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Ein Beitrag von Christian Reder



Vor einigen Jahren tauchte ein seltsamer Virus auf, der von der Wissenschaft bis heute noch keine Bezeichnung bekommen hat. Er befiel den Menschen, der gestern noch in den Plattenladen gehen und sich dort Vinyl und/oder CDs kaufen konnte. Er schwächte die Muskulatur so sehr, dass der Infizierte nach kurzer Zeit noch nicht einmal die Kraft in Armen und Beinen aufbringen konnte, um den Weg vom Sofa oder Sessel zum Plattenspieler bzw. CD-Player zu schaffen, um dort einen Tonträger aufzulegen.001 20200516 2091513575 Aber niemand muss mehr das Gewicht einer Platte oder CD stemmen, sich mühsam aus dem Sessel popeln und auch nicht mehr so weit bis zum Phono-Schrank humpeln, denn dank Streaming-Diensten braucht man heute nur noch seine Finger und ein funktionierendes Smartphone. Alles für die Bequemlichkeit des Kunden, der sich doch nicht grundlos anstrengen soll. Ganz wunderbar kann eben dieser Kunde nun für 'n Appel und ein Ei aus 50.000.000 Alben Lieder hören und muss sich um nix mehr Sorgen machen. Ok, die Kreativen - Musiker wie Autoren - sind bei diesem Geschäftsmodell die Dummen, weil eine Gruppe cleverer Mitesser hier vorgeschaltet ist und den größten Teil der Kohle einsackt, aber davon bekommt der infizierte Kunde ja nix mit. Davon abgesehen ... Den Musikanten bleibt ja noch die Möglichkeit, ihr Geld mit Auftritten im Fernsehen und auf den Live-Bühnen des Landes zu verdienen. Und da wird man ja auch zum Millionär, wenn man es richtig anstellt. Ähm ... Und dann kam COVID 19, der nächste Virus, der den Musikanten den vor vielen Jahren noch als Traumberuf empfundenen Job und das Ziel, sich von seiner Arbeit ernähren zu können, zum Alptraum macht.

Es fühlt sich an, als sei man schon monatelang ohne das Grundnahrungsmittel "Live-Musik" in dieser komischen neuen Welt unterwegs. Für mich war die Mugge von Stoppok in Gelsenkirchen am 4. März die letzte Gelegenheit, mich mit frischen Zutaten direkt vom Erzeuger zu versorgen. Danach wurde der Markt deutschlandweit geschlossen und es gab ausschließlich "Dosenfutter". Kacke! Jetzt sitzen wir alle da, hatten teilweise schon Tickets für die nächsten Konzerte oder Pläne, wie und wo wir im Sommer draußen im Freien den Klängen unserer Lieblinge lauschen wollten, und warten weiter darauf, dass es wieder losgeht. Die Lockerungen im Bereich der Kulturszene liegen aber noch immer in weiter und unerreichbarer Ferne, und die von ihren Tonträger-Verkäufen nicht mehr satt werdenden Musikanten sitzen weiter komplett auf dem Trockenen. Ich wiederhole mich gerne: Kacke! Aber erfinderisch waren die Deutschen ja schon immer, und wer in Sachen musikalischer Schöpfung schon voller Ideen steckt, der hat auch in Zeiten von virusverursachten Auftrittsverboten einen Plan, wie es weitergehen könnte. "Streaming-" und "Autokino-Konzert" sind die Zauberworte dieser Tage.

