrankung hatte. Er erlitt einen Hitzschlag, wollte sich auf der Waldbühne sein großes Vorbild Pavarotti anhören, dazu kam es leider nicht mehr. Als er aufgrund dieses Hitzschlags untersucht wurde, wurde festgestellt, dass er eigentlich schon im Sterben liegt, weil er völlig mit Krebs durchwachsen war und so hat er dafür gesorgt, dass ich mit einem Extra-Reisepass immer die Möglichkeit hatte, rüber ins Krankenhaus fahren um mit meinem Vater kommunizieren zu können. Das waren ganz interessante Sachen und so war ich natürlich auch desöfteren mal in Westberlin, auch wenn ich keine Mugge hatte. Aber das haben andere auch gemacht, das ist ja keine Frage.

Wie ging es denn beruflich für Dich nach der Wende bis 1999 weiter? Was war zwischen dieser Wendezeit und 1999 bei Dir?
Also grundsätzlich ging es mit Barbara ja immer weiter. Die Nachwendezeit war unglaublich schwer, weil die ganzen Inhalte urplötzlich andere waren, von einem Tag auf den anderen war die berühmte Lebenshilfe weg. Die ganze DDR musste jetzt erst mal Auto fahren, in den Westen fahren, Rama kaufen und was weiß ich nicht alles. Man kann es ja verstehen ... Während dieser Zeit mit Barbara ergab sich durch die Zusammenarbeit mit Erik Kross die Möglichkeit, dass Christine Reumschüssel und ich ans Theater Nordhausen kamen und Mitglieder einer freien Band wurden, um Theaterstücke zu spielen. Dort haben wir zum Beispiel "Der kleine Horrorladen" gespielt. An diesem Theater hatten wir die Möglichkeit, Geld zu verdienen, wir hatten dort auch richtig Muggen, nachdem die Aufführungen vorbei waren. Der Intendant dieses Theaters war der Bruder von Erik Kross und der nahm mich unter die Fittiche und sagte: "Marcus, ich mache Dir einen Vorschlag: Ich habe hier noch eine Orchesterstelle frei, ich stelle Dich hier fest im Haus an. Du bist aber auch nur zu den Veranstaltungen gebeten, die Du als Gast ohnehin hast, aber Du bekommst eine feste Anstellung und hast vielleicht mal das große Glück, wenn das ganze vorbei ist, zum Arbeitsamt gehen zu können." Das sind ja alles Sachen, die auch mal so bedacht werden mussten. So war ich bis 1994 für eineinhalb Jahre festes Ensembemitglied am Theater in Nordhausen. Dann ging es immer weiter. Nordhausen lief, wir spielten europäische Erstaufführungen, es gab "Into The Woods" von Stephen Sondheim, wir machten Cabarét in Nordhausen. Danach ging es nach Gera, von Gera ging es nach Frankfurt (Oder) an die jeweiligen Theater und über den Sommer ging es auch mal nach Mayen. Dort gibt es eine Burgruine, auf der wir die "Dreigroschenoper" gespielt haben. Immer in verschiedenen musikalischen Besetzungen, aber immer unter der Leitung von Erik Kross. Da haben wir unglaubliche Abenteuer erlebt und man hatte richtig zu tun. Und darüber hinaus spielte ich natürlich auch in kleineren Bands, 1994 zum Beispiel spielte ich auch in der Band von Kerschowski. Daraus ist außer der wunderschönen Platte "Vorbei ist vorbei", die ich mit einspielte, leider nichts geworden. Und man hatte immer wieder andere kleine Sachen, das ist klar. Immer mal wieder gab es - je nachdem, wie Barbara entweder mal eine Pause machte oder mal ein viertel Jahr in Frankreich war - ein neues Programm und ich gehörte bis 2001 immer zur Band von Barbara Thalheim.

Und man kann sagen, Du warst hauptsächlich am Theater ...
Also Thalheim war bis 2001. Bei ihr ist das so, da wird einmal im Frühjahr und einmal am Ende des Jahres eine Tournee gemacht und eventuell eine CD eingespielt. Das passiert so alle zwei Jahre. Und ansonsten immer wieder meine Theaterarbeit.

Wie kam es denn dazu, dass Du 1999 Teil von RENFT wurdest?
(lacht) Das habe ich nun wiederum auch Christine Reumschüssel zu verdanken, die RENFT mal in irgendeiner Kneipe kennenlernte. Zu dem Zeitpunkt - 1999 - war die RENFT-Band wieder dabei, sich in Original-Besetzung zu finden, das heißt mit Cäsar, mit Jochen, mit Pjotr, und sie wollten eine neue Platte machen. Vor dieser neuen Platte hatte Klaus Renft Angst. Er hatte Angst, das mit seinen Knubbelfingern auf dem Bass zu spielen. Und nachdem Christine hörte, wie er so auf dem Bass vor sich hin knaubelte, gab sie ihm eine CD der Band HEUREKA, bei der ich mittlerweile auch Mitglied war, und sagte: "Hör' Dir mal den Bassisten an. Der kann Bass spielen und das für Dich einspielen." Renft hörte sich die Musik an, die ja etwas zeitgenössisch war, rief mich sofort an und sprach auf meinen Anrufbeantworter. Ich kam nachts nach Hause und hörte: "Ja, hier ist Klaus Renft, Du musst mir mal helfen, Du musst hier mal 'ne Platte mit einspielen. Melde Dich mal bei mir." Na ja, so kamen wir in Kontakt und die Abmachung war, dass ich ihm die Platte einspiele, damit er das nicht machen muss. Zu diesem Zeitpunkt war aber der Traum von der Zusammenarbeit mit Cäsar schon wieder geplatzt. Cäsar ist doch wieder ausgestiegen, Monster wollte nicht mitmachen und dann war die Idee, die KLAUS RENFT COMBO unter der Leitung von Kuno Kunert laufen zu lassen. Es ging nunmehr um die Platte "Als ob nichts gewesen wär", die ich dann auch einspielte. Am zweiten Tag der Studioarbeit, wir mussten ja die Grundbänder einspielen, kam Kuno zu mir und sagte: "Ey, hör mal zu, das macht ja so einen Spaß mit Dir, das ist so geil und außerdem kannst Du Noten, bist ausgebildet, willst Du das hier nicht für immer machen?" Da sage ich: "Kannst Du mir mal erklären, wie eine Band mit zwei Bassisten funktionieren soll?" Er antwortete: "Bei RENFT geht alles ..." Und so war ich dann bei RENFT.

