Michael Nass:
"... man will sich ja nicht
nur überBAP unterhalten "
Interview vom 12. September 2019
Mag sein, dass dem einen oder anderen Leser der Name Michael Nass nicht geläufig ist. Aber seit Anfang der 80er ist Michael Nass als Profi-Musiker unterwegs. Die meiste Zeit davon bei BAP und der SEILSCHAFT, und spätestens hier geht vielen dann doch ein Licht auf. Egal, wo er gerade tätig ist oder war, sein Aufgabengebiet besteht aus dem Umgang mit Tasteninstrumenten.- Aber auch als Komponist und Arrangeur, manchmal sogar als Produzent, hat er seine Fingerabdrücke an so machem Tatort hinterlassen. Michael ist aber keiner, der bei seinen bisherigen Stationen im Vordergrund stand und "laut" auf sich aufmerksam machte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ihn manch einer nicht zuzuordnen weiß. Vielmehr verrichtet er seinen Dienst leise und bescheiden im Hintergrund und das, obwohl er zu den Vertretern seiner Zunft gehört, die Ihr Handwerk nicht nur von der Pike auf erlernt haben, sondern auch in der Lage sind ihre eigenen Arbeitsgeräte selbst zu bauen. In fast 40 Jahren Arbeitsleben sammelt man nicht nur Erfahrungen, sondern auch Erlebnisse. Angenehme, wie den wachsenden Erfolg einer Band, an dem man maßgeblich beteiligt ist, aber auch unschöne, wie den Verlust von Kollegen und Freunden. All das findet sich auch in Michaels Vita wieder. Deshalb gibt es viel, über das man sich mit ihm unterhalten kann und viel, was er Dir als Zuhörer erzählen kann. Darum nahmen sich Michael und unser Kollege Christian jetzt auch Zeit für ein längeres Gespräch. Für die Terminfindung war die Pause zwischen der im Sommer beendeten BAP-Tour und dem, was mit der SEILSCHAFT im Herbst kommen wird, ideal. War zwischen Fragesteller und Antwortgeber so alles besprochen wurde, könnt Ihr hier jetzt nachlesen ...
Michael, womit bist Du im Moment am meisten beschäftigt? Mit der SEILSCHAFT, BAP, Urlaub oder etwas ganz anderem?
Urlaub, ach das wäre ja mal schön (lacht). Nein, Urlaub ist gerade nicht, im Moment komme ich von einer BAP-Tour zurück. Ich war mit BAP in diesem Sommer auf vielen Festivals in Süddeutschland und in der Schweiz unterwegs. Das war eine ganz großartige Zeit, viele Konzerte mit vielen netten Menschen, einem gut gelaunten Wolfgang und unserer großen Bläsersektion, die uns seit letztem Jahr begleitet. Also eine große Band und die Leute hatten viel Spaß daran. Das liegt also sozusagen in meinem Rücken und im Moment bin ich gerade dabei, das neue Album der SEILSCHAFT auf Vordermann zu bringen. Das heißt, wir haben schon eine ganze Menge Songs aufgenommen, rausgeschmissen, umarrangiert und sind mittendrin in der Produktionsphase des neuen Albums.
Dein Kollege Mario Ferraro war ja im Juli letzten Jahres mein Interviewpartner und er hatte schon erzählt, dass da ein neues Album in der Entstehungsphase ist. Wie weit seid Ihr denn?
Ich würde mal sagen, wir sind so im zweiten Drittel. Es dauert einfach noch ein bisschen, es kamen einfach viele Sachen dazwischen, die nicht geplant waren. Ich hatte meine Auszeit und musste mich leider mal für ein paar Wochen mit dem Thema Krankenhaus beschäftigen, da ging es mir nicht gut. Mario hatte auch mal Probleme mit seiner Hand, was für einen Gitarristen natürlich ganz schlecht ist. Auf einmal sind da Sachen, die einen gesundheitlich zurückwerfen, wo man nichts machen kann. Ich hatte eine Operation am Blinddarm, die verlief erst gar nicht so günstig, eigentlich eher miserabel. Und auf einmal war ich für sechs Wochen ruhig gestellt und konnte überhaupt nichts machen. Glücklicherweise fiel das in eine Zeit, in der ich keine Konzerte hatte, ich musste also nichts absagen. Aber das sind eben Sachen, die man mit sich herumträgt. Mal drei Tage Schnupfen oder so, das geht, aber sechs Wochen nicht am Start sein, da verschiebt sich alles nach hinten. Deswegen sind wir da ein bisschen spät dran. Das ist mit der SEILSCHAFT auch recht schwierig, weil wir ja nicht alle in Berlin wohnen. Unser Sänger Christian wohnt woanders, der Saxophonist Andy wohnt teilweise bei seiner Freundin in Norwegen. Also da alle gemeinsam an den Start zu bringen, ist eine logistische Herausforderung, zumal wir ja alle auch mit anderen Projekten beschäftigt sind. Während ich mit BAP unterwegs bin, oder im Studio mit Filmmusik oder bei STEINWAY, bei denen ich ein Projekt vorantreibe, sind die anderen auch mit ihren Bands unterwegs. Es gibt also viele Baustellen und wir bekommen das jetzt nicht so schnell zusammen, da wir auch keine große Firma haben, die sagt, "Jungs, hier habt Ihr mal 50.000 Mark. Nun geht mal vier Wochen ins Studio." Früher war das alles schön, da hatte man das genauso gemacht, heute ist das nicht mehr möglich. Also muss man andere Wege finden ...
Was mich zur nächsten Frage bringt. Ihr seid ja von November bis Dezember auf Tour mit der SEILSCHAFT. Wie bereitet Ihr Euch denn auf so eine Tour vor, wenn das mit dem Personal so schwierig ist, wie Du gerade beschrieben hast? Oder springt Ihr ohne große Proberei ins kalte Wasser, weil Ihr Eure Musik ja aus dem "Effeff" beherrscht?
Na ja, einerseits hast Du recht, es ist eine tolle Band und das Oeuvre von Gundermann, wenn es denn nur um Gundermann geht, ist natürlich in unseren Köpfen verankert. Trotzdem wollen wir ja nicht langweilen und jedes Jahr dasselbe machen oder exakt dasselbe einfach nachspielen. Da würde viel brach liegen, was man mit den Songs anstellen kann. Deswegen müssen wir schon proben, wie jede andere Band auch, die auf Tour geht. Man muss dann einfach Zeiträume finden, wo man mal eine Woche intensiv arbeitet und sich jeder trotzdem vorher auch schon mit dem Material beschäftigt hat, weil wir die Songs umarrangieren, wenn es die Gundermann-Klassiker sind. Oder natürlich, wenn wir neu geschriebene Songs in das Programm einflechten wollen. Die sollen ja auch toll sein, also muss man da schon dran arbeiten, arrangieren, das wieder anders machen, als es auf der Platte sein wird, damit es live-tauglich ist und Spaß macht. Auf alle Fälle müssen wir dafür proben, auch wenn viele Songs im Kopf verhaftet sind, weil sie Klassiker sind. Das muss man wieder hochholen, vielleicht neu besetzen, neue Rollen verteilen ...
Mit der SEILSCHAFT habt Ihr ja fast immer eine volle Hütte, die Leute kommen und feiern Euch. Ist das völlig berechtigt oder eher ein Phänomen, das sich nicht wirklich erklären lässt? Immerhin spielt Ihr ausschließlich Lieder, die schon mindestens 20 Jahre alt sind und das seit Euer Reunion 2010 ...
Ist das berechtigt? Dazu kann ich nichts sagen, ob es berechtigt ist. Wir freuen uns auf alle Fälle. Berechtigt in dem Maße ist es schon, wenn ich sage, dass die Songs oder die Poesie, die Gundermann in den 90ern und teilweise schon Ende der 80er aufgeschrieben hat, etwas eigenartig Eigenständiges ergeben, was man wirklich suchen muss, wenn man Vergleiche anstellen will. Da hänge ich die Messlatte schon ziemlich hoch. In den Texten von Gundermann steckt so viel Energie, eine Heimatverbundenheit, aber nicht nostalgisch wie in der volkstümlichen Musik. Es sind auch wehmütige Blicke, aber sie sind eben nicht nostalgisch und es sind immer Blicke auch nach vorn. Es gibt in den Songs von Gundermann oft ein Hintertürchen oder eine Hoffnung nach vorn, wie es sein könnte und nicht nur eine Zustandsbeschreibung von einem Ist-Zustand. Und das ist etwas Besonderes, das hat glücklicherweise mit Ostrock - wie man ihn heute noch immer nennt - nichts zu tun, weil unsere kreative Phase auch erst 1992 begann. Die Songs, auf die sich alle beziehen, das sind Songs, die er definitiv in der Nachwendezeit oder zur Wende hin bis zu seinem Tod im Jahr 1997 geschrieben hat. Natürlich spielen wir auch Klassiker, die vorher entstanden sind, die aber trotzdem auch schon eine Modernität haben, weil sie einfach aktuelle Themen aufgreifen. "Halte durch" zum Beispiel oder "Grüne Armee" - beides Klassiker. Wenn man das hört, fragt man sich, Moment mal, ist das gerade geschrieben worden, als Greta Thunberg über den Ozean gesegelt ist? Weil es genau das Thema ist, aber der Song ist einfach mal 30 Jahre alt. Es ist meiner Meinung nach eben populär, weil es kein Mainstream-Pop ist, der Jedem gefallen will. Viele Songtexte, die man heutzutage im Radio hört, sind doch irgendwie austauschbar, auch wenn es tolle Sängerinnen, tolle Sänger, also tolle Künstler oder Interpreten sind. Das Liedmaterial ist aber doch recht gleichförmig und da muss ich sagen, dass Gundermann mit seinem Werk recht viel zu bieten hat. Und das ist eben auch live toll umsetzbar, die Leute spüren die Energie, weil wir eben auch die Original-Band sind, die das damals alles mitgeschrieben und mitproduziert hat. Es ist ja nicht so, dass wir die Musik spielen, die jemand anderes erfunden hat, es sind ja auch unsere Songs. Ich habe Songs geschrieben, Mario hat Songs geschrieben. Es wird von vielen, die jetzt diesen Film gesehen haben, gar nicht so wahrgenommen, dass das nicht nur reine Gundermann-Songs sind. Es ist schon ein Gesamtkunstwerk, wobei natürlich vollkommen klar ist, dass Gundermann stilprägend war, es geleitet hat und das Superhirn war und auch immer sein wird. Es wäre vermessen, zu sagen, dass wir da irgendwie auf gleicher Höhe standen, so war es nicht.
Nach dem eben schon erwähnten Interview mit Mario erwähnte einer unserer Leser, er verstünde den Hype um Gundi, Eure vollen Konzerte und sogar diesen Kinofilm aus dem letzten Jahr überhaupt nicht, denn in der 90ern sei Gundermann nur eine regionale Größe gewesen, der nicht selten vor einer Handvoll Leuten gespielt habe. Ich kann da nicht mitreden und konnte auf dem Kommentar nicht antworten, denn ich weiß es nicht. Wie siehst Du das?
Ich kann das nur aus meiner Erinnerung erzählen. Wenn man ihn vergleicht mit Rockstars aus den 90ern, die damals aktuell waren, muss ich demjenigen recht geben. Gundermann hat in den 90er Jahren keine riesigen Hallen gefüllt, es gab damals aus Ostdeutschland überhaupt keine Künstler, die riesengroße Hallen gefüllt haben. Aber Gundermann war ein Typ, der etwas zu sagen hatte. So wie Ton Steine Scherben zum Beispiel. Die füllten auch keine großen Hallen, aber bei ihnen war vollkommen klar, dass sie einen künstlerischen Output haben und vorn dran am Thema sind. Unsere Hallen waren manchmal voll, manchmal nur halbvoll, aber der Kopf war voll mit Botschaften. Wenn derjenige das mit einer Tour von ZZ Top oder AC/DC vergleicht, muss man ihm natürlich Recht geben, denn das hat damit gar nichts zu tun. Die Hallen in unserer Größenordnung, in denen wir spielten, waren voll und die Leute hingen uns an den Lippen, auch wenn die Säle kleiner waren. Und natürlich bekamen wir auch Chancen, die wir nutzten. Zum Beispiel mit Joan Baez oder Bob Dylan vor 6.000 Leuten in der Kieler Ostseehalle zu spielen. Das ist etwas Tolles. Wenn er den Hype nicht versteht, ich kann es nachvollziehen. Das wäre vielleicht ähnlich, wenn ich in Österreich regionale Künstler entdecken würde, die mir überhaupt nichts sagen, weil ich zu Österreich außer als Tourist keine Verbindung habe. Da würde ich auch Sachen entdecken, die auf ihrer Art sehr bodenständig sind, aber in Deutschland kaum gehört wurden. Also ich kann denjenigen verstehen und wenn jemand die Figur und den Film nicht interessant findet, dann ist es eben so. Ich kenne aber auch viele andere, die sagen, wir haben zum ersten Mal einen tieferen Blick in die Welt der verschollenen DDR bekommen und das, was die Staatssicherheit gemacht hat. Da Musik ja nun auch mal geschmacksabhängig ist, kann ich keinem übelnehmen, wenn ihm das nicht zusagt oder er den Hype nicht versteht. Als Hype würde ich es allerdings auch nicht bezeichnen. Es gab einen Film, der Film hat die wichtigsten Preise bekommen und zwar von einer Jury. Natürlich war das bis heute kein Kassenmagnet wie "Honig im Kopf", Til Schweiger-Filme oder "Der Schuh des Manitu". Wenn man es damit vergleichen will, ist es lächerlich, von einem Hype zu sprechen. Es ist ein Film, der kulturpolitisch Aufmerksamkeit bekommen hat, der seinen eigenen Stellenwert hat. Ein Hype in dem Sinne ist es nicht ...
Das erklärt es dem Leser vielleicht, wenn er das nun im Zusammenhang mit Deinem Interview lesen sollte ...
Es ist eine wertvolle Anerkennung dieses Themas, dieses Künstlers, Gundermanns selbst und auch des Films, des Regisseurs, die sich damit beschäftigt haben. Das Wort "Hype" passt da eigentlich nicht hin ...
Kommen wir an dieser Stelle mal zu Dir als Künstler und Musiker. Du bist ja ein gebürtiger Sachse und spielst im Rheinland bei einer Kölschrock-Band. Das ist ja auch ziemlich ungewöhnlich, wie ich finde. Deine Wurzeln liegen in Sachsen und Du bist dort 1966 geboren. Wo genau?
In Borna. Borna liegt im Süden vom Großraum Leipzig, dann kommen drei Dörfer und dann kommt Borna. Borna ist eine klassische Bergarbeiterstadt, hatte damals 25.000 Einwohner und war gekennzeichnet von massenhaft Kraftwerken, Braunkohlentagebau, Dreck, Schmutz, dreckiger Luft und Bergarbeitersiedlungen. Obwohl es ein historisches Städtchen ist, welches eigentlich mit Landwirtschaft, Zwiebel-, Gemüse- und Obstanbau sein Geld verdiente, wurde dort irgendwann die Braunkohle entdeckt und dann wurden praktisch um ganz Leipzig herum riesengroße Tagebaue eröffnet. Das passierte in den 50er und 60er Jahren bis zur Wende hin, mein Vater war als Chemieingenieur auch in diesem Tagebau beschäftigt. Das war also eine Stadt, in der recht wenig Kultur stattfand. Aber ich hatte ein doch recht musikalisches Elternhaus, mein Großonkel war Organist in Leipzig und den umliegenden Dörfern und der brachte mir dann das Klavierspielen bei.
Dir geht es wie mir, die BEATLES-Ära hast Du ja nur gestriffen, denn mit drei oder vier Jahren nimmt man Musik ja noch nicht so bewusst wahr. Ältere Kollegen nennen die Pilzköpfe ja oft als Auslöser für ihre Liebe zur Musik. Was war Dein Auslöser, wer hat Dich zur Musik gebracht?
Die BEATLES nicht, das ist richtig. Die entdeckte ich erst viel später, weil ich zu jung war und außerdem wurden die BEATLES bei uns auch kaum im Radio gespielt. Zur Musik gebracht hat mich natürlich mein Klavierunterricht als Sechs-, Siebenjähriger, meine Mutter, die eine gute Chorsängerin am Theater und auch in der Kirche war und dann später mein vier Jahre älterer Bruder, der sich durch das Radio durchhörte und schon damals abseits vom Mainstream seine Schwerpunkte setzte. So musste ich mir mit jungen Jahren Thomas Dolby, britische B-Singles oder auch THE POLICE in den Anfangsjahren anhören. Also THE POLICE war auf jeden Fall eine meiner stilprägenden Bands. Obwohl kein Pianist dabei war, fand ich diese Band ausgesprochen innovativ, was die mit drei Mann schaffen und habe mir dann bei der Reunion 2005 ein Ticket für Paris schenken lassen, damit ich zum ersten Mal in meinem Leben ein POLICE-Konzert sehe (lacht). Es gab ganz andere Bands und natürlich auch die Konzerte der klassischen Ostbands, die auch mal in Borna Station machten. Borna hatte eine sehr große Freilichtbühne für 6.000 Leute, dort gab es jeden Sommer Open Air-Konzerte und da waren die typischen Verdächtigen alle da. Das hat mich schon angefixt, dort eine Band zu sehen mit allem Drum und Dran. Was die da loszauberten, das war schon großes Kino für mich.
Du hast es gerade erwähnt, ab 1972 und mit sechs Jahren hast Du Klavierunterricht bekommen. War das freiwillig oder der Wunsch der Eltern? Die Ausbildung war ja wohl eher klassisch, oder?
Na ja, wie das so ist: Mama spielt selbst und fragt dich dann als jungen Piepel, "Hast Du nicht mal Lust?", und dann sagst du ja. Aber gar nicht mal auf Druck, sondern weil Musik sowieso in unserem Familienleben eine Rolle spielte. Das zog ich dann auch zehn Jahre durch, aber wenn ich ehrlich bin, die letzten drei, vier Jahre nicht mehr so wollend. Das hatte damit zu tun, dass ich dann eben schon mehr Musik konsumierte und nicht mehr so gern zum Unterricht fahren wollte, weil er weit weg war. Er fand in Leipzig statt und ich war den halben Tag damit beschäftigt, aber andererseits hat mir das total genützt, weil ich dann ja mit Jens Streifling gemeinsam mit unserer Teenie-Band anfing. Da konnte man das alles gebrauchen und da war das dann schon wichtig.
Du sagtest gerade, "... die letzten drei Jahre nicht mehr so". Aber nichtsdestotrotz war Musik immer allgegenwärtig bei Dir. Gab es in dieser Zeit keine Sirene, die Dich woanders hingelockt hat, so jungentypische Ablenkung wie Fußball, Disco, Moped oder ganz klassisch Mädchen?
Nein, überhaupt nicht. Ich fand das sehr gut, mit der Musik zu reisen. Wir hatten ja in sehr jungen Jahren unsere Teenie-Band, unser Schlagzeuger war 14 und wir standen bei der Dorf-Disco auf der anderen Seite. Also unten hat man sich schon die Köpfe eingeschlagen oder wurde von der Polizei um 22.00 Uhr aus dem Weg geräumt, weil Polizeistunde war, und wir standen auf der Bühne, spielten unser zweites Set und konnten nebenbei schon mal einen Gin-Tonic bestellen. Also das war schon ziemlich cool ... (lacht)
Ab Mitte der 70er Jahre kam zum Klavier auch noch der Chorgesang hinzu, wie ich gelesen habe. Worauf lief diese Ausbildung eigentlich hinaus? Das alles klingt ja eher nach Klassik oder Kirchenmusik, als nach Rock'n'Roll ...
Genau, das sind auch meine Fundamente. Ich habe im Bornaer Kirchenchor in der Kurrende - also sozusagen im Teenager-Chor - gesungen, war dort auch Sternsänger. Es ging also um die klassische religiöse Kirchenliteratur und auch im Klavierunterricht geht es natürlich um die Klassiker. Um Mozart, Bach und alles, was dazwischen ist. Und zum Schluss kam auch Neumodischeres hinzu, aber da hatte ich mich schon ein bisschen entfernt ...
Du sprachst gerade Deine erste Schülerband an. Ich nehme an, wir reden da über SCHULROCK. Da heißt es, die soll ab Herbst 1981 aufgestellt worden sein. Eine Schülerband bestehend aus Dir und ein paar Mitschülern. Stimmt das und wenn ja, wie ist diese Band entstanden?
Die entstand, weil es in Borna ein leerstehendes altes Kulturhaus gab und weil es einen Filmvorführer gab. Dieser Filmvorführer hieß Hartmut Lorenz und war praktisch der Initiator von Jugendarbeit im Freizeitbereich. Der sagte sich, wir müssen den jungen Menschen etwas bieten, ich brauche hier mal ein kleines Budget, wir haben ein Kulturhaus, hier steht ein Flügel, hier kann man doch Kultur machen. Abseits von passivem zur Disco gehen, sondern aktiv sein und selbst Musik machen. Er führte dann, auch mittels Anzeigen, interessierte Jugendliche zusammen und auf einmal trafen sich dort sechs, sieben, acht Leute, die alle irgendwie schon etwas konnten. Die waren alle so 14, 15, 16 Jahre alt, der eine konnte ein bisschen Schlagzeug, die nächste konnte etwas singen, der nächste konnte ein wenig Gitarre, manche hatten sogar ein eigenes Instrument, andere nicht. Und so entwickelte sich eine lose Singegruppe aus zehn Leuten, eigentlich also zwei Bands. Daraus formierte sich innerhalb eines halben Jahres durch Lust oder Unlust ein Kern von fünf, sechs Leuten und daraus wurde dann SCHULROCK. Der Manager war dieser Filmvorführer Hartmut Lorenz, der die Sache initiierte und der auch der einzige Erwachsene war. Er war praktisch der Vertreter dieser Band nach außen hin und hat dann auch die ersten Konzerte organisiert. Wir waren ja viel zu jung und zu klein, um zu wissen, was man da tun muss, um so etwas überhaupt hinzubekommen. Natürlich konnten wir unsere Noten spielen und unsere paar Songs, aber mehr hätten wir nicht gekonnt. Also musste es ja jemanden geben, der das macht. Und das war dieser Mann. Ihm ist also zu verdanken, dass es diese Band überhaupt gegeben hat und dass in dieser Bergarbeiterstadt mit relativ wenig Kultur überhaupt etwas passierte.