Eins der ersten Konzerte im Internet (oder war es sogar das Erste?) kam von den STEINLANDPIRATEN. Das war gleich im März nachdem der Stecker gezogen wurde, und zu dem Zeitpunkt eine richtig pfiffige Idee. Den Fans war es zudem eine willkommene Abwechslung im durch den Shut-Down und allen möglichen Verboten und Einschränkungen eintönig gewordenen Alltag. Insgesamt war es aber kein Ersatz, denn Patti und Karsten hatten während ihres Konzerts kein direktes Gegenüber und wir am anderen Ende der Leitung nur den Klang aus rappeligen PC-Boxen bzw. dem mobilen Endgerät. Soundtechnisch war das nix für den Feinschmecker. Es ist wie mit der Pizza.002 20200516 1198805488 Man kann dienstags ruhig einmal zu der aus dem Tiefkühlfach greifen, den Besuch am Wochenende bei Enzo, Luigi, Salvatore oder wie auch immer der lokale Pizzabäcker heißt, ersetzt sie nicht vollwertig. Von wem auch immer die Idee mit dem Streaming-Konzert kam, diese Option wurde in der Folge munter von anderen Musikern und solchen, die behaupten, welche zu sein, (aus)genutzt. Da stolpere ich bei YouTube unlängst in eine Übertragung hinein, über die ich im Nachgang außer mit einem Therapeuten gar nicht wirklich reden möchte. Aber nachdem ich mich aus meiner die Knie fest umarmenden und leicht wippenden Haltung vom Fußboden gelöst habe, versuche ich es an dieser Stelle doch mal, denn es soll als Beispiel dafür dienen, dass alles kann, aber nicht wirklich alles auch sein muss. Da sitzt eine schlechte Dieter Birr-Kopie mit seiner mitmusizierenden Lebensgefährtin und präsentiert unter dem interaktiven Beifall seiner Fangemeinde eine gruselig dargereichte Nummer nach der anderen. Der Ton war dabei ebenso unterirdisch wie das Bild, war unter 'm Strich aber passend zu dem, was da gespielt wurde. Dies schien aber wohl nur bei mir so angekommen zu sein, denn die sich im parallel zum "Konzert" laufenden Chat befindlichen Menschen kommentierten das Ereignis mit einer bunten Auswahl an Superlativen, die mir dazu im Traum nicht eingefallen wären. Jedenfalls stümperte sich das Duo - der Sänger Klampfe spielend und die Gespielin Cajon'ierend - über die volle Länge der Übertragung, dabei aber nicht vergessend, im Hintergrund einen Banner mit dem Link zu einem Bezahlservice zu platzieren, über den man den beiden in diesen kriselnden Zeiten doch ein paar Euro für das nächste Schnitzel und einen Eimer Kartoffelsalat stiften konnte. Eine insgesamt irritierende Inszenierung, die mich in den Grundfesten meiner bis dahin noch vorhandenen Hoffnung an das Gute in der Musikwelt erschütterte, die bei Teilen der Internetwelt aber doch irgendwie zu funktionieren scheint. An jeder Ecke und Kante finden nun Streaming-Konzerte statt. Manch eins mit erstklassiger Performance wie das der STEINLANDPIRATEN, manche so unterirdisch mies, dass man sich nur schwer zurückhalten kann, den PC mit samt Monitor nicht aus dem Fenster zu werfen und sich anschließend einer Gruppe Mönche in einem abgelegenen Kloster anzuschließen. Für jeden Musiker aber der kürzeste Weg zu den Fan, auch wenn es wirklich KEIN Ersatz für eine echte Mugge ist.