017 20180901 2022262463Du sprachst das Album "Als ob nichts gewesen wär" an. Viele Leute haben über das Album immer gesagt, das sei nicht RENFT, was da zu hören ist ...
Wenn Du das so hart siehst ...

Das ist nicht meine Aussage. Ich gebe sie nur wieder ...
Es ist kein Cäsar drauf, es ist kein Schoppe drauf, also auch keine Kompositionen von ihnen. Cäsars Kompositionen hat er ausdrücklich wieder zurückgezogen und wollte, dass diese Aufnahmen auf den Grundbändern wieder überspielt werden. Sie wurden kurioserweise auch mit meinem Bass überspielt. Die Bänder, die damals analog eingespielt wurden, wurden durch die Aufnahmen meiner Basstöne gelöscht. Da habe ich auch bei Kuno schon die eine oder andere Träne gesehen. Aber es war dann eben so und auf dem Album waren dann hauptsächlich Songs, die aus der Feder von Kunert und Pannach stammten, die auch in der Westberliner Zeit schon Anklang fanden. Deshalb ist es auch so, dass der Schoppe nicht ein Lied von dieser Platte hören kann. Es sind zwei Stücke von Pjotr drauf, nämlich "Freunde, Goodbye" und "Ernst Lustig", der Rest sind Sachen, die von Kuno gemacht wurden. Wenn ich mich nicht irre, stammt der Text zu "Es war da eine Zeit" von Kurt Demmler. Und wenn ich mich richtig erinnere, sind auch noch zwei Titel drauf, die Kuno extra für Klaus Renft selbst komponierte, die er ja singen musste. "Hör mal, wie mein Freund Saxophon spielt" und der "Holzbeinwalzer". Aber: Wenn RENFT jetzt noch mal - was nicht passieren wird - eine neue CD herausbringen würde, würde die auch nicht so klingen, wie die von 1973. Auch da gäbe es völlig neue Strukturen, wichtig sind doch eigentlich die Songs. Auf dieser "Als ob nichts gewesen wär"-Platte sind so viele gute Songs drauf, da wären manche berühmtere oder besser verdienende Bands froh, wenn sie einen davon auf ihren Platten hätten. Man macht leider auch Fehler. Auch weil Kuno ein Perfektionist ist, ist die Platte ein bisschen überarrangiert, weil zum Schluss die Aufnahmen im Wohnzimmer stattfanden und dann wurde da noch eine Spur gelegt und da noch was gemacht ... Bodo Strecke als Tüftler war dabei, aber letztendlich verlieren die Songs deshalb nicht ihren Glanz. Wenn ich an "Madeleine" denke, oder selbst der "Holzbeinwalzer", der sehr sehr witzig ist, "Du tust mir weh" und vor allem hintenraus der wunderschöne Titel "Freunde Goodbye", das müssen andere erst mal haben.

Du sagtest gerade, Cäsars Sachen wurden alle wieder zurückgezogen. Das klingt ja nicht so, als wenn es in Freundschaft auseinandergegangen ist ...
Nein, die Sache mit Cäsar war immer ... (denkt nach) ... kompliziert. Das hatte aber nichts mit Freundschaft oder nicht Freundschaft zu tun. Ich persönlich hatte mit Cäsar ein tolles Verhältnis. Wir haben uns kennengelernt, als ich bei SETZEI spielte und er bei KARUSSELL und haben gemerkt, dass wir ein Faible füreinander hatten, auch wenn wir uns zwischenzeitlich manchmal jahrelang nicht gesehen haben. Ich hatte überhaupt kein Problem mit ihm. Ich denke, dass diese enge Bindung, die damals zwischen Kuno und Cäsar da war, mal auseinandergegangen ist und Cäsar auch irgendwie in der Findung mit seiner Band darauf bedacht war, sein eigenes zu machen und seine eigenen Ideen durchsetzen. Deshalb wollte er irgendwann auch bei KARUSSELL raus. Und die Überlegung, die RENFT-Band wieder in der Original-Besetzung aufstellen zu wollen, hätte für Cäsar zur Folge gehabt, seine beiden Kollegen, mit denen er ja schon seit Jahren zusammenarbeitete, entlassen zu müssen. Dann gab es aber wahrscheinlich auch die künstlerische Sache, dass er lieber seinen eigenen Kram unter seinem Namen machen wollte. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Mangement zu tun, mit dem Cäsar arbeitete, als es CÄSAR & DIE SPIELER waren. Darauf möchte ich jetzt aber auch nicht weiter eingehen ...