Er war quasi der Manager?
Genau, er war der Manager. Heute würde man Manager sagen, damals war es einfach ein Filmvorführer in einem leerstehenden Kulturhaus.
Es heißt, dass die Kompositionen neuer Songs immer von Dir und Jens Streifling kamen. Stimmt das und wenn ja, ab wann habt Ihr damit angefangen?
Wir hatten natürlich zunächst erst mal ein Repertoire aus nachgespielten Songs. Englische und amerikanische Klassiker also, aufgrund der Gesetzeslage mussten wir aber auch deutschsprachige Lieder spielen. Es gab eine Regel, ein Gesetz, nach dem man 60 Prozent deutschsprachiges oder Liedgut aus der DDR spielen musste und nur 40 Prozent des Repertoires durfte ausländisches oder englischsprachiges sein. Also waren wir gezwungen, uns umzusehen bei unseren Bands, die wir so kannten, oder selbst Lieder zu schreiben. Da ich Harmonielehre und Gesang gut konnte, fing ich einfach an, bei Jens war das ähnlich. Wir hatten dann einfach den meisten und kreativsten Output. Die anderen haben sich auch daran versucht, sind aber einfach nicht so weit gekommen. Wir waren da recht flott, weil auch Jens im Kopf sehr schnell mit der Umsetzung von Ideen und Instrumenten war. Er wohnte im Nachbarort Kitzscher, ein noch kleinerer Ort, der auch an der Braunkohle hing, und so haben wir oft bei mir zu Hause gesessen. Bei uns stand ein Klavier, er brachte seine Gitarre mit und dann schrieben wir Songs.
Hartmut Lorenz stellte Euch dann ja den Kontakt zu dem damals 11- oder 12-jährigen Schüler Andreas Hähle her, der für Euch dann Texte schreiben sollte und das ja auch tat. Wann und auf welchem Weg habt Ihr Hähle damals kennengelernt?
Das kann ich gar nicht genau sagen, wann und wo es war. Es war einfach so, dass Hartmut im Zuge dieser Bandaufstellung auch weiterhin nach Talenten suchte. Es gab damals - bevor es SCHULROCK hieß - sogar noch zwei andere Sängerinnen, die auch mitmachten. Und noch ein weiterer Schlagzeuger. Also wie gesagt, es waren ja fast zwölf Leute, die da auf der Bühne standen, bevor es zu einer Band zusammen schmolz. Irgendwann kam dann auch Andreas Hähle zur Tür rein, den auch Hartmut Lorenz mitbrachte, weil er in Neukieritzsch - in dem Dorf, aus dem Andreas Hähle stammt - auch Filme vorführte. Ich glaube, das hatte damit zu tun, das Dorf war nur sechs Kilometer entfernt. Andreas war recht offen, hatte Geschichten geschrieben und einige von ihnen haben wir dann gemeinsam vertont. Wir mussten ja irgendwo anfangen und wenn man anfängt, kann man sowieso nicht gleich alles. Man probiert sich also aus und stellt fest, es geht schnell, es geht nicht schnell, kann ich, kann ich nicht. Und umso größer dieser Pool an Leuten ist, die etwas können, umso besser kommt man eben voran. Da war Andreas Hähle auf alle Fälle eine Zeit lang mit dabei.
Wart Ihr als Band nicht von den Socken, dass da so ein junger Bursche schon Texte schrieb, die Ihr verwenden konntet?
Na ja, es war erstaunlich, aber von den Socken waren wir nicht, weil es war ja alles learning by doing. Man machte also einfach und guckte, was dabei heraus kam. Jeder, der etwas in den Topf warf, war einfach eingeladen. Das konnte der Schlagzeuger sein mit einer Idee. Es gab einen Schlagzeuger, der konnte sehr gut Noten und der hatte sich DEEP PURPLE rausgehört, und eines Tages kam der mit einer kompletten Partitur von einem DEEP PURPLE-Medley an, in der alles notiert war. Alle, die Noten konnten, sagten okay, da müssen wir mal gucken, ob wir das hinbekommen. Auf einmal hatten wir ein richtiges DEEP PURPLE-Medley im Alter von 16 Jahren! Das war fertig notiert von dem Schlagzeuger, weil er es konnte. Und dann kam eben Hähle rein und hatte schon ein paar Texte auf Lager. Und dann kam Jens Streifling, der eigentlich jahrelang Klarinette und Gitarre gelernt hatte, und wir redeten darüber, dass er sich doch mal ein Saxophon kaufen sollte. Er kaufte in Leipzig ein Saxophon, übte und auf einmal konnten wir ein Stück von SADE spielen, nämlich "Smooth Operator". Das war ein Hit. Weil einfach die Zeit dafür da war und die Leute fleißig waren und Lust hatten, was zu machen.
Der Hähle schrieb für Euch unter anderem den Text zum Song "Bubi". Damit habt Ihr beim Talentewettbewerb in der Sendung "rund" teilgenommen und diesen auch gewonnen. Kannst Du Dich an diese Aktion noch erinnern? Wie seid Ihr zu "rund" gekommen und wie lief das damals ab?
Es gab den Song und sowohl der Rundfunk als auch das Fernsehen suchten ständig nach Talenten, denn sie wollten ja auch Material haben, welches sie senden können. Sie wussten genau, wenn sie zum fünften Mal die PUHDYS oder KARAT bringen, wird es irgendwann langweilig. Also suchten sie nach Talenten und fanden auch uns. Ich weiß nicht genau, durch welchen Draht das passiert ist. Sie stellten uns ein Budget zur Verfügung, damit wir dieses Lied produzieren konnten. Sie hatten ein Demo gehört, es gab die Fernsehsendung "rund" und es wurde gesagt: "Diese Band hat einen Titel, die müssen wir jetzt ins Studio schicken." Wir hatten ja keinerlei Studioerfahrungen, wir waren einfach zu jung. Also gingen wir nach Leipzig ins Studio, waren zum ersten Mal dort und nahmen den Titel "Bubi" auf. Wir hatten somit unsere erste fertige Aufnahme, wurden zu dieser Sendung "rund" nach Berlin eingeladen und waren zum ersten Mal überhaupt in Berlin. Dort schliefen wir drei Tage im Hotel, wurden abends allerdings im Hotel gar nicht reingelassen, so nach dem Motto: "Was wollt ihr denn hier, wo sind denn eure Eltern?" (lacht) Gerade bei unserem Schlagzeuger, er war 14 und auch nicht so groß wie wir, dem konnte man schon mal für 12 halten. Also wurde er schon mal gar nicht ins Hotel reingelassen. Sehr witzig ... Bis dann der Redakteur der Sendung kam und sagte: "Ja ja, das sind die Künstler, die wohnen hier." Das war eine witzige Zeit, in der wir ganz viel ausprobieren konnten und viel Unterstützung hatten. Auch durch das Fernsehen der DDR und die damalige "rund"-Sendung, in der wir dann noch einige Male auch mit anderen Songs aufgetreten sind.
Wann wurde denn aus SCHULROCK die Gruppe P 16 und warum?
Ich glaube, das war 1983/84. Weil wir natürlich älter wurden. Wir waren dann eben schon 16 oder 17 und hatten auch ein Lied geschrieben, welches "P 16" hieß. Man emanzipiert sich dann schon ein bisschen vom ganz kleinen Teenie sein. SCHULROCK war ja ein Vehikel, um den wirklich ganz jungen zu gefallen und wir wussten, wenn wir jetzt 16, 17 sind, werden wir in zwei Jahren auch schon mal 18 und 19 sein. Also mussten wir uns etwas kümmern, dass der Name und auch die Songs länger halten. Deshalb haben wir uns damals umbenannt. Auch natürlich, weil es das Lied dann gab, in dem es genau darum ging, dass man eben noch 15 ist, ins Kino möchte und es ist ein Film angeschrieben, der erst P 16 ist. Also heute würde man "FSK" sagen. Der war praktisch unser Hit und gleichzeitig auch der Grund für unsere Umbenennung.
Was ich höchst interessant finde ist, dass Du während dieser Phase mit P 16 oder SCHULROCK eine Ausbildung zum Instrumentenbauer gemacht hast. Hast Du diese Ausbildung abgeschlossen?
Ja, habe ich. Das hat damit zu tun, dass es eigentlich eine Überlegung im letzten Moment war. Ein Notgriff sozusagen. Ich war auf einer Schule, da gab es Spezial-Russisch-Klassen, in denen man schon als Kind intensiven Russisch-Unterricht hatte und auch ein Russisch-Abitur bekommen konnte. Das machte ich und hätte dann mit guten Noten studieren können. Die guten Noten hatte ich auch, aber ich war damals stark in der Kirche engagiert. Und in dieser Schule gab es zum ersten Mal in diesem Jahrgang eine Besonderheit, nämlich einen zweiwöchigen Lehrgang zur vormilitärischen Ausbildung. Also kurz gesagt: Größere Schulkinder sollen üben, mit dem Gewehr umzugehen. Also vor der Armeezeit. Da habe ich gesagt, "Das mache ich nicht mit." Aufgrund meiner religiösen Erziehung, meines Elternhauses und meiner pazifistischen Einstellung usw. Daraufhin teilte mir mein damaliger Direktor kurz vor Schuljahresabschluss mit: "Gut, wenn du das machst, wirst du hier kein Abitur erhalten." Also ich wurde quasi von ihm gemobbt oder wie man das ausdrücken will. Das wäre jedoch alles viel zu freundlich, denn es war ja politisch motiviert. Das bedeutete, dass ich trotz meiner guten Noten kein Abitur machen durfte und meine Eltern händeringend in dieser kurzen Zeit einen Ausbildungsplatz für mich suchten. Ich war zu jung und hatte keinen richtigen Plan. Ich wusste, wenn ich hätte studieren können, hätte ich mich für Kulturwissenschaften, Theaterwissenschaften oder für Industriedesign entschieden. Ich ging mit meinem Vater oft zu Ausstellungen, Architektur interessierte mich, Design interessierte mich. Ich fuhr oft nach Leipzig, da gab es Design-Ausstellungen. Das waren so die Ideen, die ich damals hatte. Und auf einmal gab es die Möglichkeit, etwas zu machen, was Handwerk und Musik verbindet. Nämlich Instrumentenbau und das sogar in Borna selbst. Zu dieser Zeit gab es noch die Musikinstrumentenfirma Lindholm. Das war eine klassische Firma, die Harmonium, Spinett und Cembalo herstellte. Diese Firma war sehr berühmt, weil Olof Lindholm schon vor 80 Jahren Instrumente erfunden hat, die überseetauglich waren. Er benutzte ganz bestimmte Kleber, so dass die Instrumente auch nach Amerika, Südamerika und nach Afrika exportiert werden konnten. Harmonien sind ja praktisch Ersatzkirchenorgeln und die wurden dann weltweit in die Gemeinden verkauft. Ich lernte dann, Spinett und Cembali zu bauen, es ging also um Holz. Ich mochte diese Ausbildung, auch wenn sie schwierig war und viel Kraft erforderte. Als junger Piepel hat man ja nicht so wirklich Ahnung und musste gleich ran ans Eingemachte. Da ging es nicht feinfühlig zur Sache, aber wenn ich jetzt zurück schaue, es war eine wertvolle Ausbildung, ich lernte sehr viel über Handwerk, Mechanik, über physikalische Kräfte, über schönes Möbeldesign, Furniere über Hölzer. Das alles war eine schöne Sache in Verbindung mit Musik, denn man stellt ja ein Musikinstrument her. Das schloss ich ab und parallel dazu arbeitete ich weiter mit P 16. Zwei, drei Jahre nach der Ausbildung hörte ich auf, in der Firma zu arbeiten, denn es wurde mit der Band so viel an Terminen, weil wir berühmter wurden. Das Fernsehen kam, der Rundfunk kam, wir traten in Hitparaden und irgendwelchen Sendungen auf, wir machten Tourneen. Auf einmal vertrug sich das nicht mehr mit dem als Handwerker angestellt sein und ich entschloss mich, Musik zu machen.
Ihr hattet mit P 16 vier bis fünf sehr intensive Jahre. Warum ging es 1986 denn nicht weiter und statt Plattenveröffentlichung gab's das Aus?
Nein, es ging ja weiter bis 1989. Wir machten zum Beispiel 1988 noch eine große Tournee, die nannte sich "Super Pop '88". Das war eine Art "Best of Stars", die damals angesagt waren. Die machten eine große Sommer-Tournee und P 16 war die Begleitband für viele Ost-Künstler. Vorne sang zum Beispiel Inka Bause und wir begleiteten sie. Auch IC war dabei. Das machte großen Spaß und war eigentlich unsere Blütezeit, also die Jahre bis 1988. Schwierig wurde es dann ab 1988/89, weil man schon merkte, dass es politisch anders wird und dass wir mit schlichter Pop-Musik, wie wir sie machten - es war ja eine unterhaltende Pop-Musik und keine politisch motivierte Musik, wie zum Beispiel von Punk-Bands aus dem Berliner Raum - nicht mehr wirklich angesagt waren. Das war aber ein ganz normaler Vorgang. Außerdem war ich dann schon wieder anderweitig unterwegs, machte Projekte mit anderen Künstlern. Ich war ein Vierteljahr lang als Ersatzkeyboarder in Russland auf Tournee mit der Band STERN MEISSEN, weil deren Keyboarder Andreas Bicking nicht konnte. Also ab dem Zeitpunkt wurde es für mich vielseitiger, weil ich in die Berliner Szene einstieg, viele Leute kennenlernte, viel im Studio gearbeitet habe und P 16 war zu dem Zeitpunkt einfach nicht mehr zu halten. Die Zeit war einfach abgelaufen ...
Trotzdem hast Du zwischen all dem immer noch Zeit gefunden, 1987 eine Ausbildung an der Musikschule Leipzig zu machen ...
Nein, das wäre jetzt etwas hoch gegriffen. Ich habe mich dort weiter ausbilden lassen, habe dort aber nie einen Abschluss gemacht, weil es einfach mit den Plänen kollidierte, auf Tournee zu sein. Auf einer Musikschule muss man ja wirklich Ortstermine haben und ständig da sein. Die Lehrer fragten dann immer "Herr Nass, wir sehen uns dann am nächsten Donnerstag?" und ich sagte "Nein, nächster Donnerstag geht nicht, da bin ich auf Tournee." - "Auf Tournee?" - "Ja, wir spielen in Erfurt und dies und jenes ..." - "Ach so?" Die waren dann also verwundert, dass ich praktisch als Musiker Arbeit hatte und sie nicht. Ich konnte also gar nicht weiter machen, weil einfach zu viele Engagements da waren, zu viele Möglichkeiten, die ich natürlich nicht ungenutzt vorbei streichen lassen wollte.
Wenn Du heute auf diese Zeit zurückblickst, wie fällt Dein Fazit aus? Hättest Du lieber eine ruhige Jugend, wie andere Kids in Deinem Alter gehabt, oder würdest Du dieses Leben jederzeit noch mal genauso führen wollen?
Ganz klar, ich würde es genauso wieder machen, natürlich mit den dazugehörigen Umständen. Heute sind die Umstände ganz anders, daher kann ich heute nicht unbedingt empfehlen, so etwas so durchzuziehen, weil damals ganz viele Zufälligkeiten eine Rolle gespielt haben, zur rechten Zeit am rechten Platz mit den richtigen Ideen zu sein. Ich weiß nicht, ob das heute so gelingen würde, aber damals hat sich das alles richtig angefühlt.
Warum habt Ihr eigentlich nie eine Platte machen können, gab es nie ein Angebot von AMIGA?
Das ist genau die Frage. Ich hatte mehrere Termine bei AMIGA, sprach dort mit dem Chef und es ging darum, dass wir eine Platte machen. Bis dahin hatten wir Teilmitwirkungen bei "Auf dem Wege" oder auf anderen Platten. Es gab also Termine und man sagte "Ja, vielleicht machen wir das im nächsten oder übernächsten Jahr. Jetzt noch nicht, nun haben wir gerade diese oder jene Band." Die hatten ja auch ihre Fünfjahrespläne, dort wurde also schon Jahre vorher projektiert, wer etwas veröffentlichen darf und wir waren da einfach noch nicht dran. Und ich sage mal, es hätte auch sein können, dass wir ein Jahr später etwas veröffentlicht hätten, aber dann war es zu spät. Wir waren nicht mehr richtig aktiv und dann kam die Wendezeit ...
Weißt Du noch ungefähr, wie viele eigene Lieder Ihr hattet?
Ich denke, wir hatten ungefähr 20 eigene Songs und aufgenommen haben wir ca. zehn Songs. Die befinden sich irgendwo im Archiv vom Deutschen Rundfunk. Mit fünf Songs tingelten wir durch Radio und TV und weitere vier oder fünf waren in der Schublade. Die gibt es aber alle noch irgendwo.
Ihr seid ja speziell in Gera, woher Ihr kamt, eine richtig große Nummer gewesen. Gab es in den Jahren nach 1989 nie die Idee, die Band noch mal für ein besonderes Konzert in Eurer Heimatstadt auf die Beine zu stellen, quasi ein kurzzeitiges Comeback zu feiern?
Nein, nicht wirklich. Jeder ging seinen Weg und teilweise haben die Leute auch gar nichts mehr mit Musik am Hut und zu tun. Das war ja nun keine Band, die ein riesiges Oeuvre hatte und bei der sofort 10.000 Leute vor der Bühne gestanden hätten. So ist man das heute gewohnt, wenn man solche Gedanken äußert. Aber das war bei uns ja so nicht der Fall. Wir hatten unser Publikum, es gab tolle Konzerte mit vielen Leuten, mit wenigen Leuten, alles Mögliche. Aber diese Idee, die stand einfach nie im Raum.
Du bist dann, wenn ich richtig informiert bin, zu MONA LISE gewechselt. Stimmt das?
Genau. Ich zog dann nach Berlin, arbeitete viel im Studio und lernte MONA LISE kennen. Für zwei Jahre war ich der Keyboarder und spielte auch auf der einzigen AMIGA-Platte, die MONA LISE gemacht hat, mit, weil der Keyboarder dort aufgehört hatte. Das war praktisch mein Einstieg in die Berliner Szene.
Das war 1989. Du sagtest gerade, dass auch mit P 16 schon die Veränderungen im Land zu spüren waren. Wie und wo hast Du eigentlich die Grenzöffnung erlebt? Wo warst Du am 9. November 1989?
Das kann ich Dir sagen. Ich saß mit unserer MONA LISE-Schlagzeugerin Tina Powileit am Küchentisch und wir diskutierten über die nächsten Konzerte und natürlich auch über die Reaktionen des Kulturministeriums und der FDJ auf Resolutionen von Künstlern, die sich gegen die damalige Kulturpolitik wandten. Es ging um Grenzöffnung, um Offenheit, um Ehrlichkeit. Da waren ja damals SILLY mit dabei und Tamara Danz war eine Freundin von Tina. Also wir bekamen das alles mit, weil wir uns öfter sahen. Wir diskutierten an besagtem Abend also darüber und dann schauten wir noch mal Nachrichten. Zufälligerweise die Tagesschau und auch die Aktuelle Kamera. Dort hörten wir den Bericht, wo der kleine Versprecher zustande kam: "Ja soweit ich weiß, gilt das ab sofort." Danach setzte ich mich in meinen Trabi und wollte in meine Wohnung. Ich hatte damals eine Wohnung in der Dänenstraße, also 100 oder 200 Meter weg vom Grenzübergang Bornholmer Straße. Unsere Sitzung war zu Ende und ich wollte gegen halb elf ganz normal nach Hause. Wir sahen das und dachten, da geht man jetzt bestimmt zum Amt und nach 14 Tagen bekommt man einen Pass. So etwas war man ja gewohnt. Dass so etwas tatsächlich ab sofort gelten sollte, das hat ja keiner geglaubt und keiner verstanden. Außerdem war das für uns auch nicht ganz so dringend und wichtig, denn wir hatten am übernächsten Tag sowieso unser erstes Konzert in Westberlin. In einem Musik-Club, wo wir offiziell als MONA LISE-Band nach Westberlin hätten einreisen dürfen. Wir waren also schon darauf vorbereitet, dort hinfahren zu können, hatten aber unsere Pässe noch nicht, bzw. sie waren einfach noch nicht gültig. Ich wollte also nach Hause und merkte, ich komme gar nicht nach Hause, weil auf der Bornholmer Straße bis vor zur Kreuzung Schönhauser Allee schon die Autos standen, es waren nur Rücklichter zu sehen und ein Auto nach dem anderen. Da merkte ich, irgendwas ist hier anders und dachte, ich parke mal irgendwo, wo ich noch parken kann. Ich stellte das Auto irgendwo ab und lief nach Hause. Zur Grenze ging es also nicht, ich machte mir was zum Essen und dachte, das ist ja Wahnsinn, was hier los ist. Irgendwie gegen elf lief ich zur Bornholmer Brücke, da war sie schon offen. Ich starrte fassungslos auf die offene Brücke und die hilflosen Grenzsoldaten, die einfach nur zuschauten, wie sich Menschenmassen rüber in den Wedding Bahn schlugen und ging auch rüber. Dort hatte ich eine eigenartige Begegnung, den Typen würde ich gerne noch mal kennenlernen. Ich kann mich erinnern, es war eiskalt, gefühlte minus sechs Grad und auf einmal kommt mir ein Westberliner entgegen. Ein Mann mit einer geöffneten Flasche Henkell Trocken und zwei Sektkelchen aus Plastik. Er rannte auf mich zu, umarmte mich, drückte mich, gratulierte mir, gratulierte uns allen zu dieser Grenzöffnung und wir standen beide - obwohl wir uns nicht kannten - mitten auf der Brücke Bornholmer Straße. Er schenkte seinen Sekt in die Kelche und wir stießen an. Wir unterhielten uns zehn Minuten, dann verschwand ich in der Menge und er auch. Das war eine wirklich eigenartige und sehr emotionale Begebenheit, das war wirklich außerordentlich ...