Zwischen 2005 und 2009 gab es für RENFT und deren Umfeld ja reichlich auf die Fresse, das kann man nicht anders sagen. Kschentz starb, Kuno verließ aus gesundheitlichen Gründen die Band, noch im gleichen Jahr verstarb Renft selbst. Wie hat die Band all diese Schläge verarbeitet, was hinterließ das bei Euch?
Pjotr war der erste, das ging innerhalb eines Sommers. Als die Diagnose feststand, war uns allen klar, warum der im letzten dreiviertel Jahr hier und da immer mal ein bisschen komisch war. Bei ihm wurde ein Tumor im Kopf festgestellt und Pjotr befand sich im Endstadium. Also musste man sich darauf vorbereiten, es bahnte sich an. Die Diagnose kam Ende Juli, Anfang August, gestorben ist Pjotr am 18. September. Das ging also sehr schnell. Bei Klaus Renft war es eine langwierige Geschichte, es ging über Jahre. Zuerst war da ein behandelter Darmkrebs, er hatte sich wieder stabilisiert und es war in Ordnung, aber auch das bahnte sich an und lag irgendwie in der Luft. Diese Abgänge haben die Band gelähmt. Wir mussten uns von Kuno verabschieden, aber es stellte sich heraus, dass das Bemühen, die Band von Kuno leiten zu lassen und Monster mit dabei zu haben, ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre. Es wäre nicht möglich gewesen, die beiden konnten nicht miteinander arbeiten. Kuno hatte zu dem Zeitpunkt obendrein schon seinen dritten Hörsturz. Ich hatte ja in der Platte "Abschied und weitergeh'n" kleine Bemerkungen dazu geschrieben: "Seine Ohren wollten nicht mehr zuhören". Er wollte dann einfach raus. Das war ein großer Verlust und dann übernahm natürlich Monster. Zunächst waren wir ja mit Heinz, als er noch lebte, eine Viererbande, also zu viert. Und dann musste ich mich an Monster gewöhnen, als er 2006 übernahm. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass die Band immer eine andere musikalische Konzeption hatte. Ich muss sagen, dass die sechs Jahre unter Kuno die kreativste Zeit war, die RENFT jemals hatte, abgesehen von der Zeit bis zu ihrem Verbot. Da hatten sie das ja in zweieinhalb Jahren geschafft. Innerhalb von zweieinhalb Jahren die beiden Platten zu produzieren, dann durch die Lande zu fahren, um verboten zu werden. Und unter denen gab es ohnehin schon immer Krach. Es ist aber verständlich, es sind Alphatiere. Sechs Alphatiere - sieben Meinungen. Versuche mal, die unter einen Hut zu bekommen. Ich gehörte seit 1999 dazu und es war eine großartige, fleißige und tolle Zeit. Wir haben uns ja öfter bei Kuno in Goslar zu Probelagern getroffen, also Kriese, Prüfer, Kunert und Schloussen. Wenn diese kreativen Leute etwas ausgeheckt haben, war es einfach großartig.

Wir sind am 1. März 2007 mit "Deutsche Mugge" an den Start gegangen und kaum drei Wochen später bekamen wir eine Nachricht auf den Tisch, die alles andere, als angenehm war: Auf der Rückfahrt von einem Konzert in Altdöbern verunglückte ein Auto mit Musikern von RENFT auf der Autobahn. Gitarrist Heinz Prüfer starb dabei, Mitfahrer - unter anderen Du - wurden schwer verletzt. Kannst Du Dich an dieses Unglück erinnern, was ist da genau passiert?
Wir kamen aus Altdöbern, es hatte endlos gedauert, bis Heinz die Abrechnung fertig hatte, nachts um halb drei kamen wir dort endlich los und pennten alle ein. Ich hatte noch einen Weinbrand auf der Zunge und wir fuhren von Altdöbern nach Berlin - überlege mal, das sind 130 Kilometer, die fährst du auf einer Arschbacke. Nach dem Abzweig Lübbenau fahren wir auf die erste Raststätte, da wurde ich zum ersten Mal wieder wach. Da fragte Heinz: "Was ist los, muss jemand pinkeln, will jemand einen Kaffee trinken oder sich ein Bier holen?" Alle in dem Auto waren ruhig, wir hatten ja auch noch zwei Fans, also ein befreundetes Ehepaar, hinten drin sitzen. Heinz musste auch nicht tanken und fuhr also in Schrittgeschwindigkeit durch die Tankstelle durch und hinten wieder raus. Und da denke ich noch so, "Das ist aber die erste Tankstelle, an der du dir kein Bier gekauft hast", und wir fuhren weiter Richtung Berlin. Dann kam wieder die Müdigkeit und die Frau hinter mir sagte noch "Ich melde mich ab, ich schlafe jetzt." und ich brauchte mich gar nicht abmelden und pennte von ganz allein ein. Und dann muss es Heinz auch erwischt haben. Wir waren also alle eingepennt, kamen auf den weißen Streifen und wurden wach von einem furchtbaren Knall. Dieser Knall war der weiße Streifen, da passierte gar nichts. Diese Streifen haben solche Riefen drin und wenn du da mit 130 km/h drauf fährst, dann ist es ein Krawall und davon wurden wir alle wach. Das Auto war aber schon in einem ganz spitzen Winkel und es ging sofort innerhalb von hundertstel Sekunden über den weißen Streifen drüber hinweg und auf diesem kleinen Sandhügel, der bergauf ging und wo ganz wenig Gras war. Neben mir versuchte Heinz, den Wagen abzufangen und irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Wir fuhren auch noch durch weichen Kies, das muss man sich mal vorstellen. Das Auto war nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen, es war wie in einer Geisterbahn. Dann kam der erste Tierschutzzaun, glücklicherweise mit der Stange quer. Dann kam die zweite Stange, wir durchbrachen also zwei solcher Zaunfelder. Das waren ja nur solche Netze, aber eben auch diese Stangen. Dahinter waren Lichtungen, da waren Löcher, da waren Baumstümpfe, das Auto fuhr immer weiter, es hoppelte wie verrückt und da kam ich mir vor, wie in einer Geisterbahn, weil auch die Scheinwerfer immer nach oben in den Himmel strahlten und dann stellte sich eine Zwillingsbirke in den Weg und auf sie prallte das Auto. Das Auto prallte auf diesen Baum und wie ich später mitbekommen hatte, sprang es zurück und drehte sich einmal in Richtung Dresden. Solch eine Wucht war das. Ich habe diesen Aufprall also erlebt, aber eben unter Schock. Und es war totenstill in dem Auto. Ich war angeschnallt, mein Gurt hat gehalten, aber frage nicht, wie ich Tage später ausgesehen habe. Ich dachte, ich hätte einen 3.000-Meter-Lauf hinter mir, ich war völlig außer Puste. Es gab nur noch instinktive Bewegungen. Tür auf, meine Tür ging noch auf, Gurt ab, beim Aussteigen - es war ein kleiner VW - noch den Hebel gezogen, so dass der Vordersitz nach vorn klappte, weil sich derjenige, der hinter Heinz saß, sehr schwer verletzt hatte und genau wie ich das große Bedürfnis nach Luft hatte. Nicht, weil wir vor irgedwas Angst hatten, sondern einfach nur raus und Luft, Luft, Luft! Dann bin ich um das Auto rum und bekam erst mal mit, wo wir überhaupt waren. Wir waren mitten im Wald, 20 Meter tief und zehn Meter Höhe auf dem Hügel und unten auf der Autobahn fährt der Verkehr ganz normal weiter. Keiner hat mitbekommen, dass es uns jetzt da oben erwischt hat. Und da oben war es natürlich stockduster, die ganze Elektrik vom Auto war hin. Da passierte nichts, es qualmte nur ein wenig aus dem Motorraum, das war alles. Dann habe ich die hintere Tür geöffnet, ich wollte Luft an alles lassen. Ich bin also unter furchtbaren Schmerzen rum. Mein ganzer Oberkörper fühlte sich kaputt an, aber das war nur der Gurt, der mir mehr oder weniger auch das Leben gerettet hat. Das sollte zu einem einzigen Hämatom werden. Ich ging dann an die Tür von Heinz. Seine Scheibe war kaputt, die Scheibe dahinter war kaputt. Es war ja nur ein Dreitürer. Ich bekam die Tür von Heinz nicht auf und sagte zu ihm, die Tür ist verklemmt - er saß da irgendwie ganz komisch. "Du, die Tür ist verklemmt, ich kriege die nicht auf, Du musst bei mir raus." Dann hatte ich den Eindruck, dass er bewusstlos sei. Es war nachts, viertel vier, und es war stockduster. Das einzige, was ich an meinem Schlüsselbund hatte, war eine kleine so genannte Schlüssellochlampe, die allerdings nur blaues Licht ausstrahlte, ich sah überhaupt nichts. Dann funktionierte die Dame, die hinter mir saß, und sagte, wir müssen die Polizei rufen. Aber dazu müssen wir erst mal wissen, wo wir sind. Ich ging dann erst mal an diesen kaputten Wildzaun lang, an ihm konnte ich mich festhalten und ging an der Autobahn entlang, um zu erkennen, wo wir sein könnten. Dazu musste ich erst mal um die 100 Meter laufen, durch den Gegenverkehr wurde das Verkehrsschild angeleuchtet und auf dem stand dann "Baruth 1000 m". Das Auto stand aber - wie gesagt - in Richtung Dresden, wir kamen aber aus Dresden. Da wusste ich also, dass wir noch auf Spur in Richtung Berlin sind und dass wir hinter dem Schild so ca. 500 Meter entfernt standen. Dann hatten wir den Kontakt mit der Polizei, aber auch das sollte noch mal eine halbe Stunde dauern, ehe die dann kamen und uns auch gefunden haben. Ich war der einzige, der sich noch bewegen konnte, ich ging langsam den Berg nach unten und habe gewunken.

Wie ging es dann weiter?
Das ging alles so schnell und man stand ja derartig unter Schock. Ich hatte 230 Puls, als ich dann in dem Rettungswagen war. Was meinst du, wie beweglich die dort wurden. Im Prinzip hatte jeder, der in diesem Auto war, einen eigenen Rettungswagen und wir mussten in verschiedene Krankenhäuser gebracht werden. Das hörte ich immer nur so als Wortfetzen. Ich wurde als erster weggefahren, weil ich am agilsten war. Ich hatte zwar tierische Schmerzen, wurde ruhig gestellt und habe gelegen. Ich kam nach Königs-Wusterhausen und wusste nicht, wo die anderen hin sind, ich wusste gar nichts. Und in Königs-Wusterhausen im Krankenhaus nach der ganzen Prozedur war es so gegen fünf Uhr, viertel sechs vor dem Personalwechsel zur Frühschicht ganz ruhig. Man hatte es noch geschafft, mich zu röntgen und einen Ultraschall zu machen. Dann gab es auch noch einen Arzt, der mir eine schmerzstillende Spritze gab und mich begrüßte. Ich wurde in einen Nebenraum geschoben und sollte warten, bis die Frühschicht begann. Dann hörte ich, wie der eine Arzt seinem Nachfolger im Nebenraum die Schicht übergab und sagte: "Hier liegt einer mit einem Autounfall. Der hier nebenan hatte Glück, der Fahrer ist tot und die anderen sind ins Krankenhaus nach Lübbenau verbracht worden." Das hörte ich so nebenbei und als ich das hörte, beschloss ich, dass ich das nicht gehört habe. Irgendwie war das eine körperliche Abwehr. Das nutzte aber nichts, der Aufnahmearzt verabschiedete sich bei mir und hat mich ein wenig auf das vorbereitet, was ich ohnehin schon gerade gehört hatte. Er sagte, Sie bleiben jetzt erst mal hier zur Beaobachtung. Sie haben solche Schmerzen, das müssen wir beobachten, aber Sie packen das. Sie kommen da durch und tätschelte so mein Bein. Das war natürlich lieb gemeint, ich glaube, er hatte auch mitbekommen, dass ich das vielleicht gehört habe. In dem Moment, als ich nach der Aufnahme oben ins Krankenzimmer geschoben wurde, klingelte das Telefon und ich habe die Frau von Heinz am anderen Ende, die zu dem Zeitpunkt schon Witwe war.