Vielleicht gibt's den dummen Zufall, diesr Mann liest das hier und meldet sich. Wäre ja schön ...
Ja, wer weiß ... Dann kam ich bis zum Ku'damm, sah mir nachts zwei Stunden lang den Ku'damm an plus Bierhaus ("Bier für alle!!!") ... Ich sah mir alles an, die großen Leuchtreklamen und dann war ich nur noch müde, mir war kalt und ich wollte nach Hause. (lacht)
Fand denn das MONA LISE an dem anderen Tag statt?
Das fand statt und zwar unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Wir hatten ja einen LKW mit ganz viel Technik, und wir sind dann über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße ganz offiziell in Amt und Würden mit unseren offiziellen Pässen rüber, und der Truck wurde durchleuchtet und mit Spürhunden durchkämmt usw., während an uns vorbei die normalen Menschen einfach durchliefen. Die liefen einfach mit Handtaschen, mit Jacken voller Zeug hin und her und wir wurden - obwohl wir nur ein Konzert machten und einfache Musiker waren - praktisch auseinandergenommen. Wir spielten aber ein sehr schönes Konzert in irgendeiner Rock'n'Roll-Hall ...
Man kann aber auch sagen, Ihr seid so besonders, dass Ihr kurzzeitig noch in der Zeit stecken geblieben seid ...
Definitiv. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Zeitfalte für gefühlt einen Monat, die ganz eigenartig war ... Es ging nicht zurück und nicht vorwärts, man steckte fest und konnte den Augenblick nur irgendwie genießen. Es war seltsam, aber auch aufregend zugleich.
Michael, wie hast Du als Musiker die Wende "überwunden"? Zwischen 1990, also dem Ende von MONA LISE, und 1993 habe ich über Dich und Deine Tätigkeit nichts finden können.
Das ist vollkommen richtig. Wie für viele, die im Kulturbetrieb freiberuflich unterwegs waren, gab es auch für mich seltsame Durststrecken oder auch Strecken der Selbstfindung, würde ich mal sagen. Jemand anderes geht zum Arbeitsamt, meldet sich arbeitslos, holt sich Geld ab und muss sich erst mal umorientieren. Das war bei mir nicht anders, nur dass es für Musiker kein Arbeitsamt gibt. Es war auf alle Fälle eine schwierigere Zeit, nach der Wende gab es natürlich für die Bands, die ich kannte, die ich mochte und die wir waren - also MONA LISE - von heute auf morgen nichts mehr zu tun. Und zwar gar nichts. Also MONA LISE war eine bekannte und berühmte Band und hatte immer Konzerte. Sie spielte immer, ständig. Und auf einmal guckst du in den Terminkalender und weißt, dass alle jetzt natürlich auf die Westberliner Waldbühne rennen und sich irgendwas anschauen, aber nicht mehr MONA LISE oder P 16. Das bedeutet, dass du von heute auf morgen einen leeren Terminkalender hast. Da muss man die Zähne schon ordentlich zusammenbeißen oder sich überhaupt erst mal orientieren. Das machte auch ich. Ich war zum Beispiel dann zwei Jahre lang arbeiten, nahm meinen alten Beruf als Tischler/Instrumentenbauer wieder auf und arbeitete in einer Firma in Kreuzberg. Diese Firma stellte Studioausrüstungen her. Also Rock'n'Roll-Cases, Beschläge, Ausrüstungen für Musik- und Fernsehstudios. Ich arbeitete dort also richtig, wie man eben arbeitet.
Na ja, das hast Du vorher als Musiker auch, das ist ja auch Arbeit ...
Ja, aber es ging eben um sieben los und um vier war Schluss. Also ein richtiger Angestellten-Job. Das machte ich eine Zeit lang, teilweise auch nebenher, um mir einen Standard zu erarbeiten, um finanziell unabhängig zu sein. Man weiß ja nicht, wie lange das alles gut geht ... Es gab aber einen glücklichen Zufall und dieser glückliche Zufall heißt Veronika Fischer. Ein Freund von mir, mit dem ich schon jahrelang bei STERN MEISSEN zusammen gearbeitet hatte, Andreas Bicking (Pianist, Saxophonist, Bandleader, der auch viel mit Manfred Krug und Uschi Brüning gemacht hat), stellte eine neue Band für Veronika Fischer zusammen. Veronika Fischer war ja Anfang der 80er nach Westberlin gegangen bzw. dort geblieben und war eine berühmte Künstlerin mit vielen Platten und Auszeichnungen in Ostdeutschland. Und die kam auf einmal wieder. Sie nutzte den Weg also andersherum, kam wieder nach Ostdeutschland, machte viele Konzerte und brauchte dafür eine Band. Also wurde eine Band zusammengestellt und ich war in dieser Band dann von 1990 bis 2000 Keyboarder. Es gab also zwei Keyboarder, einmal Andreas Bicking als Chef, der andere war ich. Und in dieser Zeit spielten wir ganz viele Tourneen und nahmen teilweise auch Platten auf. Das war eine sehr intensive Zeit, so dass ich dann aus meinem Angestellten-Status wieder ins Musikerleben zurück fand.
1993 wurde parallel zu Deiner Arbeit mit Veronika Fischer die SEILSCHAFT als Begleitband von Gerhard Gundermann gegründet. Mit in dieser Band spielten komischerweise auch Kollegen von MONA LISE. Wie entstand diese Band und wie bist Du dazu gekommen?
Das beruhte natürlich darauf, dass ich vorher bei MONA LISE war. Gerhard Gundermann hatte ja vorher schon Alben aufgenommen, bei AMIGA gab es das Album "Männer, Frauen und Maschinen", welches er teilweise mit einzelnen Musikern oder mit der Band DIE WILDERER umsetzte. DIE WILDERER waren wiederum eine Band, bei der der Gitarrist Mario Ferraro mitspielte. Dann hatte Gundermann für SILLY gearbeitet, er schrieb die Texte für deren Album "Februar". Sie waren von seinen Texten begeistert und revanchierten sich bei ihm, indem sie für ihn als Studioband sein Album "Einsame Spitze" aufgenommen haben. Dieses Album wurde 1991 von den SILLY-Musikern aufgenommen, also nicht offiziell als Band SILLY, sondern die Musiker einzeln haben sich verdient gemacht als Arrangeure und spielten die Sachen ein. Sie sagten aber gleich, "Wir gehen nicht auf Tour, denn wir sind ja unsere eigene Band. Dafür musst du dir jemand anderen suchen." Und dann sprachen sie Empfehlungen aus, wer das sein könnte, da sich Gundi natürlich in der Berliner Musikszene nicht so auskannte, denn er kam ja aus Hoyerswerda. Er war nie in Berlin angekommen, wohnte auch weiter in Hoyerswerda und war nur ab und zu mal in Berlin zu Gast. Er suchte also eine Band, es gab Empfehlungen und er wollte unbedingt mit Tina Powileit spielen, einer Frau am Schlagzeug. Dann rief eines Tages Ritchie Barton, der Keyboarder von SILLY bei mir an und sagte, "Hey, du bist doch hier in Berlin und es gibt diesen Liedermacher, der Texte für uns machte, und der sucht eine Band. Ich könnte mir vorstellen, da könntest du doch mal gucken ..." Es gab also diese Empfehlung, die Tina kannte ich ja schon, ihren Mann, den Bassisten Thomas Hergert, dann gab es Mario Ferraro von den WILDERERN. Den kannte Gundermann schon, weil er mit den WILDERERN schon zwei Jahre vorher gespielt hatte. Die hatten schon einige Konzerte gemacht und er fand Mario klasse, weil er so ein STONES-artiger Gitarrist ist. Ja, dann war ich im Proberaum und es gab noch Andy Wieczorek, bei dem wir nicht genau wussten, wer er ist. Den Namen kannten wir und wir wussten, dass der Typ alles Mögliche spielt. So probierten wir uns mehrmals eine ganze Weile im Proberaum aus und irgendwann war Gerhard Gundermann damit glücklich: "Okay, ich glaube, das ist jetzt meine Band. Das ist die SEILSCHAFT."
Im gleichen Jahr - das muss alles ziemlich kompakt gewesen sein, wie es sich liest - entstand ja auch Album "Der 7. Samurai". Mit daran beteiligt waren auch wieder die Kollegen von SILLY, aber auch Ihr als neue Band. Erinnerst Du Dich noch an die Produktion dieser Platte und wie lief das ab?
Ja, unbedingt. Das war 1993 und wir spielten schon seit 1992 das Album "Einsame Spitze" live auf Tour. Das galt es zu promoten, wie man heute sagt. Das machten wir und es stellte sich heraus, das wird die Band sein. Es gab dann neues Songmaterial und wir suchten nach einer Möglichkeit, das Material zu erproben und zu arrangieren. Da gab es die Möglichkeit - ich weiß gar nicht, aus welcher Ecke die kam - dass wir eingeladen wurden von Rio Reiser. Der hatte sich nach Fresenhagen auf sein Landgut zurückgezogen und hatte dort ein wunderbares Studio mit Wohlfühlraum usw. Rio war damals schon angeschlagen und es ging ihm nicht mehr gut. Das wussten wir aber nicht. Auf seine Einladung hin hielten wir uns also zwei Wochen bei ihm auf und konnten in seinem Umfeld die neue Platte erproben und arrangieren. Da übernahm ich die Fäden und fing an, zu arrangieren und auch selbst zu komponieren bzw. Lieder mit Gundi gemeinsam zu schreiben. Damals trauten wir uns noch nicht zu, es selbst zu produzieren und da kamen insbesondere Uwe Hassbecker und Ritchie Barton auf den Plan und sagten "Moment mal, das machen wir. Wir wissen, wie das geht, wir haben das ja beim letzten Album schon gemacht ..." Demzufolge waren die beiden Produzenten, und ich war der Co-Produzent. Bei Martin Schreier, also im Studio von STERN MEISSEN, entstand dieses Album, genau dort also, wo auch schon "Einsame Spitze" entstanden war. Wir nahmen als Band auf und die beiden haben uns unterstützt, arrangiert und sich um die Mischung gekümmert.
Mit SILLY gab es dann ja im November 1994 das legendäre Konzert, welches letztlich auch auf CD und Video erschienen ist. Welche Erinnerungen hast Du denn noch daran? Das muss ja auch ein Mega-Happening gewesen sein ...
Sehr gute Erinnerungen. Eigentlich ist diese Sache anders gelaufen, als man es jetzt sieht. Wenn man sich jetzt damit beschäftigt, sieht man eine DVD oder eine Doppel-CD mit dem Mitschnitt von diesem Konzert im Lindenpark. Das war aber gar nicht das Ziel. Das Ziel war das Neujahrskonzert am 1. Januar in der Volksbühne. Es gab nämlich vorher eine Einladung von Frank Castorf an Gundermann, wir sollten allein in der Volksbühne spielen. Also Gundermann & DIE SEILSCHAFT. Frank Castorf hatte zu der Zeit seine Hochzeit und begann, sich einen Namen als Intendant der Volksbühne zu machen. Daraus wurde dann ein Unplugged-Abend mit SILLY zusammen. Zum ersten Mal sollte es also das Projekt SILLY & Gundermann & DIE SEILSCHAFT zusammen als Unplugged-Konzert in der Volksbühne geben. Akustikgitarren, kein richtiges Schlagzeug, also wie man so einen Singer/Songwriter-Abend eben macht. Die Lieder alle downgegraded, back to earth, wie man heute sagen würde und wenig Schmuck dran. Das war das eigentliche Ziel und dann sagte jemand von Radio Brandenburg "Moment mal, das ist ja ganz toll, das wollen wir haben, dass möchten wir mitschneiden." Darauf sagten wir, "Na ja, dann müssen wir das aber irgendwo mal proben und einmal vorher machen." Und auf einmal generierte sich das Konzert direkt bei Radio Brandenburg, denn die sind ja um die Ecke, im Lindenpark. Das war praktisch deren Aufnahmeort, um das mitzuschneiden. Aber die eigentliche Hauptveranstaltung fand im ehrwürdigen Volksbühne-Theater in Berlin Mitte statt. Nur die wurde eben nicht mitgeschnitten, sondern quasi der Probeabend davor. (lacht) Ich glaube, das war ca. vier Wochen vorher, irgendwann im November ... Es waren zwei denkwürdige Konzerte, man sieht zum letzten Mal noch mal Beide auf der Bühne stehen und wenn man das Lied, in dem es über den Abschied geht und die Katze, die noch mal wiederkommt, da wird einem auch heute noch ganz warm ums Herz. Ganz eigenartig, denn eine solche Art von Prophezeiung wünschte sich keiner und daran glaubte auch niemand.
Weitere Alben sind entstanden, dann ohne Hilfe von anderen Musikern und Bands, also Gundi und Ihr habt dann alles allein auf die Beine gestellt. Wie war der kreative Prozess damals aus Deiner Sicht? Wie entstanden neue Songs und Platten? War das ein gemeinsames Erschaffen oder ließ sich Gundi in seine Vorstellungen nicht reinreden?
Nein, das war eine wirklich fruchtbare Zusammenarbeit. Natürlich hatte er Vorstellungen wie jeder, der sehr weit geht in seinen Gedanken, und das ist auch völlig berechtigt. Das ist bei Wolfgang Niedecken genauso, aber trotzdem gibt es ja eine Band, die es umsetzen will und auch umsetzen muss. Dann muss man schon den ganzen Kosmos von außen sehen, dass er zusammen hält. Das ist ganz wichtig. Wir haben so zusammen gearbeitet, dass Mario Musiken geschrieben hat, ich habe Songs geschrieben, darauf hat Gundermann getextet. Es gab aber auch fertige Songs von ihm, ich war damals Produzent des Albums, wo ich die Songs noch mal auseinandergenommen und umarrangiert haben, so dass sie einen Weg fanden, um auf die Platte zu kommen. Also dass man einen Anschlusspunkt an die anderen Alben hatte und es einen roten Faden gibt. Wir haben damals wieder bei Martin Schreier im Studio Wilhelmshagen aufgenommen. Das war ein wunderbarer, enger kreativer Prozess. Wir hatten - glaube ich - vier Wochen Zeit für alles und haben dann dort aufgenommen, dort gemischt. Teilweise mischten wir selbst, teilweise hatten wir Tonmeister dabei. Da war alles möglich. Wir haben - wie gesagt - Songs verworfen, oder Songs in drei verschiedenen Versionen aufgenommen, um alles auszuprobieren, bis dann alle glücklich sind und natürlich Gundermann selbst auch. Denn er musste es ja vertreten. Auch heute würde man das so machen, wenn man eine Live-Band aufnimmt, nur dass heute alles in viel kürzerer Zeit fertig sein muss. Damals hatte man etwas mehr Zeit, um eben auch A- und B-Varianten auszuprobieren.
Das Jahr 1998 war von einem tragischen Ereignis überschattet. Euer Frontmann Gerhard Gundermann verstarb. Wie geht man mit so was um, wenn plötzlich ein Freund und Kollege weg ist und die Band damit eigentlich von jetzt auf gleich nicht mehr existiert?
Es war ziemlich grausam. Wir trafen uns nämlich am nächsten Tag bei Mario im Studio. Mario Ferraro unterhielt damals zusammen mit zwei Kollegen ein professionelles Tonstudio in der Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg. In diesem Studio hatten wir schon mehrere Vorproduktionen für das Album gemacht und an diesem Tag wollten wir uns treffen, um ernsthaft am neuen Album - welches dann nie aufgenommen wurde - zu arbeiten. Also Ideen auf den Tisch zu bringen, schon mal aufzunehmen und zu verfeinern. Wir trafen uns im Studio und wunderten uns, dass niemand kam. Also der Chef kam nicht. Irgendwann gegen Mittag oder Nachmittag rief dann Paula Seidel an, die damals unsere Managerin war, und sagte "Du, der Gundi, der kommt nicht." - "Wie, der kommt nicht?" - "Nein, der kommt überhaupt nicht mehr. Er ist gestorben." Das war ein sehr emotionaler und schlimmer Tag, weil auch von heute von morgen von dem Projekt, welches gerade Aufwind bekommen hatte, nichts mehr übrig blieb. Da war nichts mehr da. Es war ja so, die letzten Jahre ging es langsam aufwärts, es interessierten sich andere Plattenfirmen dafür, dann kam 1995 natürlich - wie auch im Film zu sehen - seine Stasi-Mitarbeit heraus, aber die Leute waren trotzdem angetan von der Musik, kauften die Platten und kamen zu den Konzerten. Es sollte also weitergehen, das starb nun mit einem Mal ab und es gab natürlich überhaupt keinen Grund mehr, mit der Band weiterzumachen. Denn die Band war natürlich ein Sprachrohr von Gundermann und wenn Gundermann nicht da ist, muss es die Band nicht mehr geben. Und deshalb gab es die Band auch für 10 oder 11 Jahre nicht mehr. Es machte erst wieder Sinn, als der Verlag und das Label BuschFunk, welche sämtliche Rechte an den Gundermann-Liedern haben, dann ein Erinnerungskonzert für Gerhard Gundermann in der Berliner Columbiahalle machten und uns einluden, dort mit zu machen. Da fragten wir uns, "Wollen wir das, können wir das und wie würden wir das überhaupt machen?" Das war eigentlich der Anfangspunkt, an dem wir darüber nachdachten, wer singt die Lieder usw. Und ab diesem Zeitpunkt ergibt sich eine neue Geschichte der Band SEILSCHAFT, aber in dem Moment, als er 1998 starb, war an so etwas überhaupt nicht zu denken.
Dein Einstieg bei BAP kam ja erst ein Jahr später. Wie ging es denn direkt im Anschluss speziell bei Dir weiter?
Na ja, das hat indirekt schon damit zu tun, dass Wolfgang die Ost-Szene natürlich auch schon ... ich will nicht sagen, gekannt hat, aber sich für deren Inhalte interessiert hat. Er ist ja ein Mensch, der sehr danach geht, wie ehrlich Songs sein können oder wie Typen sind, die auf der Bühne stehen. Als Gundermann gestorben war, war das ja eine richtig große Schlagzeile, es kam in den "Tagesthemen", es kam in allen Nachrichten. Das hatte Wolfgang mitbekommen und sich auch ein bisschen mit dem Material beschäftigt und dann war es so, dass in seiner eigenen Band zwei Leute ausstiegen. Das war Ende 1998 und ein halbes Jahr später hatte ich Wolfgang Niedecken am Telefon und er sagte: "Du bist doch der Keyboarder von dem Gundermann, ich habe Gutes über Dich gehört, auch durch Jens Streifling." Jens Streifling war ja vor der Wende ausgereist, fasste in Köln Fuß als freier Musiker und lernte dort auch Wolfgang Niedecken kennen. Durch Jens Streifling wusste er also von mir und er wollte sich zu dem Zeitpunkt nicht wieder Kölner Musiker in seine Band holen. Die kannte er alle und er wollte irgendwie neues Blut, so hatte ich den Eindruck, und er konnte sich vorstellen, dass ich mal vorbei komme. Gerade mal ein halbes Jahr später hatte ich Wolfgang am Telefon und er lud mich ein, mal mit ihm Tee zu trinken und mal darüber zu reden, wie es denn wäre und was ich denn für ein Typ sei usw. Das war Weihnachten 1998 und dann habe ich mich im neuen Jahr nach Köln begeben und saß dann mit einer praktisch schon neuen BAP-Band und auch einem neuen Gitarristen - den ich aber auch schon kannte, denn er war der Gitarrist von Wolf Maahn und die Wolf Maahn-Band fand ich schon immer ganz toll. Das war Helmut Krumminga. Da saß ich also mit der neu formierten Band bei Wolfgang am Küchentisch und dabei ging es darum, sich selbst vorzustellen, wer man ist, woher man kommt, welche Erfahrungen man hat, was man liebt, was man gut findet in der Musik. Das war so eine Art Tuchfühlung, was taugt diese neue Band? Daraus gestaltete sich dann ein "Übungslager", Wolfgang beraumte ein zweiwöchiges Probelager in der Eifel an. Dort hat Wolfgang ein Haus und dort gab es eine sehr schöne Probemöglichkeit in einer alten stillgelegten Schule. Dort haben wir im Winter zwei Wochen lang hardcore geprobt. Also wirklich das ganze BAP-Repertoire hoch und runter und da musste man ein bisschen zeigen, was man so drauf hat und dass man sich damit beschäftigt hat, dass man es technisch und klanglich spielen kann, aber andererseits auch inhaltlich dazu steht und ob man es auch singen kann. Ich singe ja auch Chor bei BAP und arrangierte auf Platten und bei Live-Konzerten mit. Man muss also schon ein bisschen mehr tun ...
Du musstest Dir quasi eine neue Fremdsprache aufdrücken ...