War Heinz sofort tot, also noch am Unfallort?
So, wie ich es später hörte und las, ja. Es gab keinen Airbag in diesem Auto und das Lenkrad war ein Sportlenkrad, also ein ziemlich kleines. Heinz' Sitz nicht richtig eingerastet, er knallte also durch die Wucht - wie in einem Ruderboot - nach vorn. Sein Gurt hatte deshalb sozusagen keine Funktion mehr, da der Sitz unter ihm durchgerutscht war, und so prallte er unmittelbar auf dieses Lenkrad. Dies hatte zur Folge, dass innerlich alle Organe zerplatzt sind. So sagte mir das ein Rechtsanwalt, der sich dann mit den Folgen dieses Unfalls beschäftigt hat. Ich hätte mir den kompletten Obduktionsbericht durchlesen können, aber das wollte ich nicht. Es war mir noch zu frisch ... Aber ich habe mir durchlesen können, wie die Polizei arbeitete, wenn es zu einem Todesfall kommt. Das Auto wurde ja bis zur letzten Schraube auseinander genommen und es war sehr interessant, zu lesen, wie so ein Unfall beurteilt wird und wie manche Dinge auch formuliert werden.

Wie lange hast Du gebraucht, um Dich körperlich von diesem Unglück zu erholen, und verheilen die Wunden an der Seele überhaupt oder lernt man im Laufe der Jahre einfach nur, mit diesem mentalen Schmerz leben zu können?
Der körperliche Schmerz war erst mal gar nicht so ohne. Nach zwei Tagen holte mich mein Freund Erik Kross aus dem Krankenhaus ab, aber die Tatsache, mit diesen Schmerzen im Oberkörper gleich wieder auf dem Beifahrersitz zu sitzen und mich auch wieder angeschnallt habe, zeigte mir, dass das irgendwie dazu gehörte. Ich hatte also keine riesengroße Angst, mich wieder in ein Auto zu setzen, aber rein kopfmäßig war es eine sehr schwierige Sache.021 20180901 1090109572 Ich wusste nicht, wie ich das richtig verarbeiten sollte, weil überall, wo ich wieder hinkam, wurde ich als Überlebender gefeiert. Alle wussten Bescheid, die Zeitungen waren voll davon und ich bekam in meinen Kneipen von allen einen Schnaps ausgegeben und sie freuten sich, dass ich lebe. Somit kam ich gar nicht dazu, darüber nachzudenken, dass ich einen Freund und Kollegen verloren hatte. Das führte dazu, dass ich mich zurückzog, lange Spaziergänge machte und dachte "Du musst das alles aufschreiben, du musst dich damit auseinandersetzen." Auf diesen langen Spaziergängen habe ich mich mit der ganzen Band auseinandergesetzt und wusste zwar, wie ich das eine oder andere formulieren könnte, wusste aber nicht wirklich, warum und wie. Irgendwie habe ich das alles im Kopf abgespeichert und dann gab es ja ein Jahr später die CD "Abschied und weitergehn". Bodo Strecke meinte dann, nun müsste man zu all denen, die uns verlassen haben, etwas schreiben. Daraufhin sagte ich, dass ich das machen könne, weil in meinem Hirn all das abgelegt sei. Das war meine Möglichkeit, diese Geschichten - wenn auch nur in drei oder vier Sätzen - loszuwerden und zu verarbeiten. Eine Sicht zu jedem einzelnen, der uns verlassen hat, zu haben, war auch eine Form von Trauerarbeit. Es war sehr wichtig, dass ich die Möglichkeit hatte, diese Bemerkungen in dieser CD machen zu können, weil ich sie in mir herumtrug und nur durch die Seiten meiner Gedanken blättern musste. Das war meine Möglichkeit, dies irgendwie loszuwerden ...

Wann war für Dich das erste Konzert, wann hast Du wieder auf der Bühne gestanden?
Wir haben im März Heinz verloren und ich glaubte gar nicht, dass es die Band überhaupt noch gibt. Dann sagte Monster, dass wir weitermachen und begaben uns dann auf die Suche nach einem Gitarristen. Dann kam die Idee von Delle, der mit einem Kollegen praktisch Tür an Tür in der Musikschule in der Turmstraße unterrichtete: Delle als Schlagzeuger, und ein gewisser Gisbert "Pitti" Piatkowski als Gitarrist. Pitti wurde gefragt und er sagte sofort ja. Dann war im Juli oder August in Baabe auf der großen Bühne das erste Konzert. Das ging ganz schnell, wir sollten uns mit einem Kurzbeitrag einer halben Stunde mit unserer neuen Besetzung vorstellen, weil an dem Tag Cäsar spielen sollte. Cäsar hatte allerdings einen sehr schwerwiegenden Rückfall bekommen und konnte sein Konzert nicht spielen. Da hat das Management von Cäsar uns angerufen und gesagt: "Ihr müsst das ganze Konzert spielen." Innerhalb von zwei oder drei Tagen arbeiteten wir hier in Berlin dann Pitti ein, so dass wir in der Lage waren, ein komplettes Konzert zu spielen. Das war im Juli oder August 2007.

Kleine Rückfrage noch: Was ist aus den Beiden geworden, die hinten im Unfallauto gesessen haben?
Wir haben noch immer Kontakt zueinander, beide sind RENFT-Fans. Den Gerd hatte es richtig schwer erwischt, bei ihm hatte sich eine Rippe durch die Lunge gebohrt. Er musste sehr umfangreich behandelt werden, im Krankenhaus wurde er in ein künstliches Koma versetzt. Er ist wieder genesen, aber der Unfall selbst hat ihm schon mächtig zugesetzt. Sie, die den Kontakt zur Polizei hatte, hatte eine kleinere Verletzung an der Halswirbelsäule und wurde mit einer Halskrause aus dem Krankenhaus entlassen. Das stabilisierte sich zum Glück recht schnell wieder.