Ja, aber das bringt einem Wolfgang dann schon bei. (lacht) Aber Du hast schon Recht, es war für mich eine Art Fremdsprache. Aber wenn man Chor singt, kann man ja auch phonetisch rangehen. Aber man muss den Inhalt kennen und was man da ausruft, sollte man schon wissen ... (lacht)
Schon das Album "Tonfilm" von BAP im Jahr 1999 hast Du mit eingespielt. War das eine der ersten Amtshandlungen, war das direkt nach diesem Probetrainingslager oder wie man es nennen möchte?
Genau so war es. Das Probelager war fertig und Wolfgang sagte "Ich rufe dich nächste Woche an und sage dir Bescheid, was daraus geworden ist." Ich fuhr nach Hause nach Berlin und eine Woche später sagte er mir: "Pass auf, es wird folgendermaßen sein. Du bist der neue BAP-Keyboarder und wir werden ein neues Album aufnehmen und zwar das Album 'Tonfilm'. Das machen wir in einem Tonstudio in Südfrankreich. Näheres bekommst du von meinem Manager zu hören." Dann bekam ich irgendwann Flugtickets von Berlin nach Paris, von Paris nach Montpellier und dort nahmen wir im Mai innerhalb von zwei oder drei Wochen das Album "Tonfilm" auf. Und das war auch gleich eine Herausforderung, denn es war eine obercool eingespielte Band und es wurde alles live eingespielt. Es gab damals natürlich auch schon Pro Tools, aber das Prinzip war: "Wir spielen hier alles live ein, das muss knacken." Da wird nicht drei Mal dran rumgeschnippelt und dort noch mal ein Solo und da noch mal dieses und dort noch mal jenes rein gemischt. Wir hatten auch gar nicht die Zeit dafür, weil auch gleich gemischt werden musste. Das war schon eine Herausforderung, mit einer neuen Band und vor allem mit einer tollen Sheryl Hackett, die damals noch die Chorsängerin und Percussionistin war, zu spielen. Das war schon ein anderes Level.
War der "Major" damals auch noch dabei?
Nein, das war ja der Grund. Der "Major", Klaus Heuser, der auch ganz viele erfolgreiche Songs geschrieben hatte, war zwar nicht der Stammgitarrist von BAP, vor ihm gab es auch schon andere, aber er prägte eine bestimmte Ära, nämlich die 80er und die 90er, in denen er mit seinen Songs bzw. seinen Ideen, Songs so zu arrangieren, zum Erfolg beitrug. Er war ausgestiegen und hatte auch gleich den Keyboarder mitgenommen. Sie stiegen also beide aus und deshalb wurde Platz für den neuen Gitarristen Helmut Krumminga und für mich frei.
Deine erste Komposition, die bei BAP auf einer Platte gelandet ist, war der Song "Istanbul" auf dem Album "Aff un zo". Stimmt das oder gab es vorher schon Kompositionen, die Du bei BAP beigesteuert hast?
Also ich steuerte schon vorher Sachen bei, indem ich arrangierte und neue Fassungen eingespielt habe. Auf dem "Tonfilm"-Album gibt es zum Beispiel das Instrumental "Koot füür aach". Das gibt es - glaube ich - in zwei Versionen. Ich wurde gebeten, zu dem Stück eine Klavierimprovisation mit Saxophon zu machen, also mit Jens Streifling. Ich setzte mich hin, hatte zwei Stunden Zeit, mir etwas auszudenken und dann wurde auf Record gedrückt. Das war praktisch meine erster kreativer Output auf dieser Platte. Also ich schrieb das Lied nicht, sonderte arrangierte und interpretierte es neu. Dann hast Du Recht, "Istanbul" müsste das erste von mir sein, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob auf dem Album nicht noch etwas anderes von mir drauf ist. Aber es kann sein ...
War denn von Anfang an klar, dass Du dort bei BAP im Bereich Songwriting und Arrangements tätig sein würdest, als Du zur Band gestoßen bist oder kristallisierte sich das erst im Laufe der Zeit heraus, dass Du auch auf diesem Gebiet und neben Deiner Arbeit an den Tasten ein wichtiger Teil der Kapelle werden kannst?
Die Möglichkeit stand von Anfang an offen, aber ich konnte sie natürlich nicht von Anfang an nutzen. Wenn du drei Gitarristen in einer Band hast, also Wolfgang, Helmut und Jens, dann hast du nicht so gute Karten als Keyboarder, weil es eine Rockband ist und da wird natürlich auf der Gitarre geschrieben. Und wenn drei Leute Output an Kreativität haben, ist das zahlenmäßig schon echt überlegen. Deswegen kristallisierte sich das erst später heraus und ich konnte meine Chancen auf den folgenden Alben nutzen.
Nun feierst Du ja in diesem Jahr Dein 20. Jubiläum bei BAP. Gab es dafür schon die obligatorische goldene Uhr, die bei einem solchen Jubiläum betriebsintern sonst üblich ist?
(lacht) Nein, es gab keine goldene Uhr. Es gab ein herzliches Anstoßen und Feiern und es gab natürlich eine Huldigung, wie das bei BAP gemacht wird. Das ist schon passiert, denn das entsprechende Datum lag bereits im Mai. Als wir unsere Sommer-Tournee anfingen, dachten wir alle - und ich am lautesten - daran, ich bin jetzt 20 Jahre dabei. Und Wolfgang fasste sich an den Bart und sagte "Das kann doch nicht sein, 20 Jahre ..." Ja ja, es ist schon ein Wahnsinns-Zeitraum, den man damit verbracht hat.
Seit 2011 gibt es auch DIE SEILSCHAFT wieder. Du gehörst seitdem auch wieder zur Besetzung, Du spielst mit der Band Konzerte, es wird ein neues Album geben, es gibt also neue Verpflichtungen. Gab es mit BAP und Wolfgang keine Interessenskollisionen?
Nein, überhaupt nicht. Wolfgang fragt eher nach und sagt, "Hey, wie ist das mit der Band, wann spielt Ihr denn da mal? Ich will das mal sehen." Er interessiert sich dafür, er sah sich auch mit seiner Frau den Gundermann-Film an, fand ihn ganz toll und ist nun noch mehr eingestiegen in das Vorleben von mir, also in meine Vergangenheit vor BAP, und hat sich jetzt noch ein anderes Bild machen können von mir und von dieser Zeit. Er findet das total interessant, auch wenn er auf vielen Gebieten ja unterwegs ist. Aber das gehört ja zu unserer Diskussionskultur dazu, man will sich ja nicht nur über BAP unterhalten. Also das findet er schon toll und natürlich gibt es trotzdem Überschneidungen, denn BAP nimmt in einem Jahr viele Wochen ein und mit dem SEILSCHAFT-Projekt will ich auch Konzerte machen. Da hat man manchmal schon etwas Stress und muss versuchen, Konzerte neu zu organisieren. Das lässt sich leider nicht vermeiden.
Aber so weit gekommen, dass irgendwo schon mal eine Vertretung einspringen musste, ist es noch nicht?
Doch, dazu kam es schon, aber das ist auch überhaupt nicht schlimm. Es gab bei der SEILSCHAFT in der Vergangenheit ein oder zwei Konzerte und da hat dann ein alter Freund ausgeholfen, den Gundi auch schon selbst kannte, nämlich der Keyboarder der Band DIE WILDERER. Ein guter Freund, der das ganz klasse macht und auch Musikwissenschaften an der Humboldt-Uni doziert.
Im Jahr 2011 hatte Wolfgang Niedecken ja bekanntlich extreme gesundheitliche Probleme, er erlitt - glaube ich - zwei Schlaganfälle. Kam in diesem Moment bei Dir nicht alles aus dem Jahr 1998 wieder hoch, was waren deine Gedanken, als Du das gehört hast?
Da hast Du vollkommen Recht, das war auch so. Ich habe einfach für mich feststellen müssen, dass dasselbe noch mal passieren kann. Man sagt ja immer so, das passiert nicht zwei Mal im Leben, doch es passiert zwei Mal im Leben. Glücklicherweise aber nicht genauso, weil Wolfgang einfach unheimlich viel Glück hatte. Glück mit der Wahl seiner Ärzte, Glück mit seiner Ehefrau, die die richtigen Entscheidungen getroffen hat, Glück auch mit seiner wahnsinnigen Eigenenergie, die ihn da wieder herausgeholt hat. Dass wir ein halbes Jahr später eine komplette Tour 1 zu 1 nachholen würden, das hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht. Im November wurde alles abgesagt, das waren 30 oder 35 Termine. Ein halbes Jahr später war Wolfgang wieder auf der Bühne und wir haben gespielt. Das war Wahnsinn ... So eine Wiedergeburt, das ist traumhaft. Er hatte großes Glück, aber auch einen unheimlichen Willen, das zu überstehen. Das zeichnet Wolfgang aus, eine gehörige Portion Eigenenergie bei solchen Fragen oder in solchen Stresssituationen ...
Die ganze Situation stellte sich für Außenstehende wie ein hektisches Umherlaufen dar. Ich erinnere mich noch dran, wir hatten Genesungswünsche auf unserer Seite und da fiel natürlich das Wort "Schlaganfall". Da hieß es dann, das müsse sofort herausgenommen werden, man ginge wegen des Wortes "Schlaganfall" im Zusammenhang mit Wolfgang Niedecken sogar juristisch vor. Hast Du davon etwas mitbekommen?
Nein, davon bekam ich nichts mit, aber ich kann das schon verstehen. Man muss schon warten, bis derjenige selbst dazu ein Statement abgibt und wenn jemand vorher Behauptungen oszilliert und veröffentlicht, die nicht durch den Betroffenen gedeckt sind, dann kann das schon Verleumdung sein. Man muss - trotz einer vermeintlich guten Quelle - echt aufpassen, was man damit sagt. Denn es gibt ja einen rechtlichen Hinderungsgrund, so etwas zu veröffentlichen. Ich kann das verstehen, man muss damit vorsichtig sein, denn einmal abgestempelt mit irgendwas, hat man es schwer, da wieder raus zu kommen. Da sollte derjenige, den es betrifft, es schon selbst sagen. Ich bekam es damals aber nicht mit, wir waren irgendwie zu viel mit uns selbst beschäftigt ...
Die Band heißt ja seit einigen Jahren - ich glaube, früher hieß sie auch schon mal so - "Niedeckens BAP", was ja eine klare Ansage ist, wessen Band das ist. Fühlt man sich da dann plötzlich eher als Angestellter, mehr als Bandkollege oder ist das im Prinzip egal, welchen Namen das Kind trägt?
Du hast recht, die Band hieß ganz am Anfang so, dann hieß sie der Einfachheit halber nur noch BAP und nach der erneuten Umbesetzung, die wir vor fünf Jahren hatten - also der Ur-Schlagzeuger Jürgen Zöller hatte aufgehört und Sönke Reich kam hinzu - machten wir ein neues Produkt und eine neue Tour. Das war BAP unplugged, aber die Tour hieß nicht so, sondern "BAP zieht den Stecker". Mit dieser Tour zogen wir durch die Konzerthäuser, durch Philharmonien, zum Beispiel das Leipziger Gewandhaus, also es wurden keine Rockbühnen bespielt. Wir spielten ganz leise, es gab Akustikgitarren und Flügel, Geige, Percussion-Instrumente und es gab auch einen neuen Gitarristen, weil Helmut Krumminga aufgehört hatte. Das nahm Wolfgang Niedecken zum Anlass, sich zu besinnen und zu sagen "BAP war ja ganz früher eine sich wandelnde Band mit einem großen Pool von Musikern, ich möchte das weiter so beibehalten" und nannte das Ganze dann "Niedeckens BAP." Nun kann man natürlich sagen, ich wünsche mir mein altes "BAP" zurück, aber als Musiker macht man in dem Augenblick genau dasselbe, wie in den anderen Jahren auch und da er die Namensrechte hat, ist es seine Marke. Es ist sein Produkt, seine Erfindung, es geht um seinen Vater - BAP heißt ja nichts anderes, als Papa. Es sind alles seine Geschichten und er kann damit eigentlich machen, was er will. Ich hätte es schön gefunden, wenn es bei BAP geblieben wäre, weil es einfach für alle noch klarer ist, aber er wollte es so gern so, er wollte es wieder nach Hause bringen. Er ist ja - wenn man es genau nimmt - auch die letzte Konstante, das darf man ja auch nicht vergessen. Genau, er ist die letzte Konstante, weil alles sich um ihn herum bewegt, modernisiert oder auch jünger wird und deswegen will er noch mal sagen: "Moment mal, das ist mein Ding hier ..."
Kommen wir mal zu etwas ganz anderem: Du und ich, wir sind ja ungefähr im gleichen Alter, uns trennen vier Jahre. Wir sind noch mit Schallplatten- und Single-Veröffentlichungen groß geworden. Wie siehst Du als Kreativer und als Musiker diese Entwicklung in der Musik, dass physische Veröffentlichungen mit unserer Generation wahrscheinlich aussterben und Neuerscheinungen bald wohl nur noch digital in Umlauf geraten werden. Wie stehst Du dazu?
Ich stehe kritisch dazu. Das heißt, ich finde es sehr schade, wenn es keine physischen Tonträger mehr geben sollte. Ich meine, in den letzten Jahren gibt es wieder einen Aufwärtstrend bei Vinyl für Sammler und auch für DJs. Obwohl es ja viele digitale DJ-Plattformen gibt, gibt es Dinge, die mechanisch und physikalisch eigentlich besser funktionieren. Es gibt einen Grund: Weil in einer kurzlebigen Zeit wie heute, etwas in der Hand zu halten, von dem man sagen konnte, das ist meins, ich erinnere mich daran, es sieht so aus, ich kann es anfassen, ich kann es ins Licht halten, es gehört mir, ich besitze es. Das ist ja mittlerweile kaum etwas, was es noch gibt. Das fängt beim Auto an, die wenigsten besitzen ein Auto, sie leasen es, sie borgen es sich, man wird dazu animiert, es so zu tun, man soll nichts mehr besitzen. Eine Wohnung besitzt man nicht, man mietet sie schon immer. Und so geht das beim Musikkonsum auch voran. Einerseits finde ich es schade, weil ein Wert verloren geht, nämlich dass man ein Kunstwerk in der Hand hält. Vielleicht weniger bei den letzten "Mallorca-Hits", aber wenn ein Künstler ein halbes Jahr an einem Produkt gesessen hat, sei es ein Bildhauer oder ein Maler, dann gibt er der Sache einen Rahmen, lässt den Rahmen weg und sagt. "Das ist mein Werk. Das kostet 10.000 Euro oder 3.000,00 oder 480,00. Das ist mein Werk, so will ich es sehen, so will ich es haben und so stelle ich es dar und wehe, es kommt einer und verändert etwas. Das ist mein Werk und es hat einen Wert. Ob du ihn siehst, ob du es kaufst, ist deine Sache. Aber es hat für mich einen Wert." Durch das digitale Bereitstellen und durch den mittelmäßigen Verzehr von Musik durch minderwertige Kopfhörer, Player, MP3-Formate usw. weiß man ja nicht mehr, was von der komponierten, produzierten und designten Musik, an der man sehr lange gesessen hat, beim Zuhörer ankommt. Das heißt, es geht einem als Konsument an Wert verloren und man erkennt auch nicht mehr den Wert an sich. Ist es das wert? Soll ich dafür bezahlen? Bei einer Vinyl-Platte, die ein aufwendiges Cover hat, bei der ein Künstler optisch etwas geschaffen hat, der Musiker akustisch, beide bringen vielleicht etwas auf einen neuen Höhepunkt, bei dem 1 und 1 mehr ist, als zwei, dann sagt man, "Wow, das Album muss ich haben. Das Doppelalbum von PINK FLOYD, das ist ja Wahnsinn, was ich da alles sehe, was ich da alles lesen kann." Oder ein älteres BAP-Album, oder meinetwegen ein Live-Album mit tollen Fotos, aus denen man großartige Emotionen auftanken kann. Das verschafft einem einen komplexen Genuss, für den man natürlich etwas bezahlen soll. Aber man sagt dann okay, das ist es mir wert. Und das war es mir damals als Teenager auch wert. Ich bin als Teenager mit 14 nach Budapest gefahren, weil es in Ostdeutschland keine West-Platten gab und habe mir für umgerechnet 120,00 Mark - das war utopisch viel Geld - das neue POLICE-Album als Vinyl gekauft. Und mein Bruder hat sich noch eine Platte einer Punk-Band und ich noch eine von Thomas Dolby geholt. Wir wussten, das ist unser Schatz, unser Heiligtum. Das werden wir nicht hergeben und das haben wir dann wochenlang hoch und runter gehört, weil es uns das wert war und wir das wollten. Wenn ich dann heutzutage die Streams habe, die mich 9,99 Euro kosten, und ich die Musik nur noch minderwertig durch einen MP3-Quäk-Player oder schlechten Kopfhörer höre und dann wird es vielleicht nur noch mono gestreamt, weil es eben ein iPhone oder ein Phone überhaupt ist, das ist alles entsetzlich. Und da fragt sich dann jeder berechtigt, "Das soll ich auch noch bezahlen???" Weil es ja nichts mehr ist, es ist nicht greifbar, es schwebt durch die Luft, wird irgendwo abgespielt, irgendwo unterbrochen und dann kostet das ganze 9,99 Euro und dafür sind zehn Millionen Songs zu haben. Und jetzt kommt die andere Seite zum Tragen: Was bekomme ich als Musiker von diesen 9,99 Euro? Also ich persönlich im Moment nichts. Wenn ich so eine Abrechnung bekomme, ist die lächerlich, sie ist mittlerweile weniger wert, als das Porto, welches die Post verlangt. Okay, nun kann man sagen, "Es ist deine eigene Schuld, wenn du nicht bei Peter Gabriel, Sting oder Rihanna spielst, dann mach' doch so 'ne Musik." Und da sage ich dann wiederum, die Leute, die das machen, die gibt es ja schon. Ich mache etwas, was vielleicht für die Gegend hier wichtig ist oder wichtig sein kann, und ich arbeite mit Künstlern zusammen, die hier ihren Stellenwert haben und möchte auch gern so entlohnt werden, dass ich davon - wie jeder andere - auch normal leben kann. Und das ist durch diese Abrechnungsformen, durch diesen Verkauf, durch dieses Digitalisieren von Musik nicht mehr möglich.
Kaufst Du denn selbst noch Platten, also Schallplatten?
Ich kaufe CDs. Ich kaufe immer noch gern CDs, letztens Gregory Porter - ganz toll - oder Klassiker, die ich immer noch nicht habe, obwohl ich denke, ich habe schon 'ne Menge. Also, ich kaufe CDs ...
Abseits Deiner Tätigkeit bei BAP und der SEILSCHAFT hast Du seit zwei Jahren noch ein weiteres Projekt. Vielleicht kannst Du das an dieser Stelle noch etwas vorstellen?
Ja, das mache ich sehr gern. Man kennt es aus der Gitarrenwelt, es gibt Signature-Modelle von verschiedenen Künstlern, die mit einem schönen Schriftzug versehen werden und die auch so klingen, wie der Künstler es vorsieht. Das gibt es auch bei Schlagzeugen. Ich fing vor zwei Jahren an, gemeinsam mit der Firma STEINWAY aus Hamburg, die hochwertige Flügel herstellt, ein Signature-Modell zu entwickeln und das machte ich gemeinsam mit Wolfgang Niedecken. Wir haben praktisch in Hamburg zum ersten Mal weltweit einen STEINWAY-Flügel entwickelt, der "Sunburst" heißt. Das "Sunburst"-Design ist eine Farbgebung, die es seit Mitte der 30er Jahre gibt und die schönsten und fettesten Gitarren, die man sich vorstellen kann, die sich zwischen dunkelbraun, honigfarben bis ins Rot bewegen, nennen sich "Sunburst". Ganz viele Gitarren-Heroes, die man aus den letzten 50 Jahren kennt, haben eine "Sunburst"-Gitarre. Gemeinsam mit Wolfgang Niedecken starteten wir vor zwei Jahren in Hamburg ein Projekt und versuchten, dieses Design auf einen Flügel zu übertragen. Das hat zwei Jahre Entwicklungsarbeit gekostet, ich war sehr oft in Hamburg, habe dort mit Lackierern über die Schwierigkeiten gesprochen, diese Farbgebung auf einen Flügel zu bringen und dieses Modell - man kann es sich auch online ansehen - gibt es seit einem Jahr bei STEINWAY zu kaufen und wird weltweit vertrieben. Wir stellten dieses Modell im vergangenen Jahr in den Abbey Road-Studios - wo es einen großen Event gab - mit BAP-Songs vor. Dazu gab es dann auch noch Gäste, die dabei waren, zum Beispiel der Pianist von Springsteen und Sting kam vorbei und spielte mit uns. Es war eine illustre Gästeschar und wer Lust hat, kann sich das im STEINWAY-Haus ansehen. Es gibt auch im Netz eine ganze Menge Bilder zu sehen. Das ist ein ganz toller Flügel, der unabhängig von seinem Aussehen natürlich auch wunderbar klingt, weil er einfach super gebaut ist. Ich habe selbst einen solchen Flügel zu Hause und es war mir eine große Ehre, so etwas zu designen und dieses Baby mit zur Welt zu bringen.
Wenn man so etwas erschafft, ist das ja nicht unbedingt etwas, was man sich nur ins Wohnzimmer stellt, um sich selbst darüber zu freuen. Hast Du denn auch die Gelegenheit, dieses Instrument mal live auf der Bühne zu spielen?