022 20180901 1214524594Zurück zu RENFT. Ihr habt dann weitergemacht in dieser Bestzung, in der Ihr auch heute noch spielt. Du bist ein Musiker, der immer in kreativen Bands gespielt hat. Dort wurde immer neues Material erarbeitet, immer gab es Platten, auf denen Du Deine Fingerabdrücke hinterlassen hast. Dies ist bei RENFT seit vielen Jahren leider nicht mehr der Fall. Fehlt Dir das nicht, dass auch mal neues Material auf der Bühne und in Richtung Fans gespielt wird?
Das ist so eine Sache, darüber sind wir jetzt hinweg. Wir müssen - und das ist ja schon mal was - mit den Titeln zufrieden sein, die wir jetzt momentan spielen. Die sind so wertvoll und einzigartig, dass man damit leben kann. Die Tatsache, dass es keine neue Kreativität gibt, hat damit zu tun, dass in dieser Band alles einzig und allein über nur eine Person funktioniert. Alle Launen, alle guten und alle schlechten, alle Ideen und alle Entscheidungen kommen von einer einzigen Person. Obwohl wir vorher immer darüber reden und uns einig sind, passiert letztlich dann doch alles so, wie Monster es will. Wir können es ja beim Namen nennen. Monster ist ein Typ, der seit 30 Jahren Titel in der Schublade hat, bei denen es ihm nicht gelungen ist, sie zu veröffentlichen. Seitdem wir in dieser Besetzung sind, arbeitet er angeblich zu Hause immer an seinen Titeln und wie mir Delle Kriese sagte, dies schon eigentlich schon 1978. Er bekommt die Songs nie fertig, er ist niemals mit sich zufrieden. Diese Musik hat überhaupt nichts mehr mit der üblichen RENFT-Musik zu tun, die wir jetzt noch spielen. Deshalb ist er auch stets in einem gewissen Zwiespalt: Die alten Titel, die er eigentlich überhaupt nicht mehr leiden kann, die wir jedes Mal immer wieder spielen, bescheren ihm Freudentränen, weil die Leute völlig ausrasten und die Band auch so gut ist. Aber diese alten Titel, die ihn auch noch jetzt ernähren - das muss er noch lernen - sind die, die er nicht mehr leiden kann. Und die neuen Titel sind sein Schicksal, die sind sein Drama. Diese neuen Titel, von denen er immer redet, die bekommt er nicht auf die Bühne. Und wenn er sie auf die Bühne bekommt, sind sie handwerklich nicht fertig, sind zu lang, haben zu viel Text und sind überarrangiert.

Aber Du würdest gerne was Neues machen?
Nein, ich glaube nicht, dass ich mir diese neuen Titel von Monster zu Gemüte führen möchte. Dabei geht es aber nicht darum, dass sie schlecht wären, aber da Monster nie mit irgendetwas zufrieden ist und schon gar nicht mit seinen eigenen Sachen, wäre das sehr mühselig. Ich würde liebend gerne eine schöne Rock- oder Rock-Blues-Platte machen mit ganz einfachen Mitteln, so wie Pjotr Songs geschrieben hat. Ich würde gern noch mal einen Song machen, der so einfach wie der "Apfeltraum" ist und dies sehr gern mit Pitti und Delle. Aber das wird nicht möglich sein, weil Monster sich zu solchen Geschichten nicht hinreißen lässt oder lassen will. Vor allem in seiner spinnerten Art, Texte zu machen, würde Monster niemanden akzeptieren, der dieser Band Texte anbietet. Das würde er nicht akzeptieren, weil nur er sich als bester Texter in diesem Land versteht. Ich bin gespannt, wie es sich weiterentwickeln wird. Es ist schwer, seit 12 Jahren alle diese Widersprüche tagtäglich zu erleben. Es ist jeden Tag etwas anderes los, auch wenn wir zum hundertsten Mal den oder den Titel spielen.

Das ist eine Frage, die sich mir jetzt stellt: Du bist im Prinzip nun schon 20 Jahre dabei und der Output von RENFT ist ja nun nicht so groß, wie bei den STONES. Hand auf's Herz: Langweilt Dich der eine oder andere Titel inzwischen, gibt es Titel, die Du selbst nicht mehr hören oder spielen willst?
Nein, kurioserweise eigentlich nicht.

Also bist Du komplett anders unterwegs, als Dein Chef Thomas?
Ja, schon. Wobei: Wenn Monster bei diesen Titeln dabei ist, dann gibt er auch seine ganze Kraft und sein Blut. Wenn ich sage, dass er eine Abneigung gegen gewisse Titel hat, dann ist dies seine Grundeinstellung. Aber wenn er auf der Bühne steht und mit uns diese Titel spielt, dann schwitzt er auch wie eine Sau und dann arbeitet er auch. Und Monster ist eben einer, der all das, was ihn ausmacht, nur aus innerer Kraft heraus bringt. Monster hatte keine oder keine erwähnenswerte musikalische Ausbildung, keine gitarristische Ausbildung, sondern machte alles über Kraft. Über Lebenskraft und über körperliche Kraft. Insofern ist es für ihn auch sehr schwer, sich uns gegenüber musikalisch verständlich zu machen. Er kann keine Noten schreiben und uns auch nicht sagen: "Ich möchte, dass du das und das spielst." Er kann sich manchmal sehr schwer erklären. Er redet, redet und redet und letztlich hat man nach zehn Minuten nichts verstanden. Das interessante an dieser Band ist nicht nur die Tatsache, dass man sowieso in ihr spielt und dass es die Band ist, die einem selbst mal ein Vorbild war. Das Interessante jetzt in dieser Besetzung sind einerseits diese Widersprüchlichkeiten, aber auf der anderen Seite eben auch, dass es sehr gerecht zugeht. So muss ich das sagen. Es gibt manchmal auch unglaubliche Wutausbrüche von Monster, aber er hat einen guten Charakter. Er hatte eine gute Kinderstube und er ist nicht nachtragend. Insofern ist er irgendwie immer liebenswert, das muss ich schon so sagen. Wir sind - glaube ich - auch die einzigen Musiker, die das nun schon über 10 Jahre mit ihm ausgehalten haben. Die Musiker, die er vorher hatte, sind ja in Scharen weggerannt ...

Das ist ja auch ein Geheimnis, denke ich mal. Euer Frontmann Monster eckt ja auch gelegentlich an, mal schimpft er mit dem Publikum, mal mit dem Veranstalter ganz öffentlich und laut von der Bühne runter, ab und zu ist zu beobachten, wie er Teile der Band anranzt ...
Aber wie! Wir sind alle schon entlassen worden und Delle ist sein Lieblingskandidat ...