Das haben wir schon gemacht. Ich habe mit Wolfgang schon mehrfach Veranstaltungen gespielt, in denen wir beide allein ein kleines Programm mit Flügel und Akustikgitarre gestaltet haben. In Köln gab es zum Beispiel vor einem halben Jahr eine Veranstaltung der Deutschen Fußballstiftung - eine gemeinnützige Stiftung, die sich der Jugendarbeit widmet - da waren wir beide dabei und spielten auf dem "Sunburst"-Flügel. Es gibt immer wieder Veranstaltungen, bei denen wir gerade dieses Instrument genau dafür nutzen, um es bei gemeinnützigen Dingen zu inszenieren. Als gelernter Instrumentenbauer letztlich bei STEINWAY mit einem eigenen Projekt zu landen, das ist schon eine wilde Achterbahnfahrt ...
Möchtest Du abschließend noch ein paar Worte an die Fans loswerden, die das hier lesen?
Ich freue mich, dass Ihr Interesse an dieser Story hattet und ich freue mich, Euch bald wieder zu sehen. Mit BAP zwar erst 2021, aber wir arbeiten ja an dem neuen SEILSCHAFT-Album und hoffen, es bald fertig zu bekommen und Euch vorstellen zu können.
Michael, womit bist Du im Moment am meisten beschäftigt? Mit der SEILSCHAFT, BAP, Urlaub oder etwas ganz anderem?
Urlaub, ach das wäre ja mal schön (lacht). Nein, Urlaub ist gerade nicht, im Moment komme ich von einer BAP-Tour zurück. Ich war mit BAP in diesem Sommer auf vielen Festivals in Süddeutschland und in der Schweiz unterwegs. Das war eine ganz großartige Zeit, viele Konzerte mit vielen netten Menschen, einem gut gelaunten Wolfgang und unserer großen Bläsersektion, die uns seit letztem Jahr begleitet. Also eine große Band und die Leute hatten viel Spaß daran. Das liegt also sozusagen in meinem Rücken und im Moment bin ich gerade dabei, das neue Album der SEILSCHAFT auf Vordermann zu bringen. Das heißt, wir haben schon eine ganze Menge Songs aufgenommen, rausgeschmissen, umarrangiert und sind mittendrin in der Produktionsphase des neuen Albums.
Dein Kollege Mario Ferraro war ja im Juli letzten Jahres mein Interviewpartner und er hatte schon erzählt, dass da ein neues Album in der Entstehungsphase ist. Wie weit seid Ihr denn?
Ich würde mal sagen, wir sind so im zweiten Drittel. Es dauert einfach noch ein bisschen, es kamen einfach viele Sachen dazwischen, die nicht geplant waren. Ich hatte meine Auszeit und musste mich leider mal für ein paar Wochen mit dem Thema Krankenhaus beschäftigen, da ging es mir nicht gut. Mario hatte auch mal Probleme mit seiner Hand, was für einen Gitarristen natürlich ganz schlecht ist. Auf einmal sind da Sachen, die einen gesundheitlich zurückwerfen, wo man nichts machen kann. Ich hatte eine Operation am Blinddarm, die verlief erst gar nicht so günstig, eigentlich eher miserabel. Und auf einmal war ich für sechs Wochen ruhig gestellt und konnte überhaupt nichts machen. Glücklicherweise fiel das in eine Zeit, in der ich keine Konzerte hatte, ich musste also nichts absagen. Aber das sind eben Sachen, die man mit sich herumträgt. Mal drei Tage Schnupfen oder so, das geht, aber sechs Wochen nicht am Start sein, da verschiebt sich alles nach hinten. Deswegen sind wir da ein bisschen spät dran. Das ist mit der SEILSCHAFT auch recht schwierig, weil wir ja nicht alle in Berlin wohnen. Unser Sänger Christian wohnt woanders, der Saxophonist Andy wohnt teilweise bei seiner Freundin in Norwegen. Also da alle gemeinsam an den Start zu bringen, ist eine logistische Herausforderung, zumal wir ja alle auch mit anderen Projekten beschäftigt sind. Während ich mit BAP unterwegs bin, oder im Studio mit Filmmusik oder bei STEINWAY, bei denen ich ein Projekt vorantreibe, sind die anderen auch mit ihren Bands unterwegs. Es gibt also viele Baustellen und wir bekommen das jetzt nicht so schnell zusammen, da wir auch keine große Firma haben, die sagt, "Jungs, hier habt Ihr mal 50.000 Mark. Nun geht mal vier Wochen ins Studio." Früher war das alles schön, da hatte man das genauso gemacht, heute ist das nicht mehr möglich. Also muss man andere Wege finden ...
Was mich zur nächsten Frage bringt. Ihr seid ja von November bis Dezember auf Tour mit der SEILSCHAFT. Wie bereitet Ihr Euch denn auf so eine Tour vor, wenn das mit dem Personal so schwierig ist, wie Du gerade beschrieben hast? Oder springt Ihr ohne große Proberei ins kalte Wasser, weil Ihr Eure Musik ja aus dem "Effeff" beherrscht?
Na ja, einerseits hast Du recht, es ist eine tolle Band und das Oeuvre von Gundermann, wenn es denn nur um Gundermann geht, ist natürlich in unseren Köpfen verankert. Trotzdem wollen wir ja nicht langweilen und jedes Jahr dasselbe machen oder exakt dasselbe einfach nachspielen. Da würde viel brach liegen, was man mit den Songs anstellen kann. Deswegen müssen wir schon proben, wie jede andere Band auch, die auf Tour geht. Man muss dann einfach Zeiträume finden, wo man mal eine Woche intensiv arbeitet und sich jeder trotzdem vorher auch schon mit dem Material beschäftigt hat, weil wir die Songs umarrangieren, wenn es die Gundermann-Klassiker sind. Oder natürlich, wenn wir neu geschriebene Songs in das Programm einflechten wollen. Die sollen ja auch toll sein, also muss man da schon dran arbeiten, arrangieren, das wieder anders machen, als es auf der Platte sein wird, damit es live-tauglich ist und Spaß macht. Auf alle Fälle müssen wir dafür proben, auch wenn viele Songs im Kopf verhaftet sind, weil sie Klassiker sind. Das muss man wieder hochholen, vielleicht neu besetzen, neue Rollen verteilen ...
Mit der SEILSCHAFT habt Ihr ja fast immer eine volle Hütte, die Leute kommen und feiern Euch. Ist das völlig berechtigt oder eher ein Phänomen, das sich nicht wirklich erklären lässt? Immerhin spielt Ihr ausschließlich Lieder, die schon mindestens 20 Jahre alt sind und das seit Euer Reunion 2010 ...
Ist das berechtigt? Dazu kann ich nichts sagen, ob es berechtigt ist. Wir freuen uns auf alle Fälle. Berechtigt in dem Maße ist es schon, wenn ich sage, dass die Songs oder die Poesie, die Gundermann in den 90ern und teilweise schon Ende der 80er aufgeschrieben hat, etwas eigenartig Eigenständiges ergeben, was man wirklich suchen muss, wenn man Vergleiche anstellen will. Da hänge ich die Messlatte schon ziemlich hoch. In den Texten von Gundermann steckt so viel Energie, eine Heimatverbundenheit, aber nicht nostalgisch wie in der volkstümlichen Musik. Es sind auch wehmütige Blicke, aber sie sind eben nicht nostalgisch und es sind immer Blicke auch nach vorn. Es gibt in den Songs von Gundermann oft ein Hintertürchen oder eine Hoffnung nach vorn, wie es sein könnte und nicht nur eine Zustandsbeschreibung von einem Ist-Zustand. Und das ist etwas Besonderes, das hat glücklicherweise mit Ostrock - wie man ihn heute noch immer nennt - nichts zu tun, weil unsere kreative Phase auch erst 1992 begann. Die Songs, auf die sich alle beziehen, das sind Songs, die er definitiv in der Nachwendezeit oder zur Wende hin bis zu seinem Tod im Jahr 1997 geschrieben hat. Natürlich spielen wir auch Klassiker, die vorher entstanden sind, die aber trotzdem auch schon eine Modernität haben, weil sie einfach aktuelle Themen aufgreifen. "Halte durch" zum Beispiel oder "Grüne Armee" - beides Klassiker. Wenn man das hört, fragt man sich, Moment mal, ist das gerade geschrieben worden, als Greta Thunberg über den Ozean gesegelt ist? Weil es genau das Thema ist, aber der Song ist einfach mal 30 Jahre alt. Es ist meiner Meinung nach eben populär, weil es kein Mainstream-Pop ist, der Jedem gefallen will. Viele Songtexte, die man heutzutage im Radio hört, sind doch irgendwie austauschbar, auch wenn es tolle Sängerinnen, tolle Sänger, also tolle Künstler oder Interpreten sind. Das Liedmaterial ist aber doch recht gleichförmig und da muss ich sagen, dass Gundermann mit seinem Werk recht viel zu bieten hat. Und das ist eben auch live toll umsetzbar, die Leute spüren die Energie, weil wir eben auch die Original-Band sind, die das damals alles mitgeschrieben und mitproduziert hat. Es ist ja nicht so, dass wir die Musik spielen, die jemand anderes erfunden hat, es sind ja auch unsere Songs. Ich habe Songs geschrieben, Mario hat Songs geschrieben. Es wird von vielen, die jetzt diesen Film gesehen haben, gar nicht so wahrgenommen, dass das nicht nur reine Gundermann-Songs sind. Es ist schon ein Gesamtkunstwerk, wobei natürlich vollkommen klar ist, dass Gundermann stilprägend war, es geleitet hat und das Superhirn war und auch immer sein wird. Es wäre vermessen, zu sagen, dass wir da irgendwie auf gleicher Höhe standen, so war es nicht.
Nach dem eben schon erwähnten Interview mit Mario erwähnte einer unserer Leser, er verstünde den Hype um Gundi, Eure vollen Konzerte und sogar diesen Kinofilm aus dem letzten Jahr überhaupt nicht, denn in der 90ern sei Gundermann nur eine regionale Größe gewesen, der nicht selten vor einer Handvoll Leuten gespielt habe. Ich kann da nicht mitreden und konnte auf dem Kommentar nicht antworten, denn ich weiß es nicht. Wie siehst Du das?
Ich kann das nur aus meiner Erinnerung erzählen. Wenn man ihn vergleicht mit Rockstars aus den 90ern, die damals aktuell waren, muss ich demjenigen recht geben. Gundermann hat in den 90er Jahren keine riesigen Hallen gefüllt, es gab damals aus Ostdeutschland überhaupt keine Künstler, die riesengroße Hallen gefüllt haben. Aber Gundermann war ein Typ, der etwas zu sagen hatte. So wie Ton Steine Scherben zum Beispiel. Die füllten auch keine großen Hallen, aber bei ihnen war vollkommen klar, dass sie einen künstlerischen Output haben und vorn dran am Thema sind. Unsere Hallen waren manchmal voll, manchmal nur halbvoll, aber der Kopf war voll mit Botschaften. Wenn derjenige das mit einer Tour von ZZ Top oder AC/DC vergleicht, muss man ihm natürlich Recht geben, denn das hat damit gar nichts zu tun. Die Hallen in unserer Größenordnung, in denen wir spielten, waren voll und die Leute hingen uns an den Lippen, auch wenn die Säle kleiner waren. Und natürlich bekamen wir auch Chancen, die wir nutzten. Zum Beispiel mit Joan Baez oder Bob Dylan vor 6.000 Leuten in der Kieler Ostseehalle zu spielen. Das ist etwas Tolles. Wenn er den Hype nicht versteht, ich kann es nachvollziehen. Das wäre vielleicht ähnlich, wenn ich in Österreich regionale Künstler entdecken würde, die mir überhaupt nichts sagen, weil ich zu Österreich außer als Tourist keine Verbindung habe. Da würde ich auch Sachen entdecken, die auf ihrer Art sehr bodenständig sind, aber in Deutschland kaum gehört wurden. Also ich kann denjenigen verstehen und wenn jemand die Figur und den Film nicht interessant findet, dann ist es eben so. Ich kenne aber auch viele andere, die sagen, wir haben zum ersten Mal einen tieferen Blick in die Welt der verschollenen DDR bekommen und das, was die Staatssicherheit gemacht hat. Da Musik ja nun auch mal geschmacksabhängig ist, kann ich keinem übelnehmen, wenn ihm das nicht zusagt oder er den Hype nicht versteht. Als Hype würde ich es allerdings auch nicht bezeichnen. Es gab einen Film, der Film hat die wichtigsten Preise bekommen und zwar von einer Jury. Natürlich war das bis heute kein Kassenmagnet wie "Honig im Kopf", Til Schweiger-Filme oder "Der Schuh des Manitu". Wenn man es damit vergleichen will, ist es lächerlich, von einem Hype zu sprechen. Es ist ein Film, der kulturpolitisch Aufmerksamkeit bekommen hat, der seinen eigenen Stellenwert hat. Ein Hype in dem Sinne ist es nicht ...
Das erklärt es dem Leser vielleicht, wenn er das nun im Zusammenhang mit Deinem Interview lesen sollte ...
Es ist eine wertvolle Anerkennung dieses Themas, dieses Künstlers, Gundermanns selbst und auch des Films, des Regisseurs, die sich damit beschäftigt haben. Das Wort "Hype" passt da eigentlich nicht hin ...
Kommen wir an dieser Stelle mal zu Dir als Künstler und Musiker. Du bist ja ein gebürtiger Sachse und spielst im Rheinland bei einer Kölschrock-Band. Das ist ja auch ziemlich ungewöhnlich, wie ich finde. Deine Wurzeln liegen in Sachsen und Du bist dort 1966 geboren. Wo genau?
In Borna. Borna liegt im Süden vom Großraum Leipzig, dann kommen drei Dörfer und dann kommt Borna. Borna ist eine klassische Bergarbeiterstadt, hatte damals 25.000 Einwohner und war gekennzeichnet von massenhaft Kraftwerken, Braunkohlentagebau, Dreck, Schmutz, dreckiger Luft und Bergarbeitersiedlungen. Obwohl es ein historisches Städtchen ist, welches eigentlich mit Landwirtschaft, Zwiebel-, Gemüse- und Obstanbau sein Geld verdiente, wurde dort irgendwann die Braunkohle entdeckt und dann wurden praktisch um ganz Leipzig herum riesengroße Tagebaue eröffnet. Das passierte in den 50er und 60er Jahren bis zur Wende hin, mein Vater war als Chemieingenieur auch in diesem Tagebau beschäftigt. Das war also eine Stadt, in der recht wenig Kultur stattfand. Aber ich hatte ein doch recht musikalisches Elternhaus, mein Großonkel war Organist in Leipzig und den umliegenden Dörfern und der brachte mir dann das Klavierspielen bei.
Dir geht es wie mir, die BEATLES-Ära hast Du ja nur gestriffen, denn mit drei oder vier Jahren nimmt man Musik ja noch nicht so bewusst wahr. Ältere Kollegen nennen die Pilzköpfe ja oft als Auslöser für ihre Liebe zur Musik. Was war Dein Auslöser, wer hat Dich zur Musik gebracht?
Die BEATLES nicht, das ist richtig. Die entdeckte ich erst viel später, weil ich zu jung war und außerdem wurden die BEATLES bei uns auch kaum im Radio gespielt. Zur Musik gebracht hat mich natürlich mein Klavierunterricht als Sechs-, Siebenjähriger, meine Mutter, die eine gute Chorsängerin am Theater und auch in der Kirche war und dann später mein vier Jahre älterer Bruder, der sich durch das Radio durchhörte und schon damals abseits vom Mainstream seine Schwerpunkte setzte. So musste ich mir mit jungen Jahren Thomas Dolby, britische B-Singles oder auch THE POLICE in den Anfangsjahren anhören. Also THE POLICE war auf jeden Fall eine meiner stilprägenden Bands. Obwohl kein Pianist dabei war, fand ich diese Band ausgesprochen innovativ, was die mit drei Mann schaffen und habe mir dann bei der Reunion 2005 ein Ticket für Paris schenken lassen, damit ich zum ersten Mal in meinem Leben ein POLICE-Konzert sehe (lacht). Es gab ganz andere Bands und natürlich auch die Konzerte der klassischen Ostbands, die auch mal in Borna Station machten. Borna hatte eine sehr große Freilichtbühne für 6.000 Leute, dort gab es jeden Sommer Open Air-Konzerte und da waren die typischen Verdächtigen alle da. Das hat mich schon angefixt, dort eine Band zu sehen mit allem Drum und Dran. Was die da loszauberten, das war schon großes Kino für mich.
Du hast es gerade erwähnt, ab 1972 und mit sechs Jahren hast Du Klavierunterricht bekommen. War das freiwillig oder der Wunsch der Eltern? Die Ausbildung war ja wohl eher klassisch, oder?
Na ja, wie das so ist: Mama spielt selbst und fragt dich dann als jungen Piepel, "Hast Du nicht mal Lust?", und dann sagst du ja. Aber gar nicht mal auf Druck, sondern weil Musik sowieso in unserem Familienleben eine Rolle spielte. Das zog ich dann auch zehn Jahre durch, aber wenn ich ehrlich bin, die letzten drei, vier Jahre nicht mehr so wollend. Das hatte damit zu tun, dass ich dann eben schon mehr Musik konsumierte und nicht mehr so gern zum Unterricht fahren wollte, weil er weit weg war. Er fand in Leipzig statt und ich war den halben Tag damit beschäftigt, aber andererseits hat mir das total genützt, weil ich dann ja mit Jens Streifling gemeinsam mit unserer Teenie-Band anfing. Da konnte man das alles gebrauchen und da war das dann schon wichtig.
Du sagtest gerade, "... die letzten drei Jahre nicht mehr so". Aber nichtsdestotrotz war Musik immer allgegenwärtig bei Dir. Gab es in dieser Zeit keine Sirene, die Dich woanders hingelockt hat, so jungentypische Ablenkung wie Fußball, Disco, Moped oder ganz klassisch Mädchen?
Nein, überhaupt nicht. Ich fand das sehr gut, mit der Musik zu reisen. Wir hatten ja in sehr jungen Jahren unsere Teenie-Band, unser Schlagzeuger war 14 und wir standen bei der Dorf-Disco auf der anderen Seite. Also unten hat man sich schon die Köpfe eingeschlagen oder wurde von der Polizei um 22.00 Uhr aus dem Weg geräumt, weil Polizeistunde war, und wir standen auf der Bühne, spielten unser zweites Set und konnten nebenbei schon mal einen Gin-Tonic bestellen. Also das war schon ziemlich cool ... (lacht)
Ab Mitte der 70er Jahre kam zum Klavier auch noch der Chorgesang hinzu, wie ich gelesen habe. Worauf lief diese Ausbildung eigentlich hinaus? Das alles klingt ja eher nach Klassik oder Kirchenmusik, als nach Rock'n'Roll ...
Genau, das sind auch meine Fundamente. Ich habe im Bornaer Kirchenchor in der Kurrende - also sozusagen im Teenager-Chor - gesungen, war dort auch Sternsänger. Es ging also um die klassische religiöse Kirchenliteratur und auch im Klavierunterricht geht es natürlich um die Klassiker. Um Mozart, Bach und alles, was dazwischen ist. Und zum Schluss kam auch Neumodischeres hinzu, aber da hatte ich mich schon ein bisschen entfernt ...
Du sprachst gerade Deine erste Schülerband an. Ich nehme an, wir reden da über SCHULROCK. Da heißt es, die soll ab Herbst 1981 aufgestellt worden sein. Eine Schülerband bestehend aus Dir und ein paar Mitschülern. Stimmt das und wenn ja, wie ist diese Band entstanden?
Die entstand, weil es in Borna ein leerstehendes altes Kulturhaus gab und weil es einen Filmvorführer gab. Dieser Filmvorführer hieß Hartmut Lorenz und war praktisch der Initiator von Jugendarbeit im Freizeitbereich. Der sagte sich, wir müssen den jungen Menschen etwas bieten, ich brauche hier mal ein kleines Budget, wir haben ein Kulturhaus, hier steht ein Flügel, hier kann man doch Kultur machen. Abseits von passivem zur Disco gehen, sondern aktiv sein und selbst Musik machen. Er führte dann, auch mittels Anzeigen, interessierte Jugendliche zusammen und auf einmal trafen sich dort sechs, sieben, acht Leute, die alle irgendwie schon etwas konnten. Die waren alle so 14, 15, 16 Jahre alt, der eine konnte ein bisschen Schlagzeug, die nächste konnte etwas singen, der nächste konnte ein wenig Gitarre, manche hatten sogar ein eigenes Instrument, andere nicht. Und so entwickelte sich eine lose Singegruppe aus zehn Leuten, eigentlich also zwei Bands. Daraus formierte sich innerhalb eines halben Jahres durch Lust oder Unlust ein Kern von fünf, sechs Leuten und daraus wurde dann SCHULROCK. Der Manager war dieser Filmvorführer Hartmut Lorenz, der die Sache initiierte und der auch der einzige Erwachsene war. Er war praktisch der Vertreter dieser Band nach außen hin und hat dann auch die ersten Konzerte organisiert. Wir waren ja viel zu jung und zu klein, um zu wissen, was man da tun muss, um so etwas überhaupt hinzubekommen. Natürlich konnten wir unsere Noten spielen und unsere paar Songs, aber mehr hätten wir nicht gekonnt. Also musste es ja jemanden geben, der das macht. Und das war dieser Mann. Ihm ist also zu verdanken, dass es diese Band überhaupt gegeben hat und dass in dieser Bergarbeiterstadt mit relativ wenig Kultur überhaupt etwas passierte.
Er war quasi der Manager?
Genau, er war der Manager. Heute würde man Manager sagen, damals war es einfach ein Filmvorführer in einem leerstehenden Kulturhaus.
Es heißt, dass die Kompositionen neuer Songs immer von Dir und Jens Streifling kamen. Stimmt das und wenn ja, ab wann habt Ihr damit angefangen?
Wir hatten natürlich zunächst erst mal ein Repertoire aus nachgespielten Songs. Englische und amerikanische Klassiker also, aufgrund der Gesetzeslage mussten wir aber auch deutschsprachige Lieder spielen. Es gab eine Regel, ein Gesetz, nach dem man 60 Prozent deutschsprachiges oder Liedgut aus der DDR spielen musste und nur 40 Prozent des Repertoires durfte ausländisches oder englischsprachiges sein. Also waren wir gezwungen, uns umzusehen bei unseren Bands, die wir so kannten, oder selbst Lieder zu schreiben. Da ich Harmonielehre und Gesang gut konnte, fing ich einfach an, bei Jens war das ähnlich. Wir hatten dann einfach den meisten und kreativsten Output. Die anderen haben sich auch daran versucht, sind aber einfach nicht so weit gekommen. Wir waren da recht flott, weil auch Jens im Kopf sehr schnell mit der Umsetzung von Ideen und Instrumenten war. Er wohnte im Nachbarort Kitzscher, ein noch kleinerer Ort, der auch an der Braunkohle hing, und so haben wir oft bei mir zu Hause gesessen. Bei uns stand ein Klavier, er brachte seine Gitarre mit und dann schrieben wir Songs.
Hartmut Lorenz stellte Euch dann ja den Kontakt zu dem damals 11- oder 12-jährigen Schüler Andreas Hähle her, der für Euch dann Texte schreiben sollte und das ja auch tat. Wann und auf welchem Weg habt Ihr Hähle damals kennengelernt?
Das kann ich gar nicht genau sagen, wann und wo es war. Es war einfach so, dass Hartmut im Zuge dieser Bandaufstellung auch weiterhin nach Talenten suchte. Es gab damals - bevor es SCHULROCK hieß - sogar noch zwei andere Sängerinnen, die auch mitmachten. Und noch ein weiterer Schlagzeuger. Also wie gesagt, es waren ja fast zwölf Leute, die da auf der Bühne standen, bevor es zu einer Band zusammen schmolz. Irgendwann kam dann auch Andreas Hähle zur Tür rein, den auch Hartmut Lorenz mitbrachte, weil er in Neukieritzsch - in dem Dorf, aus dem Andreas Hähle stammt - auch Filme vorführte. Ich glaube, das hatte damit zu tun, das Dorf war nur sechs Kilometer entfernt. Andreas war recht offen, hatte Geschichten geschrieben und einige von ihnen haben wir dann gemeinsam vertont. Wir mussten ja irgendwo anfangen und wenn man anfängt, kann man sowieso nicht gleich alles. Man probiert sich also aus und stellt fest, es geht schnell, es geht nicht schnell, kann ich, kann ich nicht. Und umso größer dieser Pool an Leuten ist, die etwas können, umso besser kommt man eben voran. Da war Andreas Hähle auf alle Fälle eine Zeit lang mit dabei.
Wart Ihr als Band nicht von den Socken, dass da so ein junger Bursche schon Texte schrieb, die Ihr verwenden konntet?
Na ja, es war erstaunlich, aber von den Socken waren wir nicht, weil es war ja alles learning by doing. Man machte also einfach und guckte, was dabei heraus kam. Jeder, der etwas in den Topf warf, war einfach eingeladen. Das konnte der Schlagzeuger sein mit einer Idee. Es gab einen Schlagzeuger, der konnte sehr gut Noten und der hatte sich DEEP PURPLE rausgehört, und eines Tages kam der mit einer kompletten Partitur von einem DEEP PURPLE-Medley an, in der alles notiert war. Alle, die Noten konnten, sagten okay, da müssen wir mal gucken, ob wir das hinbekommen. Auf einmal hatten wir ein richtiges DEEP PURPLE-Medley im Alter von 16 Jahren! Das war fertig notiert von dem Schlagzeuger, weil er es konnte. Und dann kam eben Hähle rein und hatte schon ein paar Texte auf Lager. Und dann kam Jens Streifling, der eigentlich jahrelang Klarinette und Gitarre gelernt hatte, und wir redeten darüber, dass er sich doch mal ein Saxophon kaufen sollte. Er kaufte in Leipzig ein Saxophon, übte und auf einmal konnten wir ein Stück von SADE spielen, nämlich "Smooth Operator". Das war ein Hit. Weil einfach die Zeit dafür da war und die Leute fleißig waren und Lust hatten, was zu machen.
Der Hähle schrieb für Euch unter anderem den Text zum Song "Bubi". Damit habt Ihr beim Talentewettbewerb in der Sendung "rund" teilgenommen und diesen auch gewonnen. Kannst Du Dich an diese Aktion noch erinnern? Wie seid Ihr zu "rund" gekommen und wie lief das damals ab?
Es gab den Song und sowohl der Rundfunk als auch das Fernsehen suchten ständig nach Talenten, denn sie wollten ja auch Material haben, welches sie senden können. Sie wussten genau, wenn sie zum fünften Mal die PUHDYS oder KARAT bringen, wird es irgendwann langweilig. Also suchten sie nach Talenten und fanden auch uns. Ich weiß nicht genau, durch welchen Draht das passiert ist. Sie stellten uns ein Budget zur Verfügung, damit wir dieses Lied produzieren konnten. Sie hatten ein Demo gehört, es gab die Fernsehsendung "rund" und es wurde gesagt: "Diese Band hat einen Titel, die müssen wir jetzt ins Studio schicken." Wir hatten ja keinerlei Studioerfahrungen, wir waren einfach zu jung. Also gingen wir nach Leipzig ins Studio, waren zum ersten Mal dort und nahmen den Titel "Bubi" auf. Wir hatten somit unsere erste fertige Aufnahme, wurden zu dieser Sendung "rund" nach Berlin eingeladen und waren zum ersten Mal überhaupt in Berlin. Dort schliefen wir drei Tage im Hotel, wurden abends allerdings im Hotel gar nicht reingelassen, so nach dem Motto: "Was wollt ihr denn hier, wo sind denn eure Eltern?" (lacht) Gerade bei unserem Schlagzeuger, er war 14 und auch nicht so groß wie wir, dem konnte man schon mal für 12 halten. Also wurde er schon mal gar nicht ins Hotel reingelassen. Sehr witzig ... Bis dann der Redakteur der Sendung kam und sagte: "Ja ja, das sind die Künstler, die wohnen hier." Das war eine witzige Zeit, in der wir ganz viel ausprobieren konnten und viel Unterstützung hatten. Auch durch das Fernsehen der DDR und die damalige "rund"-Sendung, in der wir dann noch einige Male auch mit anderen Songs aufgetreten sind.
Wann wurde denn aus SCHULROCK die Gruppe P 16 und warum?
Ich glaube, das war 1983/84. Weil wir natürlich älter wurden. Wir waren dann eben schon 16 oder 17 und hatten auch ein Lied geschrieben, welches "P 16" hieß. Man emanzipiert sich dann schon ein bisschen vom ganz kleinen Teenie sein. SCHULROCK war ja ein Vehikel, um den wirklich ganz jungen zu gefallen und wir wussten, wenn wir jetzt 16, 17 sind, werden wir in zwei Jahren auch schon mal 18 und 19 sein. Also mussten wir uns etwas kümmern, dass der Name und auch die Songs länger halten. Deshalb haben wir uns damals umbenannt. Auch natürlich, weil es das Lied dann gab, in dem es genau darum ging, dass man eben noch 15 ist, ins Kino möchte und es ist ein Film angeschrieben, der erst P 16 ist. Also heute würde man "FSK" sagen. Der war praktisch unser Hit und gleichzeitig auch der Grund für unsere Umbenennung.
Was ich höchst interessant finde ist, dass Du während dieser Phase mit P 16 oder SCHULROCK eine Ausbildung zum Instrumentenbauer gemacht hast. Hast Du diese Ausbildung abgeschlossen?
Ja, habe ich. Das hat damit zu tun, dass es eigentlich eine Überlegung im letzten Moment war. Ein Notgriff sozusagen. Ich war auf einer Schule, da gab es Spezial-Russisch-Klassen, in denen man schon als Kind intensiven Russisch-Unterricht hatte und auch ein Russisch-Abitur bekommen konnte. Das machte ich und hätte dann mit guten Noten studieren können. Die guten Noten hatte ich auch, aber ich war damals stark in der Kirche engagiert. Und in dieser Schule gab es zum ersten Mal in diesem Jahrgang eine Besonderheit, nämlich einen zweiwöchigen Lehrgang zur vormilitärischen Ausbildung. Also kurz gesagt: Größere Schulkinder sollen üben, mit dem Gewehr umzugehen. Also vor der Armeezeit. Da habe ich gesagt, "Das mache ich nicht mit." Aufgrund meiner religiösen Erziehung, meines Elternhauses und meiner pazifistischen Einstellung usw. Daraufhin teilte mir mein damaliger Direktor kurz vor Schuljahresabschluss mit: "Gut, wenn du das machst, wirst du hier kein Abitur erhalten." Also ich wurde quasi von ihm gemobbt oder wie man das ausdrücken will. Das wäre jedoch alles viel zu freundlich, denn es war ja politisch motiviert. Das bedeutete, dass ich trotz meiner guten Noten kein Abitur machen durfte und meine Eltern händeringend in dieser kurzen Zeit einen Ausbildungsplatz für mich suchten. Ich war zu jung und hatte keinen richtigen Plan. Ich wusste, wenn ich hätte studieren können, hätte ich mich für Kulturwissenschaften, Theaterwissenschaften oder für Industriedesign entschieden. Ich ging mit meinem Vater oft zu Ausstellungen, Architektur interessierte mich, Design interessierte mich. Ich fuhr oft nach Leipzig, da gab es Design-Ausstellungen. Das waren so die Ideen, die ich damals hatte. Und auf einmal gab es die Möglichkeit, etwas zu machen, was Handwerk und Musik verbindet. Nämlich Instrumentenbau und das sogar in Borna selbst. Zu dieser Zeit gab es noch die Musikinstrumentenfirma Lindholm. Das war eine klassische Firma, die Harmonium, Spinett und Cembalo herstellte. Diese Firma war sehr berühmt, weil Olof Lindholm schon vor 80 Jahren Instrumente erfunden hat, die überseetauglich waren. Er benutzte ganz bestimmte Kleber, so dass die Instrumente auch nach Amerika, Südamerika und nach Afrika exportiert werden konnten. Harmonien sind ja praktisch Ersatzkirchenorgeln und die wurden dann weltweit in die Gemeinden verkauft. Ich lernte dann, Spinett und Cembali zu bauen, es ging also um Holz. Ich mochte diese Ausbildung, auch wenn sie schwierig war und viel Kraft erforderte. Als junger Piepel hat man ja nicht so wirklich Ahnung und musste gleich ran ans Eingemachte. Da ging es nicht feinfühlig zur Sache, aber wenn ich jetzt zurück schaue, es war eine wertvolle Ausbildung, ich lernte sehr viel über Handwerk, Mechanik, über physikalische Kräfte, über schönes Möbeldesign, Furniere über Hölzer. Das alles war eine schöne Sache in Verbindung mit Musik, denn man stellt ja ein Musikinstrument her. Das schloss ich ab und parallel dazu arbeitete ich weiter mit P 16. Zwei, drei Jahre nach der Ausbildung hörte ich auf, in der Firma zu arbeiten, denn es wurde mit der Band so viel an Terminen, weil wir berühmter wurden. Das Fernsehen kam, der Rundfunk kam, wir traten in Hitparaden und irgendwelchen Sendungen auf, wir machten Tourneen. Auf einmal vertrug sich das nicht mehr mit dem als Handwerker angestellt sein und ich entschloss mich, Musik zu machen.
Ihr hattet mit P 16 vier bis fünf sehr intensive Jahre. Warum ging es 1986 denn nicht weiter und statt Plattenveröffentlichung gab's das Aus?
Nein, es ging ja weiter bis 1989. Wir machten zum Beispiel 1988 noch eine große Tournee, die nannte sich "Super Pop '88". Das war eine Art "Best of Stars", die damals angesagt waren. Die machten eine große Sommer-Tournee und P 16 war die Begleitband für viele Ost-Künstler. Vorne sang zum Beispiel Inka Bause und wir begleiteten sie. Auch IC war dabei. Das machte großen Spaß und war eigentlich unsere Blütezeit, also die Jahre bis 1988. Schwierig wurde es dann ab 1988/89, weil man schon merkte, dass es politisch anders wird und dass wir mit schlichter Pop-Musik, wie wir sie machten - es war ja eine unterhaltende Pop-Musik und keine politisch motivierte Musik, wie zum Beispiel von Punk-Bands aus dem Berliner Raum - nicht mehr wirklich angesagt waren. Das war aber ein ganz normaler Vorgang. Außerdem war ich dann schon wieder anderweitig unterwegs, machte Projekte mit anderen Künstlern. Ich war ein Vierteljahr lang als Ersatzkeyboarder in Russland auf Tournee mit der Band STERN MEISSEN, weil deren Keyboarder Andreas Bicking nicht konnte. Also ab dem Zeitpunkt wurde es für mich vielseitiger, weil ich in die Berliner Szene einstieg, viele Leute kennenlernte, viel im Studio gearbeitet habe und P 16 war zu dem Zeitpunkt einfach nicht mehr zu halten. Die Zeit war einfach abgelaufen ...
Trotzdem hast Du zwischen all dem immer noch Zeit gefunden, 1987 eine Ausbildung an der Musikschule Leipzig zu machen ...
Nein, das wäre jetzt etwas hoch gegriffen. Ich habe mich dort weiter ausbilden lassen, habe dort aber nie einen Abschluss gemacht, weil es einfach mit den Plänen kollidierte, auf Tournee zu sein. Auf einer Musikschule muss man ja wirklich Ortstermine haben und ständig da sein. Die Lehrer fragten dann immer "Herr Nass, wir sehen uns dann am nächsten Donnerstag?" und ich sagte "Nein, nächster Donnerstag geht nicht, da bin ich auf Tournee." - "Auf Tournee?" - "Ja, wir spielen in Erfurt und dies und jenes ..." - "Ach so?" Die waren dann also verwundert, dass ich praktisch als Musiker Arbeit hatte und sie nicht. Ich konnte also gar nicht weiter machen, weil einfach zu viele Engagements da waren, zu viele Möglichkeiten, die ich natürlich nicht ungenutzt vorbei streichen lassen wollte.
Wenn Du heute auf diese Zeit zurückblickst, wie fällt Dein Fazit aus? Hättest Du lieber eine ruhige Jugend, wie andere Kids in Deinem Alter gehabt, oder würdest Du dieses Leben jederzeit noch mal genauso führen wollen?
Ganz klar, ich würde es genauso wieder machen, natürlich mit den dazugehörigen Umständen. Heute sind die Umstände ganz anders, daher kann ich heute nicht unbedingt empfehlen, so etwas so durchzuziehen, weil damals ganz viele Zufälligkeiten eine Rolle gespielt haben, zur rechten Zeit am rechten Platz mit den richtigen Ideen zu sein. Ich weiß nicht, ob das heute so gelingen würde, aber damals hat sich das alles richtig angefühlt.
Warum habt Ihr eigentlich nie eine Platte machen können, gab es nie ein Angebot von AMIGA?
Das ist genau die Frage. Ich hatte mehrere Termine bei AMIGA, sprach dort mit dem Chef und es ging darum, dass wir eine Platte machen. Bis dahin hatten wir Teilmitwirkungen bei "Auf dem Wege" oder auf anderen Platten. Es gab also Termine und man sagte "Ja, vielleicht machen wir das im nächsten oder übernächsten Jahr. Jetzt noch nicht, nun haben wir gerade diese oder jene Band." Die hatten ja auch ihre Fünfjahrespläne, dort wurde also schon Jahre vorher projektiert, wer etwas veröffentlichen darf und wir waren da einfach noch nicht dran. Und ich sage mal, es hätte auch sein können, dass wir ein Jahr später etwas veröffentlicht hätten, aber dann war es zu spät. Wir waren nicht mehr richtig aktiv und dann kam die Wendezeit ...
Weißt Du noch ungefähr, wie viele eigene Lieder Ihr hattet?
Ich denke, wir hatten ungefähr 20 eigene Songs und aufgenommen haben wir ca. zehn Songs. Die befinden sich irgendwo im Archiv vom Deutschen Rundfunk. Mit fünf Songs tingelten wir durch Radio und TV und weitere vier oder fünf waren in der Schublade. Die gibt es aber alle noch irgendwo.
Ihr seid ja speziell in Gera, woher Ihr kamt, eine richtig große Nummer gewesen. Gab es in den Jahren nach 1989 nie die Idee, die Band noch mal für ein besonderes Konzert in Eurer Heimatstadt auf die Beine zu stellen, quasi ein kurzzeitiges Comeback zu feiern?
Nein, nicht wirklich. Jeder ging seinen Weg und teilweise haben die Leute auch gar nichts mehr mit Musik am Hut und zu tun. Das war ja nun keine Band, die ein riesiges Oeuvre hatte und bei der sofort 10.000 Leute vor der Bühne gestanden hätten. So ist man das heute gewohnt, wenn man solche Gedanken äußert. Aber das war bei uns ja so nicht der Fall. Wir hatten unser Publikum, es gab tolle Konzerte mit vielen Leuten, mit wenigen Leuten, alles Mögliche. Aber diese Idee, die stand einfach nie im Raum.
Du bist dann, wenn ich richtig informiert bin, zu MONA LISE gewechselt. Stimmt das?
Genau. Ich zog dann nach Berlin, arbeitete viel im Studio und lernte MONA LISE kennen. Für zwei Jahre war ich der Keyboarder und spielte auch auf der einzigen AMIGA-Platte, die MONA LISE gemacht hat, mit, weil der Keyboarder dort aufgehört hatte. Das war praktisch mein Einstieg in die Berliner Szene.
Das war 1989. Du sagtest gerade, dass auch mit P 16 schon die Veränderungen im Land zu spüren waren. Wie und wo hast Du eigentlich die Grenzöffnung erlebt? Wo warst Du am 9. November 1989?
Das kann ich Dir sagen. Ich saß mit unserer MONA LISE-Schlagzeugerin Tina Powileit am Küchentisch und wir diskutierten über die nächsten Konzerte und natürlich auch über die Reaktionen des Kulturministeriums und der FDJ auf Resolutionen von Künstlern, die sich gegen die damalige Kulturpolitik wandten. Es ging um Grenzöffnung, um Offenheit, um Ehrlichkeit. Da waren ja damals SILLY mit dabei und Tamara Danz war eine Freundin von Tina. Also wir bekamen das alles mit, weil wir uns öfter sahen. Wir diskutierten an besagtem Abend also darüber und dann schauten wir noch mal Nachrichten. Zufälligerweise die Tagesschau und auch die Aktuelle Kamera. Dort hörten wir den Bericht, wo der kleine Versprecher zustande kam: "Ja soweit ich weiß, gilt das ab sofort." Danach setzte ich mich in meinen Trabi und wollte in meine Wohnung. Ich hatte damals eine Wohnung in der Dänenstraße, also 100 oder 200 Meter weg vom Grenzübergang Bornholmer Straße. Unsere Sitzung war zu Ende und ich wollte gegen halb elf ganz normal nach Hause. Wir sahen das und dachten, da geht man jetzt bestimmt zum Amt und nach 14 Tagen bekommt man einen Pass. So etwas war man ja gewohnt. Dass so etwas tatsächlich ab sofort gelten sollte, das hat ja keiner geglaubt und keiner verstanden. Außerdem war das für uns auch nicht ganz so dringend und wichtig, denn wir hatten am übernächsten Tag sowieso unser erstes Konzert in Westberlin. In einem Musik-Club, wo wir offiziell als MONA LISE-Band nach Westberlin hätten einreisen dürfen. Wir waren also schon darauf vorbereitet, dort hinfahren zu können, hatten aber unsere Pässe noch nicht, bzw. sie waren einfach noch nicht gültig. Ich wollte also nach Hause und merkte, ich komme gar nicht nach Hause, weil auf der Bornholmer Straße bis vor zur Kreuzung Schönhauser Allee schon die Autos standen, es waren nur Rücklichter zu sehen und ein Auto nach dem anderen. Da merkte ich, irgendwas ist hier anders und dachte, ich parke mal irgendwo, wo ich noch parken kann. Ich stellte das Auto irgendwo ab und lief nach Hause. Zur Grenze ging es also nicht, ich machte mir was zum Essen und dachte, das ist ja Wahnsinn, was hier los ist. Irgendwie gegen elf lief ich zur Bornholmer Brücke, da war sie schon offen. Ich starrte fassungslos auf die offene Brücke und die hilflosen Grenzsoldaten, die einfach nur zuschauten, wie sich Menschenmassen rüber in den Wedding Bahn schlugen und ging auch rüber. Dort hatte ich eine eigenartige Begegnung, den Typen würde ich gerne noch mal kennenlernen. Ich kann mich erinnern, es war eiskalt, gefühlte minus sechs Grad und auf einmal kommt mir ein Westberliner entgegen. Ein Mann mit einer geöffneten Flasche Henkell Trocken und zwei Sektkelchen aus Plastik. Er rannte auf mich zu, umarmte mich, drückte mich, gratulierte mir, gratulierte uns allen zu dieser Grenzöffnung und wir standen beide - obwohl wir uns nicht kannten - mitten auf der Brücke Bornholmer Straße. Er schenkte seinen Sekt in die Kelche und wir stießen an. Wir unterhielten uns zehn Minuten, dann verschwand ich in der Menge und er auch. Das war eine wirklich eigenartige und sehr emotionale Begebenheit, das war wirklich außerordentlich ...