Wie kommt Ihr als Musiker damit klar und wie holt Ihr ihn wieder runter? Ich stelle mir vor, dass das nicht einfach ist ...
Manchmal wird darüber gar nicht mehr geredet, manchmal ist es sinnlos, mit ihm darüber zu reden. Wenn er nur aus Kraft besteht, wird er auch sehr laut, brüllt herum und kommt von allein wieder runter. Es gibt auch keine Abmachungen, wie "Wenn Du das noch einmal machst, dann steige ich aus." Das könnte man ja sagen. Nein, das würde ihn nicht interessieren. Wenn er explodiert, dann explodiert er. Das kommt alles aus dem Bauch. Eine gewisse Kollegialität und Professionalität ist nicht da. Er ist ja auch schon bei großen Muggen von der Bühne gegangen und wollte nicht mehr mit uns spielen, dann stehst du da und fragst dich: "Hast du noch alle Tassen im Schrank?" Wir spielten im vergangenen Jahr im Leipziger Gewandhaus vor 900 Leuten, das größte Konzert für ihn. Irgendwas passte ihm dann wieder nicht und er wollte einen Titel vor der Zugabe die Bühne verlassen ... Solche Ausbrüche passieren und wir müssen damit leben, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder du machst es mit Monster oder du machst es nicht mit Monster. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Erziehungsmaßnahmen gibt es nicht, die sind sinnlos. Und ich sage mir auch manchmal, jeder will einen Kinski haben, aber niemand will mit einem Kinski zusammenarbeiten. Wir haben einen eigenen Kinski.

Aber das ist ja auch bekannt und es ist ja sicher auch etwas, was die Band ausmacht und wofür die Fans sie lieben, dass mit Monster da jemand steht, der sagt, was Phase ist und eben unbequem ist ...
Ja, da ist schon was dran. Manchmal ist es auch so, dass er seine Gedanken preisgibt, mittendrin aber aufhört zu sprechen, und denkt es zu Ende, aber unten sitzen Leute und haben nichts verstanden. (lacht) Diese Reibungsflächen, die wir untereinander haben, sind aber auch das reizvolle an der Band und irgendwie können wir auch nicht ohne einander. Die Band gibt es ja nun offiziell seit 60 Jahren, Monster verjüngte sie noch mal um 10 Jahre in Verbindung mit dem Management Tom Wielgohs. Er war für uns ein großes Glück, er kommt ja vom "Traumzauberbaum" in der Zusammenarbeit mit Reinhard Lakomy, und Willi ist genau wie ich - ein Theater-Heinz. Ich bin ja nicht nur ein Theaterkind, sondern konnte durch meine Arbeit viel Theaterluft schnuppern. Willi hat dieselbe Ästhetik und die gleiche Grundeinstellung und hat sich jetzt für dieses akustische Programm interessiert und bringt uns ziemlich erfolgreich über die Theaterbühnen dieses Ostlandes. Dieses Programm ist wirklich ein Knaller und völlig okay. "50 Jahre RENFT" ist ja nur der Name dieser Veranstaltung, obwohl wir ja schon fast 60 sind. Er reizt dieses Programm so lange aus, wie es geht, so lange er Nachfolgemuggen bekommen kann. Aber irgendwann muss auch noch mal etwas Neues passieren. Da ist Monster gefragt, da muss ihm was einfallen, ansonsten zieht sich Willi zurück und wir stehen wieder ohne Manager da.025 20180901 1261125731 Er war das Management vom "Traumzauberbaum", welches durch den Einfluss von Herrn Hempel eine feindliche Übernahme erfahren hat, nachdem Reinhard Lakomy verstorben ist und Frau Ehrhardt der Meinung war, sie müsse jetzt mit DAKE-Management - der Frau von Cäsar - zusammenarbeiten. Da wurde Willi mehr oder weniger auf die Straße gesetzt, darf aufgrund einer Einigung die schon vereinbarten Muggen noch abarbeiten, aber ansonsten ist Frau Dake diejenige, die sich jetzt um den "Traumzauberbaum" kümmert. Insofern war Willi frei und er ist gut mit unserem Techniker befreundet. Stammen tut er aus der Berliner Blues-Szene und durch die Zusammenarbeit mit Lakomy und Rennhack hatte er die Möglichkeit und das Glück, diese ganzen Kleinkunst- und Theaterbühnen zu erkunden. Daraus resultierte die erfolgreiche Geschichte "50 Jahre RENFT" und wir werden von vielen Leuten darum beneidet. Herr Seidel würde auch gern die Kontakte zu den Intendanten und Theatern haben. Hat er aber nicht, soll er auch nicht und kriegt er auch nicht. Ansonsten hinterlässt er dort auch nur verbrannte Erde. Nein, nein, das sollte man nicht machen ...