Vielleicht gibt's den dummen Zufall, diesr Mann liest das hier und meldet sich. Wäre ja schön ...
Ja, wer weiß ... Dann kam ich bis zum Ku'damm, sah mir nachts zwei Stunden lang den Ku'damm an plus Bierhaus ("Bier für alle!!!") ... Ich sah mir alles an, die großen Leuchtreklamen und dann war ich nur noch müde, mir war kalt und ich wollte nach Hause. (lacht)
Fand denn das MONA LISE an dem anderen Tag statt?
Das fand statt und zwar unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Wir hatten ja einen LKW mit ganz viel Technik, und wir sind dann über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße ganz offiziell in Amt und Würden mit unseren offiziellen Pässen rüber, und der Truck wurde durchleuchtet und mit Spürhunden durchkämmt usw., während an uns vorbei die normalen Menschen einfach durchliefen. Die liefen einfach mit Handtaschen, mit Jacken voller Zeug hin und her und wir wurden - obwohl wir nur ein Konzert machten und einfache Musiker waren - praktisch auseinandergenommen. Wir spielten aber ein sehr schönes Konzert in irgendeiner Rock'n'Roll-Hall ...
Man kann aber auch sagen, Ihr seid so besonders, dass Ihr kurzzeitig noch in der Zeit stecken geblieben seid ...
Definitiv. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Zeitfalte für gefühlt einen Monat, die ganz eigenartig war ... Es ging nicht zurück und nicht vorwärts, man steckte fest und konnte den Augenblick nur irgendwie genießen. Es war seltsam, aber auch aufregend zugleich.
Michael, wie hast Du als Musiker die Wende "überwunden"? Zwischen 1990, also dem Ende von MONA LISE, und 1993 habe ich über Dich und Deine Tätigkeit nichts finden können.
Das ist vollkommen richtig. Wie für viele, die im Kulturbetrieb freiberuflich unterwegs waren, gab es auch für mich seltsame Durststrecken oder auch Strecken der Selbstfindung, würde ich mal sagen. Jemand anderes geht zum Arbeitsamt, meldet sich arbeitslos, holt sich Geld ab und muss sich erst mal umorientieren. Das war bei mir nicht anders, nur dass es für Musiker kein Arbeitsamt gibt. Es war auf alle Fälle eine schwierigere Zeit, nach der Wende gab es natürlich für die Bands, die ich kannte, die ich mochte und die wir waren - also MONA LISE - von heute auf morgen nichts mehr zu tun. Und zwar gar nichts. Also MONA LISE war eine bekannte und berühmte Band und hatte immer Konzerte. Sie spielte immer, ständig. Und auf einmal guckst du in den Terminkalender und weißt, dass alle jetzt natürlich auf die Westberliner Waldbühne rennen und sich irgendwas anschauen, aber nicht mehr MONA LISE oder P 16. Das bedeutet, dass du von heute auf morgen einen leeren Terminkalender hast. Da muss man die Zähne schon ordentlich zusammenbeißen oder sich überhaupt erst mal orientieren. Das machte auch ich. Ich war zum Beispiel dann zwei Jahre lang arbeiten, nahm meinen alten Beruf als Tischler/Instrumentenbauer wieder auf und arbeitete in einer Firma in Kreuzberg. Diese Firma stellte Studioausrüstungen her. Also Rock'n'Roll-Cases, Beschläge, Ausrüstungen für Musik- und Fernsehstudios. Ich arbeitete dort also richtig, wie man eben arbeitet.
Na ja, das hast Du vorher als Musiker auch, das ist ja auch Arbeit ...
Ja, aber es ging eben um sieben los und um vier war Schluss. Also ein richtiger Angestellten-Job. Das machte ich eine Zeit lang, teilweise auch nebenher, um mir einen Standard zu erarbeiten, um finanziell unabhängig zu sein. Man weiß ja nicht, wie lange das alles gut geht ... Es gab aber einen glücklichen Zufall und dieser glückliche Zufall heißt Veronika Fischer. Ein Freund von mir, mit dem ich schon jahrelang bei STERN MEISSEN zusammen gearbeitet hatte, Andreas Bicking (Pianist, Saxophonist, Bandleader, der auch viel mit Manfred Krug und Uschi Brüning gemacht hat), stellte eine neue Band für Veronika Fischer zusammen. Veronika Fischer war ja Anfang der 80er nach Westberlin gegangen bzw. dort geblieben und war eine berühmte Künstlerin mit vielen Platten und Auszeichnungen in Ostdeutschland. Und die kam auf einmal wieder. Sie nutzte den Weg also andersherum, kam wieder nach Ostdeutschland, machte viele Konzerte und brauchte dafür eine Band. Also wurde eine Band zusammengestellt und ich war in dieser Band dann von 1990 bis 2000 Keyboarder. Es gab also zwei Keyboarder, einmal Andreas Bicking als Chef, der andere war ich. Und in dieser Zeit spielten wir ganz viele Tourneen und nahmen teilweise auch Platten auf. Das war eine sehr intensive Zeit, so dass ich dann aus meinem Angestellten-Status wieder ins Musikerleben zurück fand.
1993 wurde parallel zu Deiner Arbeit mit Veronika Fischer die SEILSCHAFT als Begleitband von Gerhard Gundermann gegründet. Mit in dieser Band spielten komischerweise auch Kollegen von MONA LISE. Wie entstand diese Band und wie bist Du dazu gekommen?
Das beruhte natürlich darauf, dass ich vorher bei MONA LISE war. Gerhard Gundermann hatte ja vorher schon Alben aufgenommen, bei AMIGA gab es das Album "Männer, Frauen und Maschinen", welches er teilweise mit einzelnen Musikern oder mit der Band DIE WILDERER umsetzte. DIE WILDERER waren wiederum eine Band, bei der der Gitarrist Mario Ferraro mitspielte. Dann hatte Gundermann für SILLY gearbeitet, er schrieb die Texte für deren Album "Februar". Sie waren von seinen Texten begeistert und revanchierten sich bei ihm, indem sie für ihn als Studioband sein Album "Einsame Spitze" aufgenommen haben. Dieses Album wurde 1991 von den SILLY-Musikern aufgenommen, also nicht offiziell als Band SILLY, sondern die Musiker einzeln haben sich verdient gemacht als Arrangeure und spielten die Sachen ein. Sie sagten aber gleich, "Wir gehen nicht auf Tour, denn wir sind ja unsere eigene Band. Dafür musst du dir jemand anderen suchen." Und dann sprachen sie Empfehlungen aus, wer das sein könnte, da sich Gundi natürlich in der Berliner Musikszene nicht so auskannte, denn er kam ja aus Hoyerswerda. Er war nie in Berlin angekommen, wohnte auch weiter in Hoyerswerda und war nur ab und zu mal in Berlin zu Gast. Er suchte also eine Band, es gab Empfehlungen und er wollte unbedingt mit Tina Powileit spielen, einer Frau am Schlagzeug. Dann rief eines Tages Ritchie Barton, der Keyboarder von SILLY bei mir an und sagte, "Hey, du bist doch hier in Berlin und es gibt diesen Liedermacher, der Texte für uns machte, und der sucht eine Band. Ich könnte mir vorstellen, da könntest du doch mal gucken ..." Es gab also diese Empfehlung, die Tina kannte ich ja schon, ihren Mann, den Bassisten Thomas Hergert, dann gab es Mario Ferraro von den WILDERERN. Den kannte Gundermann schon, weil er mit den WILDERERN schon zwei Jahre vorher gespielt hatte. Die hatten schon einige Konzerte gemacht und er fand Mario klasse, weil er so ein STONES-artiger Gitarrist ist. Ja, dann war ich im Proberaum und es gab noch Andy Wieczorek, bei dem wir nicht genau wussten, wer er ist. Den Namen kannten wir und wir wussten, dass der Typ alles Mögliche spielt. So probierten wir uns mehrmals eine ganze Weile im Proberaum aus und irgendwann war Gerhard Gundermann damit glücklich: "Okay, ich glaube, das ist jetzt meine Band. Das ist die SEILSCHAFT."
Im gleichen Jahr - das muss alles ziemlich kompakt gewesen sein, wie es sich liest - entstand ja auch Album "Der 7. Samurai". Mit daran beteiligt waren auch wieder die Kollegen von SILLY, aber auch Ihr als neue Band. Erinnerst Du Dich noch an die Produktion dieser Platte und wie lief das ab?
Ja, unbedingt. Das war 1993 und wir spielten schon seit 1992 das Album "Einsame Spitze" live auf Tour. Das galt es zu promoten, wie man heute sagt. Das machten wir und es stellte sich heraus, das wird die Band sein. Es gab dann neues Songmaterial und wir suchten nach einer Möglichkeit, das Material zu erproben und zu arrangieren. Da gab es die Möglichkeit - ich weiß gar nicht, aus welcher Ecke die kam - dass wir eingeladen wurden von Rio Reiser. Der hatte sich nach Fresenhagen auf sein Landgut zurückgezogen und hatte dort ein wunderbares Studio mit Wohlfühlraum usw. Rio war damals schon angeschlagen und es ging ihm nicht mehr gut. Das wussten wir aber nicht. Auf seine Einladung hin hielten wir uns also zwei Wochen bei ihm auf und konnten in seinem Umfeld die neue Platte erproben und arrangieren. Da übernahm ich die Fäden und fing an, zu arrangieren und auch selbst zu komponieren bzw. Lieder mit Gundi gemeinsam zu schreiben. Damals trauten wir uns noch nicht zu, es selbst zu produzieren und da kamen insbesondere Uwe Hassbecker und Ritchie Barton auf den Plan und sagten "Moment mal, das machen wir. Wir wissen, wie das geht, wir haben das ja beim letzten Album schon gemacht ..." Demzufolge waren die beiden Produzenten, und ich war der Co-Produzent. Bei Martin Schreier, also im Studio von STERN MEISSEN, entstand dieses Album, genau dort also, wo auch schon "Einsame Spitze" entstanden war. Wir nahmen als Band auf und die beiden haben uns unterstützt, arrangiert und sich um die Mischung gekümmert.
Mit SILLY gab es dann ja im November 1994 das legendäre Konzert, welches letztlich auch auf CD und Video erschienen ist. Welche Erinnerungen hast Du denn noch daran? Das muss ja auch ein Mega-Happening gewesen sein ...
Sehr gute Erinnerungen. Eigentlich ist diese Sache anders gelaufen, als man es jetzt sieht. Wenn man sich jetzt damit beschäftigt, sieht man eine DVD oder eine Doppel-CD mit dem Mitschnitt von diesem Konzert im Lindenpark. Das war aber gar nicht das Ziel. Das Ziel war das Neujahrskonzert am 1. Januar in der Volksbühne. Es gab nämlich vorher eine Einladung von Frank Castorf an Gundermann, wir sollten allein in der Volksbühne spielen. Also Gundermann & DIE SEILSCHAFT. Frank Castorf hatte zu der Zeit seine Hochzeit und begann, sich einen Namen als Intendant der Volksbühne zu machen. Daraus wurde dann ein Unplugged-Abend mit SILLY zusammen. Zum ersten Mal sollte es also das Projekt SILLY & Gundermann & DIE SEILSCHAFT zusammen als Unplugged-Konzert in der Volksbühne geben. Akustikgitarren, kein richtiges Schlagzeug, also wie man so einen Singer/Songwriter-Abend eben macht. Die Lieder alle downgegraded, back to earth, wie man heute sagen würde und wenig Schmuck dran. Das war das eigentliche Ziel und dann sagte jemand von Radio Brandenburg "Moment mal, das ist ja ganz toll, das wollen wir haben, dass möchten wir mitschneiden." Darauf sagten wir, "Na ja, dann müssen wir das aber irgendwo mal proben und einmal vorher machen." Und auf einmal generierte sich das Konzert direkt bei Radio Brandenburg, denn die sind ja um die Ecke, im Lindenpark. Das war praktisch deren Aufnahmeort, um das mitzuschneiden. Aber die eigentliche Hauptveranstaltung fand im ehrwürdigen Volksbühne-Theater in Berlin Mitte statt. Nur die wurde eben nicht mitgeschnitten, sondern quasi der Probeabend davor. (lacht) Ich glaube, das war ca. vier Wochen vorher, irgendwann im November ... Es waren zwei denkwürdige Konzerte, man sieht zum letzten Mal noch mal Beide auf der Bühne stehen und wenn man das Lied, in dem es über den Abschied geht und die Katze, die noch mal wiederkommt, da wird einem auch heute noch ganz warm ums Herz. Ganz eigenartig, denn eine solche Art von Prophezeiung wünschte sich keiner und daran glaubte auch niemand.
Weitere Alben sind entstanden, dann ohne Hilfe von anderen Musikern und Bands, also Gundi und Ihr habt dann alles allein auf die Beine gestellt. Wie war der kreative Prozess damals aus Deiner Sicht? Wie entstanden neue Songs und Platten? War das ein gemeinsames Erschaffen oder ließ sich Gundi in seine Vorstellungen nicht reinreden?
Nein, das war eine wirklich fruchtbare Zusammenarbeit. Natürlich hatte er Vorstellungen wie jeder, der sehr weit geht in seinen Gedanken, und das ist auch völlig berechtigt. Das ist bei Wolfgang Niedecken genauso, aber trotzdem gibt es ja eine Band, die es umsetzen will und auch umsetzen muss. Dann muss man schon den ganzen Kosmos von außen sehen, dass er zusammen hält. Das ist ganz wichtig. Wir haben so zusammen gearbeitet, dass Mario Musiken geschrieben hat, ich habe Songs geschrieben, darauf hat Gundermann getextet. Es gab aber auch fertige Songs von ihm, ich war damals Produzent des Albums, wo ich die Songs noch mal auseinandergenommen und umarrangiert haben, so dass sie einen Weg fanden, um auf die Platte zu kommen. Also dass man einen Anschlusspunkt an die anderen Alben hatte und es einen roten Faden gibt. Wir haben damals wieder bei Martin Schreier im Studio Wilhelmshagen aufgenommen. Das war ein wunderbarer, enger kreativer Prozess. Wir hatten - glaube ich - vier Wochen Zeit für alles und haben dann dort aufgenommen, dort gemischt. Teilweise mischten wir selbst, teilweise hatten wir Tonmeister dabei. Da war alles möglich. Wir haben - wie gesagt - Songs verworfen, oder Songs in drei verschiedenen Versionen aufgenommen, um alles auszuprobieren, bis dann alle glücklich sind und natürlich Gundermann selbst auch. Denn er musste es ja vertreten. Auch heute würde man das so machen, wenn man eine Live-Band aufnimmt, nur dass heute alles in viel kürzerer Zeit fertig sein muss. Damals hatte man etwas mehr Zeit, um eben auch A- und B-Varianten auszuprobieren.
Das Jahr 1998 war von einem tragischen Ereignis überschattet. Euer Frontmann Gerhard Gundermann verstarb. Wie geht man mit so was um, wenn plötzlich ein Freund und Kollege weg ist und die Band damit eigentlich von jetzt auf gleich nicht mehr existiert?
Es war ziemlich grausam. Wir trafen uns nämlich am nächsten Tag bei Mario im Studio. Mario Ferraro unterhielt damals zusammen mit zwei Kollegen ein professionelles Tonstudio in der Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg. In diesem Studio hatten wir schon mehrere Vorproduktionen für das Album gemacht und an diesem Tag wollten wir uns treffen, um ernsthaft am neuen Album - welches dann nie aufgenommen wurde - zu arbeiten. Also Ideen auf den Tisch zu bringen, schon mal aufzunehmen und zu verfeinern. Wir trafen uns im Studio und wunderten uns, dass niemand kam. Also der Chef kam nicht. Irgendwann gegen Mittag oder Nachmittag rief dann Paula Seidel an, die damals unsere Managerin war, und sagte "Du, der Gundi, der kommt nicht." - "Wie, der kommt nicht?" - "Nein, der kommt überhaupt nicht mehr. Er ist gestorben." Das war ein sehr emotionaler und schlimmer Tag, weil auch von heute von morgen von dem Projekt, welches gerade Aufwind bekommen hatte, nichts mehr übrig blieb. Da war nichts mehr da. Es war ja so, die letzten Jahre ging es langsam aufwärts, es interessierten sich andere Plattenfirmen dafür, dann kam 1995 natürlich - wie auch im Film zu sehen - seine Stasi-Mitarbeit heraus, aber die Leute waren trotzdem angetan von der Musik, kauften die Platten und kamen zu den Konzerten. Es sollte also weitergehen, das starb nun mit einem Mal ab und es gab natürlich überhaupt keinen Grund mehr, mit der Band weiterzumachen. Denn die Band war natürlich ein Sprachrohr von Gundermann und wenn Gundermann nicht da ist, muss es die Band nicht mehr geben. Und deshalb gab es die Band auch für 10 oder 11 Jahre nicht mehr. Es machte erst wieder Sinn, als der Verlag und das Label BuschFunk, welche sämtliche Rechte an den Gundermann-Liedern haben, dann ein Erinnerungskonzert für Gerhard Gundermann in der Berliner Columbiahalle machten und uns einluden, dort mit zu machen. Da fragten wir uns, "Wollen wir das, können wir das und wie würden wir das überhaupt machen?" Das war eigentlich der Anfangspunkt, an dem wir darüber nachdachten, wer singt die Lieder usw. Und ab diesem Zeitpunkt ergibt sich eine neue Geschichte der Band SEILSCHAFT, aber in dem Moment, als er 1998 starb, war an so etwas überhaupt nicht zu denken.
Dein Einstieg bei BAP kam ja erst ein Jahr später. Wie ging es denn direkt im Anschluss speziell bei Dir weiter?
Na ja, das hat indirekt schon damit zu tun, dass Wolfgang die Ost-Szene natürlich auch schon ... ich will nicht sagen, gekannt hat, aber sich für deren Inhalte interessiert hat. Er ist ja ein Mensch, der sehr danach geht, wie ehrlich Songs sein können oder wie Typen sind, die auf der Bühne stehen. Als Gundermann gestorben war, war das ja eine richtig große Schlagzeile, es kam in den "Tagesthemen", es kam in allen Nachrichten. Das hatte Wolfgang mitbekommen und sich auch ein bisschen mit dem Material beschäftigt und dann war es so, dass in seiner eigenen Band zwei Leute ausstiegen. Das war Ende 1998 und ein halbes Jahr später hatte ich Wolfgang Niedecken am Telefon und er sagte: "Du bist doch der Keyboarder von dem Gundermann, ich habe Gutes über Dich gehört, auch durch Jens Streifling." Jens Streifling war ja vor der Wende ausgereist, fasste in Köln Fuß als freier Musiker und lernte dort auch Wolfgang Niedecken kennen. Durch Jens Streifling wusste er also von mir und er wollte sich zu dem Zeitpunkt nicht wieder Kölner Musiker in seine Band holen. Die kannte er alle und er wollte irgendwie neues Blut, so hatte ich den Eindruck, und er konnte sich vorstellen, dass ich mal vorbei komme. Gerade mal ein halbes Jahr später hatte ich Wolfgang am Telefon und er lud mich ein, mal mit ihm Tee zu trinken und mal darüber zu reden, wie es denn wäre und was ich denn für ein Typ sei usw. Das war Weihnachten 1998 und dann habe ich mich im neuen Jahr nach Köln begeben und saß dann mit einer praktisch schon neuen BAP-Band und auch einem neuen Gitarristen - den ich aber auch schon kannte, denn er war der Gitarrist von Wolf Maahn und die Wolf Maahn-Band fand ich schon immer ganz toll. Das war Helmut Krumminga. Da saß ich also mit der neu formierten Band bei Wolfgang am Küchentisch und dabei ging es darum, sich selbst vorzustellen, wer man ist, woher man kommt, welche Erfahrungen man hat, was man liebt, was man gut findet in der Musik. Das war so eine Art Tuchfühlung, was taugt diese neue Band? Daraus gestaltete sich dann ein "Übungslager", Wolfgang beraumte ein zweiwöchiges Probelager in der Eifel an. Dort hat Wolfgang ein Haus und dort gab es eine sehr schöne Probemöglichkeit in einer alten stillgelegten Schule. Dort haben wir im Winter zwei Wochen lang hardcore geprobt. Also wirklich das ganze BAP-Repertoire hoch und runter und da musste man ein bisschen zeigen, was man so drauf hat und dass man sich damit beschäftigt hat, dass man es technisch und klanglich spielen kann, aber andererseits auch inhaltlich dazu steht und ob man es auch singen kann. Ich singe ja auch Chor bei BAP und arrangierte auf Platten und bei Live-Konzerten mit. Man muss also schon ein bisschen mehr tun ...
Du musstest Dir quasi eine neue Fremdsprache aufdrücken ...
Ja, aber das bringt einem Wolfgang dann schon bei. (lacht) Aber Du hast schon Recht, es war für mich eine Art Fremdsprache. Aber wenn man Chor singt, kann man ja auch phonetisch rangehen. Aber man muss den Inhalt kennen und was man da ausruft, sollte man schon wissen ... (lacht)
Schon das Album "Tonfilm" von BAP im Jahr 1999 hast Du mit eingespielt. War das eine der ersten Amtshandlungen, war das direkt nach diesem Probetrainingslager oder wie man es nennen möchte?
Genau so war es. Das Probelager war fertig und Wolfgang sagte "Ich rufe dich nächste Woche an und sage dir Bescheid, was daraus geworden ist." Ich fuhr nach Hause nach Berlin und eine Woche später sagte er mir: "Pass auf, es wird folgendermaßen sein. Du bist der neue BAP-Keyboarder und wir werden ein neues Album aufnehmen und zwar das Album 'Tonfilm'. Das machen wir in einem Tonstudio in Südfrankreich. Näheres bekommst du von meinem Manager zu hören." Dann bekam ich irgendwann Flugtickets von Berlin nach Paris, von Paris nach Montpellier und dort nahmen wir im Mai innerhalb von zwei oder drei Wochen das Album "Tonfilm" auf. Und das war auch gleich eine Herausforderung, denn es war eine obercool eingespielte Band und es wurde alles live eingespielt. Es gab damals natürlich auch schon Pro Tools, aber das Prinzip war: "Wir spielen hier alles live ein, das muss knacken." Da wird nicht drei Mal dran rumgeschnippelt und dort noch mal ein Solo und da noch mal dieses und dort noch mal jenes rein gemischt. Wir hatten auch gar nicht die Zeit dafür, weil auch gleich gemischt werden musste. Das war schon eine Herausforderung, mit einer neuen Band und vor allem mit einer tollen Sheryl Hackett, die damals noch die Chorsängerin und Percussionistin war, zu spielen. Das war schon ein anderes Level.
War der "Major" damals auch noch dabei?
Nein, das war ja der Grund. Der "Major", Klaus Heuser, der auch ganz viele erfolgreiche Songs geschrieben hatte, war zwar nicht der Stammgitarrist von BAP, vor ihm gab es auch schon andere, aber er prägte eine bestimmte Ära, nämlich die 80er und die 90er, in denen er mit seinen Songs bzw. seinen Ideen, Songs so zu arrangieren, zum Erfolg beitrug. Er war ausgestiegen und hatte auch gleich den Keyboarder mitgenommen. Sie stiegen also beide aus und deshalb wurde Platz für den neuen Gitarristen Helmut Krumminga und für mich frei.
Deine erste Komposition, die bei BAP auf einer Platte gelandet ist, war der Song "Istanbul" auf dem Album "Aff un zo". Stimmt das oder gab es vorher schon Kompositionen, die Du bei BAP beigesteuert hast?
Also ich steuerte schon vorher Sachen bei, indem ich arrangierte und neue Fassungen eingespielt habe. Auf dem "Tonfilm"-Album gibt es zum Beispiel das Instrumental "Koot füür aach". Das gibt es - glaube ich - in zwei Versionen. Ich wurde gebeten, zu dem Stück eine Klavierimprovisation mit Saxophon zu machen, also mit Jens Streifling. Ich setzte mich hin, hatte zwei Stunden Zeit, mir etwas auszudenken und dann wurde auf Record gedrückt. Das war praktisch meine erster kreativer Output auf dieser Platte. Also ich schrieb das Lied nicht, sonderte arrangierte und interpretierte es neu. Dann hast Du Recht, "Istanbul" müsste das erste von mir sein, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob auf dem Album nicht noch etwas anderes von mir drauf ist. Aber es kann sein ...
War denn von Anfang an klar, dass Du dort bei BAP im Bereich Songwriting und Arrangements tätig sein würdest, als Du zur Band gestoßen bist oder kristallisierte sich das erst im Laufe der Zeit heraus, dass Du auch auf diesem Gebiet und neben Deiner Arbeit an den Tasten ein wichtiger Teil der Kapelle werden kannst?
Die Möglichkeit stand von Anfang an offen, aber ich konnte sie natürlich nicht von Anfang an nutzen. Wenn du drei Gitarristen in einer Band hast, also Wolfgang, Helmut und Jens, dann hast du nicht so gute Karten als Keyboarder, weil es eine Rockband ist und da wird natürlich auf der Gitarre geschrieben. Und wenn drei Leute Output an Kreativität haben, ist das zahlenmäßig schon echt überlegen. Deswegen kristallisierte sich das erst später heraus und ich konnte meine Chancen auf den folgenden Alben nutzen.
Nun feierst Du ja in diesem Jahr Dein 20. Jubiläum bei BAP. Gab es dafür schon die obligatorische goldene Uhr, die bei einem solchen Jubiläum betriebsintern sonst üblich ist?
(lacht) Nein, es gab keine goldene Uhr. Es gab ein herzliches Anstoßen und Feiern und es gab natürlich eine Huldigung, wie das bei BAP gemacht wird. Das ist schon passiert, denn das entsprechende Datum lag bereits im Mai. Als wir unsere Sommer-Tournee anfingen, dachten wir alle - und ich am lautesten - daran, ich bin jetzt 20 Jahre dabei. Und Wolfgang fasste sich an den Bart und sagte "Das kann doch nicht sein, 20 Jahre ..." Ja ja, es ist schon ein Wahnsinns-Zeitraum, den man damit verbracht hat.
Seit 2011 gibt es auch DIE SEILSCHAFT wieder. Du gehörst seitdem auch wieder zur Besetzung, Du spielst mit der Band Konzerte, es wird ein neues Album geben, es gibt also neue Verpflichtungen. Gab es mit BAP und Wolfgang keine Interessenskollisionen?
Nein, überhaupt nicht. Wolfgang fragt eher nach und sagt, "Hey, wie ist das mit der Band, wann spielt Ihr denn da mal? Ich will das mal sehen." Er interessiert sich dafür, er sah sich auch mit seiner Frau den Gundermann-Film an, fand ihn ganz toll und ist nun noch mehr eingestiegen in das Vorleben von mir, also in meine Vergangenheit vor BAP, und hat sich jetzt noch ein anderes Bild machen können von mir und von dieser Zeit. Er findet das total interessant, auch wenn er auf vielen Gebieten ja unterwegs ist. Aber das gehört ja zu unserer Diskussionskultur dazu, man will sich ja nicht nur über BAP unterhalten. Also das findet er schon toll und natürlich gibt es trotzdem Überschneidungen, denn BAP nimmt in einem Jahr viele Wochen ein und mit dem SEILSCHAFT-Projekt will ich auch Konzerte machen. Da hat man manchmal schon etwas Stress und muss versuchen, Konzerte neu zu organisieren. Das lässt sich leider nicht vermeiden.
Aber so weit gekommen, dass irgendwo schon mal eine Vertretung einspringen musste, ist es noch nicht?
Doch, dazu kam es schon, aber das ist auch überhaupt nicht schlimm. Es gab bei der SEILSCHAFT in der Vergangenheit ein oder zwei Konzerte und da hat dann ein alter Freund ausgeholfen, den Gundi auch schon selbst kannte, nämlich der Keyboarder der Band DIE WILDERER. Ein guter Freund, der das ganz klasse macht und auch Musikwissenschaften an der Humboldt-Uni doziert.
Im Jahr 2011 hatte Wolfgang Niedecken ja bekanntlich extreme gesundheitliche Probleme, er erlitt - glaube ich - zwei Schlaganfälle. Kam in diesem Moment bei Dir nicht alles aus dem Jahr 1998 wieder hoch, was waren deine Gedanken, als Du das gehört hast?
Da hast Du vollkommen Recht, das war auch so. Ich habe einfach für mich feststellen müssen, dass dasselbe noch mal passieren kann. Man sagt ja immer so, das passiert nicht zwei Mal im Leben, doch es passiert zwei Mal im Leben. Glücklicherweise aber nicht genauso, weil Wolfgang einfach unheimlich viel Glück hatte. Glück mit der Wahl seiner Ärzte, Glück mit seiner Ehefrau, die die richtigen Entscheidungen getroffen hat, Glück auch mit seiner wahnsinnigen Eigenenergie, die ihn da wieder herausgeholt hat. Dass wir ein halbes Jahr später eine komplette Tour 1 zu 1 nachholen würden, das hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht. Im November wurde alles abgesagt, das waren 30 oder 35 Termine. Ein halbes Jahr später war Wolfgang wieder auf der Bühne und wir haben gespielt. Das war Wahnsinn ... So eine Wiedergeburt, das ist traumhaft. Er hatte großes Glück, aber auch einen unheimlichen Willen, das zu überstehen. Das zeichnet Wolfgang aus, eine gehörige Portion Eigenenergie bei solchen Fragen oder in solchen Stresssituationen ...
Die ganze Situation stellte sich für Außenstehende wie ein hektisches Umherlaufen dar. Ich erinnere mich noch dran, wir hatten Genesungswünsche auf unserer Seite und da fiel natürlich das Wort "Schlaganfall". Da hieß es dann, das müsse sofort herausgenommen werden, man ginge wegen des Wortes "Schlaganfall" im Zusammenhang mit Wolfgang Niedecken sogar juristisch vor. Hast Du davon etwas mitbekommen?
Nein, davon bekam ich nichts mit, aber ich kann das schon verstehen. Man muss schon warten, bis derjenige selbst dazu ein Statement abgibt und wenn jemand vorher Behauptungen oszilliert und veröffentlicht, die nicht durch den Betroffenen gedeckt sind, dann kann das schon Verleumdung sein. Man muss - trotz einer vermeintlich guten Quelle - echt aufpassen, was man damit sagt. Denn es gibt ja einen rechtlichen Hinderungsgrund, so etwas zu veröffentlichen. Ich kann das verstehen, man muss damit vorsichtig sein, denn einmal abgestempelt mit irgendwas, hat man es schwer, da wieder raus zu kommen. Da sollte derjenige, den es betrifft, es schon selbst sagen. Ich bekam es damals aber nicht mit, wir waren irgendwie zu viel mit uns selbst beschäftigt ...
Die Band heißt ja seit einigen Jahren - ich glaube, früher hieß sie auch schon mal so - "Niedeckens BAP", was ja eine klare Ansage ist, wessen Band das ist. Fühlt man sich da dann plötzlich eher als Angestellter, mehr als Bandkollege oder ist das im Prinzip egal, welchen Namen das Kind trägt?
Du hast recht, die Band hieß ganz am Anfang so, dann hieß sie der Einfachheit halber nur noch BAP und nach der erneuten Umbesetzung, die wir vor fünf Jahren hatten - also der Ur-Schlagzeuger Jürgen Zöller hatte aufgehört und Sönke Reich kam hinzu - machten wir ein neues Produkt und eine neue Tour. Das war BAP unplugged, aber die Tour hieß nicht so, sondern "BAP zieht den Stecker". Mit dieser Tour zogen wir durch die Konzerthäuser, durch Philharmonien, zum Beispiel das Leipziger Gewandhaus, also es wurden keine Rockbühnen bespielt. Wir spielten ganz leise, es gab Akustikgitarren und Flügel, Geige, Percussion-Instrumente und es gab auch einen neuen Gitarristen, weil Helmut Krumminga aufgehört hatte. Das nahm Wolfgang Niedecken zum Anlass, sich zu besinnen und zu sagen "BAP war ja ganz früher eine sich wandelnde Band mit einem großen Pool von Musikern, ich möchte das weiter so beibehalten" und nannte das Ganze dann "Niedeckens BAP." Nun kann man natürlich sagen, ich wünsche mir mein altes "BAP" zurück, aber als Musiker macht man in dem Augenblick genau dasselbe, wie in den anderen Jahren auch und da er die Namensrechte hat, ist es seine Marke. Es ist sein Produkt, seine Erfindung, es geht um seinen Vater - BAP heißt ja nichts anderes, als Papa. Es sind alles seine Geschichten und er kann damit eigentlich machen, was er will. Ich hätte es schön gefunden, wenn es bei BAP geblieben wäre, weil es einfach für alle noch klarer ist, aber er wollte es so gern so, er wollte es wieder nach Hause bringen. Er ist ja - wenn man es genau nimmt - auch die letzte Konstante, das darf man ja auch nicht vergessen. Genau, er ist die letzte Konstante, weil alles sich um ihn herum bewegt, modernisiert oder auch jünger wird und deswegen will er noch mal sagen: "Moment mal, das ist mein Ding hier ..."
Kommen wir mal zu etwas ganz anderem: Du und ich, wir sind ja ungefähr im gleichen Alter, uns trennen vier Jahre. Wir sind noch mit Schallplatten- und Single-Veröffentlichungen groß geworden. Wie siehst Du als Kreativer und als Musiker diese Entwicklung in der Musik, dass physische Veröffentlichungen mit unserer Generation wahrscheinlich aussterben und Neuerscheinungen bald wohl nur noch digital in Umlauf geraten werden. Wie stehst Du dazu?
Ich stehe kritisch dazu. Das heißt, ich finde es sehr schade, wenn es keine physischen Tonträger mehr geben sollte. Ich meine, in den letzten Jahren gibt es wieder einen Aufwärtstrend bei Vinyl für Sammler und auch für DJs. Obwohl es ja viele digitale DJ-Plattformen gibt, gibt es Dinge, die mechanisch und physikalisch eigentlich besser funktionieren. Es gibt einen Grund: Weil in einer kurzlebigen Zeit wie heute, etwas in der Hand zu halten, von dem man sagen konnte, das ist meins, ich erinnere mich daran, es sieht so aus, ich kann es anfassen, ich kann es ins Licht halten, es gehört mir, ich besitze es. Das ist ja mittlerweile kaum etwas, was es noch gibt. Das fängt beim Auto an, die wenigsten besitzen ein Auto, sie leasen es, sie borgen es sich, man wird dazu animiert, es so zu tun, man soll nichts mehr besitzen. Eine Wohnung besitzt man nicht, man mietet sie schon immer. Und so geht das beim Musikkonsum auch voran. Einerseits finde ich es schade, weil ein Wert verloren geht, nämlich dass man ein Kunstwerk in der Hand hält. Vielleicht weniger bei den letzten "Mallorca-Hits", aber wenn ein Künstler ein halbes Jahr an einem Produkt gesessen hat, sei es ein Bildhauer oder ein Maler, dann gibt er der Sache einen Rahmen, lässt den Rahmen weg und sagt. "Das ist mein Werk. Das kostet 10.000 Euro oder 3.000,00 oder 480,00. Das ist mein Werk, so will ich es sehen, so will ich es haben und so stelle ich es dar und wehe, es kommt einer und verändert etwas. Das ist mein Werk und es hat einen Wert. Ob du ihn siehst, ob du es kaufst, ist deine Sache. Aber es hat für mich einen Wert." Durch das digitale Bereitstellen und durch den mittelmäßigen Verzehr von Musik durch minderwertige Kopfhörer, Player, MP3-Formate usw. weiß man ja nicht mehr, was von der komponierten, produzierten und designten Musik, an der man sehr lange gesessen hat, beim Zuhörer ankommt. Das heißt, es geht einem als Konsument an Wert verloren und man erkennt auch nicht mehr den Wert an sich. Ist es das wert? Soll ich dafür bezahlen? Bei einer Vinyl-Platte, die ein aufwendiges Cover hat, bei der ein Künstler optisch etwas geschaffen hat, der Musiker akustisch, beide bringen vielleicht etwas auf einen neuen Höhepunkt, bei dem 1 und 1 mehr ist, als zwei, dann sagt man, "Wow, das Album muss ich haben. Das Doppelalbum von PINK FLOYD, das ist ja Wahnsinn, was ich da alles sehe, was ich da alles lesen kann." Oder ein älteres BAP-Album, oder meinetwegen ein Live-Album mit tollen Fotos, aus denen man großartige Emotionen auftanken kann. Das verschafft einem einen komplexen Genuss, für den man natürlich etwas bezahlen soll. Aber man sagt dann okay, das ist es mir wert. Und das war es mir damals als Teenager auch wert. Ich bin als Teenager mit 14 nach Budapest gefahren, weil es in Ostdeutschland keine West-Platten gab und habe mir für umgerechnet 120,00 Mark - das war utopisch viel Geld - das neue POLICE-Album als Vinyl gekauft. Und mein Bruder hat sich noch eine Platte einer Punk-Band und ich noch eine von Thomas Dolby geholt. Wir wussten, das ist unser Schatz, unser Heiligtum. Das werden wir nicht hergeben und das haben wir dann wochenlang hoch und runter gehört, weil es uns das wert war und wir das wollten. Wenn ich dann heutzutage die Streams habe, die mich 9,99 Euro kosten, und ich die Musik nur noch minderwertig durch einen MP3-Quäk-Player oder schlechten Kopfhörer höre und dann wird es vielleicht nur noch mono gestreamt, weil es eben ein iPhone oder ein Phone überhaupt ist, das ist alles entsetzlich. Und da fragt sich dann jeder berechtigt, "Das soll ich auch noch bezahlen???" Weil es ja nichts mehr ist, es ist nicht greifbar, es schwebt durch die Luft, wird irgendwo abgespielt, irgendwo unterbrochen und dann kostet das ganze 9,99 Euro und dafür sind zehn Millionen Songs zu haben. Und jetzt kommt die andere Seite zum Tragen: Was bekomme ich als Musiker von diesen 9,99 Euro? Also ich persönlich im Moment nichts. Wenn ich so eine Abrechnung bekomme, ist die lächerlich, sie ist mittlerweile weniger wert, als das Porto, welches die Post verlangt. Okay, nun kann man sagen, "Es ist deine eigene Schuld, wenn du nicht bei Peter Gabriel, Sting oder Rihanna spielst, dann mach' doch so 'ne Musik." Und da sage ich dann wiederum, die Leute, die das machen, die gibt es ja schon. Ich mache etwas, was vielleicht für die Gegend hier wichtig ist oder wichtig sein kann, und ich arbeite mit Künstlern zusammen, die hier ihren Stellenwert haben und möchte auch gern so entlohnt werden, dass ich davon - wie jeder andere - auch normal leben kann. Und das ist durch diese Abrechnungsformen, durch diesen Verkauf, durch dieses Digitalisieren von Musik nicht mehr möglich.
Kaufst Du denn selbst noch Platten, also Schallplatten?
Ich kaufe CDs. Ich kaufe immer noch gern CDs, letztens Gregory Porter - ganz toll - oder Klassiker, die ich immer noch nicht habe, obwohl ich denke, ich habe schon 'ne Menge. Also, ich kaufe CDs ...
Abseits Deiner Tätigkeit bei BAP und der SEILSCHAFT hast Du seit zwei Jahren noch ein weiteres Projekt. Vielleicht kannst Du das an dieser Stelle noch etwas vorstellen?
Ja, das mache ich sehr gern. Man kennt es aus der Gitarrenwelt, es gibt Signature-Modelle von verschiedenen Künstlern, die mit einem schönen Schriftzug versehen werden und die auch so klingen, wie der Künstler es vorsieht. Das gibt es auch bei Schlagzeugen. Ich fing vor zwei Jahren an, gemeinsam mit der Firma STEINWAY aus Hamburg, die hochwertige Flügel herstellt, ein Signature-Modell zu entwickeln und das machte ich gemeinsam mit Wolfgang Niedecken. Wir haben praktisch in Hamburg zum ersten Mal weltweit einen STEINWAY-Flügel entwickelt, der "Sunburst" heißt. Das "Sunburst"-Design ist eine Farbgebung, die es seit Mitte der 30er Jahre gibt und die schönsten und fettesten Gitarren, die man sich vorstellen kann, die sich zwischen dunkelbraun, honigfarben bis ins Rot bewegen, nennen sich "Sunburst". Ganz viele Gitarren-Heroes, die man aus den letzten 50 Jahren kennt, haben eine "Sunburst"-Gitarre. Gemeinsam mit Wolfgang Niedecken starteten wir vor zwei Jahren in Hamburg ein Projekt und versuchten, dieses Design auf einen Flügel zu übertragen. Das hat zwei Jahre Entwicklungsarbeit gekostet, ich war sehr oft in Hamburg, habe dort mit Lackierern über die Schwierigkeiten gesprochen, diese Farbgebung auf einen Flügel zu bringen und dieses Modell - man kann es sich auch online ansehen - gibt es seit einem Jahr bei STEINWAY zu kaufen und wird weltweit vertrieben. Wir stellten dieses Modell im vergangenen Jahr in den Abbey Road-Studios - wo es einen großen Event gab - mit BAP-Songs vor. Dazu gab es dann auch noch Gäste, die dabei waren, zum Beispiel der Pianist von Springsteen und Sting kam vorbei und spielte mit uns. Es war eine illustre Gästeschar und wer Lust hat, kann sich das im STEINWAY-Haus ansehen. Es gibt auch im Netz eine ganze Menge Bilder zu sehen. Das ist ein ganz toller Flügel, der unabhängig von seinem Aussehen natürlich auch wunderbar klingt, weil er einfach super gebaut ist. Ich habe selbst einen solchen Flügel zu Hause und es war mir eine große Ehre, so etwas zu designen und dieses Baby mit zur Welt zu bringen.
Wenn man so etwas erschafft, ist das ja nicht unbedingt etwas, was man sich nur ins Wohnzimmer stellt, um sich selbst darüber zu freuen. Hast Du denn auch die Gelegenheit, dieses Instrument mal live auf der Bühne zu spielen?
Das haben wir schon gemacht. Ich habe mit Wolfgang schon mehrfach Veranstaltungen gespielt, in denen wir beide allein ein kleines Programm mit Flügel und Akustikgitarre gestaltet haben. In Köln gab es zum Beispiel vor einem halben Jahr eine Veranstaltung der Deutschen Fußballstiftung - eine gemeinnützige Stiftung, die sich der Jugendarbeit widmet - da waren wir beide dabei und spielten auf dem "Sunburst"-Flügel. Es gibt immer wieder Veranstaltungen, bei denen wir gerade dieses Instrument genau dafür nutzen, um es bei gemeinnützigen Dingen zu inszenieren. Als gelernter Instrumentenbauer letztlich bei STEINWAY mit einem eigenen Projekt zu landen, das ist schon eine wilde Achterbahnfahrt ...
Möchtest Du abschließend noch ein paar Worte an die Fans loswerden, die das hier lesen?
Ich freue mich, dass Ihr Interesse an dieser Story hattet und ich freue mich, Euch bald wieder zu sehen. Mit BAP zwar erst 2021, aber wir arbeiten ja an dem neuen SEILSCHAFT-Album und hoffen, es bald fertig zu bekommen und Euch vorstellen zu können.
Interview: Christian Reder
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