Du hast neben RENFT noch ganz viele andere Aktivitäten, zwei von ihnen möchte ich ansprechen. Einmal hast Du vor ein paar Jahren Bass gespielt bei UNBEKANNT VERZOGEN. Das lief neben RENFT und Du warst längere Zeit ein Teil dieser Formation. Wie bist Du damals dazu gekommen?
Ich bin durch Axel Stammberger in diese Band gekommen. Axel ist ja auch etwas ganz Besonderes. Richtig kennengelernt habe ich ihn erst Mitte der 80er Jahre, obwohl wir beide in Hohenschönhausen lebten. In der Schulzeit war es nicht möglich, an ihn heranzukommen, denn damals ging es ja nicht nach Jahren, sondern nach Schulklassen. Später lernte ich ihn kennen, als er bei Veronika Fischer und auch in der Band von Dieter Janik spielte. So gab es also nicht nur eine freundschaftliche, sondern auch eine musikalische Zusammenarbeit. Ich spielte zum Beispiel auch zu Ostzeiten als Aushilfe bei Dieter Janik, wenn ihm ein Bassist fehlte. Es schulte mich unheimlich, in so einer Gala-Band zu spielen. Also einfach die Mappen aufschlagen müssen und losspielen ... Das war eine Knochenarbeit, die aber wichtig ist. Insofern gab es also immer eine Freundschaft zu Axel und er brachte mich zu UNBEKANNT VERZOGEN, weil er in dieser Band die musikalische Leitung hatte. Ihnen fehlte ein Bassist. Die Frontfrau Patti wollte das erst gar nicht glauben, aber wir verstanden uns richtig gut, auch heute noch. Aber irgendwann wollte Patti die Zusammenarbeit mit Axel beenden, was sie auch tat. Aus diesem Grund sagte ich: "Ich bin mit Axel gekommen, dann werde ich auch mit Axel wieder gehen. Das mache ich nicht." Deshalb habe ich UNBEKANNT VERZOGEN wieder verlassen. Die Band hat sich ganz gut entwickelt und ich könnte mir vorstellen, dass sie ein wenig mehr Öffentlichkeit vertragen könnte, aber ich glaube, dass Patti jemand ist, die das gar nicht will. Also auf den großen kommerziellen Zug aufspringen, obwohl sie es inhaltlich könnte. Auch die CD, bei der ich mitmachte, ist ein sehr schönes Album mit ganz tollen Liedern.

Da gebe ich Dir recht, und auch das zweite Album ist toll. Aber das ist ja in der Medienlandschaft nun mal so, dass das, was wirklich erwähnenswert ist, nicht vorkommt ...
Mit Axel habe ich auch noch eine andere Band, das ist die von Andrea Timm, in der ich unter anderen mit Michael Behm arbeite. Wir sind fleißig, wir üben, aber wir haben - wie andere auch - ganz wenige Muggen. In einer dritten Band bin ich mit Axel ja auch noch, die heißt SÜDPARK. Das ist eine Band aus Nord-Berlin, aus Buch. In dieser Band gibt es einen Schauspieler, der am Theater im Nikolaiviertel arbeitet und kurioserweise bin ich dort auch wieder mit meiner Ex-Freundin und Kollegin Christine Reumschüssel zusammen. Durch sie kam ich zu dieser Band und mir hat ganz einfach gefallen, dass er seine Ideen in gute Texte umsetzen kann und ganz einfache, kleine Lieder spielt. Im Laufe der Zeit, in der ich dabei war und auch sonst so gut wie keine keine Muggen hatte, brachte ich Axel dort mit rein und jetzt bekommt diese Band den üblichen Blues, diese Band hat einen gewissen Charme und das freut mich sehr.

Nun hast Du mir alle Namen von meinem Zettel genommen, nach denen wollte ich nämlich auch fragen ...
(lacht)

Du hast eine Menge zu tun und bist schon so lange im Geschäft. Wie alt bist Du jetzt?
Ich bin 64.

Das ist ja das Alter, in dem viele darüber nachdenken, sich zur Ruhe zu setzen. Ist das bei Dir in Sicht oder hast Du da keinen Bock drauf?
Das geht ja gar nicht. Mit 650,00 Euro Rente geht das gar nicht ... (lacht) Manchmal habe ich schon das Gefühl, zu sagen, wenn ich es mir erlauben könnte, würde ich mal ein oder zwei Jahre Pause machen. Aber ich weiß, nach einem Vierteljahr würde ich auch wieder auf die Bühne wollen. So ist es ja nun mal. Es muss irgendwie weitergehen. Mir graut es nur davor, weil ich die Realitäten durch "keine Muggen haben" schon kenne: Keine Muggen mit Andrea, mit SÜDPARK und insofern graut mir, wenn es RENFT mal nicht mehr gibt ...

026 20180901 1913686152Man munkelt ja, man kann im Blues alt werden ...
Das ist eine andere Geschichte, da hätte ich auch nichts dagegen. Das ist auch nicht die Frage, zumal ich ja auch in verschiedenen Blues-Bands gespielt habe. Ach, auch da gab es schon ganz interessante Geschichten ... (lacht)

Ich danke Dir für diese zwei Stunden Gespräch und ich knüpfe noch mal da an, wo wir angefangen haben: Ich wünsche Dir auf jeden Fall eine gute Gesundheit, dass Du uns noch möglichst lang erhalten bleibst und weiterhin viel Erfolg mit dem, was Du machst.
Vieles ist interessant, wir lassen uns einfach überraschen ...

Möchtest Du abschließend noch ein paar Worte an unsere Leser richten?
Na unbedingt Euer Forum weiterlesen, weil ich es nämlich für sehr wichtig halte und toll finde. Auch den Einsatz, mit dem Leute Berichte schreiben und weil es mir einen riesigen Spaß macht, es zu lesen. Und natürlich auch, dass die Leute daran denken müssen, dass es diese Band irgendwann mal nicht mehr gibt und dann ist das Geschreie groß. Aber das betrifft ja auch andere Bands, die es jetzt schon nicht mehr gibt und wo man sagt "Ach Mensch, war das eine schöne Zeit." Unbedingt die Fahnen hochhalten und zwar von beiden Seiten. Die Musiker genauso, wie natürlich auch die Besucher, die erstens den Eintritt bezahlen und zweitens uns ermöglichen, dass wir in dem Alter überhaupt noch eine Bühne betreten dürfen. Das sind jetzt Worte, die habe ich von Werther Lohse, aber er hat damit so sehr recht. Dass es uns vergönnt ist, in unserem Alter überhaupt noch weiterhin so eine Musik zu machen, da können wir sehr sehr stolz sein und das verdanken wir natürlich auch den Besuchern und den Lesern. So einfach ist das ...



Interview: Christian Reder
Bearbeitung: MB
Fotos: Pressematerial und Privatfotos aus dem Fundus von
           Marcus Schloussen + Redaktion Deutsche Mugge.




   
   
© Deutsche Mugge (2007 - 2024)

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.