Eine andere Möglichkeit ist die, seine Fans in ein Autokino zu locken und ihnen dort, wo sonst Spiderman und die Minions auf der Leinwand ein paar Stunden für kurzweiligen Frohsinn sorgen, das musikalische Programm live zu präsentieren. Das Prinzip ist dabei ganz einfach: Vorn tritt wie bei jedem Konzert ein Künstler auf. Vor der Bühne steht oder sitzt aber kein Publikum, sondern dieses befindet sich - immer mit zwei Personen - in Autos, und bekommt über eine Radiofrequenz die Musik über das Autoradio ins Kfz transportiert. Klingt so, als könne man auch eine Live-CD einlegen und diese während einer schönen Überlandfahrt ganz entspannt im Autoradio hören.003 20200516 1173174161 Richtig, nichts anderes ist das hier auch, mit dem Unterschied, dass statt einer schönen Landschaft beim Blick aus dem Fenster vorn die Band oder der Solist zu sehen ist. Ach ja ... bei der Überlandfahrt hätte Mann/Frau dann auch nicht das Abenteuer, sich zum Pipimachen zuerst anmelden zu müssen, um dann wegen der strengen Hygieneauflagen nach einer mittellangen Wartezeit der Reihe nach und nur allein die gekachelten Räumlichkeiten aufsuchen zu dürfen. In der vergangenen Woche wurde dieses Konzept im TV vorgestellt. Es zeigte eine Veranstaltung irgendwo in Niedersachsen, bei der der Parkplatz einer Großraum-Diskothek zur Location wurde, auf der ein DJ auflegte und als Gast ein Ballermann-Schlagersänger ein paar seiner großen Werke vortrug. Das anwesende Publikum in seinen Autos - auf den ersten Blick überwiegend junge Menschen, die ihre Freizeit sonst abends in kleinen bis mittelgroßen Gruppen an der Tankstelle am Ortsausgang verbringen - war komplett aus dem Häuschen. Auch das mit dem Pullern nach Terminvergabe hat wohl prima hingehauen. Kein Wunder also, dass dies Nachahmer findet, sogar dort, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. So geht demnächst auch eine namentlich hier nicht näher genannte Band ins Autokino, die noch vor ein paar Jahren eine ganz andere Klientel angesprochen hat. Mit lyrischen Texten und feinen Arrangements zogen sie Ohren und Blicke auf sich. Ihre Konzerte waren immer ein Feiertag für die Leute im Saal, die von Sound und Vortrag gleichermaßen angetan waren. Wie man gerade das mit den Voraussetzungen eines Autokinos qualitativ auch nur annähernd in Einklang bringen will, dürfte spannend zu beobachten sein. Möglicherweise werden dort nur die Sachen vorgetragen, die in den letzten Jahren des orientierungslosen Umherirrens entstanden sind, dann würde das ja wieder passen. Wir werden es hier aber nicht erfahren, da wir so einen Zirkus nicht mitmachen werden. Auch diese Option, seinen Output im Autokino ans Ohr der geneigten Hörerschaft zu bringen, ist für Leute, die wegen des Sounds auf ein Konzert gehen, wenig attraktiv. Dazu kommt, dass die Musik aus dem Autoradio zum Preis eines Konzerttickets gereicht wird, dabei gibt es Live-CDs in vielen Shops für weit weniger Geld. Und NEIN, die aktualle Situation entschuldigt wirklich nicht jede blöde Idee!

Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, um in diesen Zeiten an Live-Musik zu kommen. Da wäre z.B. die des Balkonkonzerts. Man suche sich einen Kumpel oder Freundin, die in einem großen Mietshaus mit Balkon wohnt, und in dessen/deren Haus sogenannte Balkonkonzerte stattfinden. Dabei stellen sich Musiker auf ihren eigenen Balkon und spielen auf dem von ihnen erlernten Instrument Lieder für die Nachbarn. Eine richtig tolle Sache, die aus Bayern kommt, habe ich gestern entdeckt, nämlich die "Gartenzaun-Gigs". Sie sind eine Erfindung der Sängerin Cathy Smith und des Pianist Michael Herrmann aus Pfaffenhofen. Sie kommen mit ihrem Instrumentarium bei Euch zu Hause vorbei und spielen live vom Anhänger runter. Man bucht das Duo für einen bestimmten Termin ganz einfach über deren Homepage www.gartenzaungigs.de. Ein Auftritt der beiden dauert etwa 45 Minuten; die Lieder-Auswahl kann man auf ihrer Seite selbst zusammenstellen, und es werden vor Ort nur ein Parkplatz und ein normaler Stromanschluss benötigt. Schon ist die Gartenzaun-Mugge startklar, der neben dem, der die Musik bestellt hat, auch die Nachbarn von ihren Grundstücken aus beiwohnen können. Es sind kein langes Auf- und Abbauen, keine Security und auch kein Aufstellen von Dixi-Klos notwendig. Ein solcher Gig kostet 250 Euro inklusive Mehrwertsteuer und ist für meinen Geschmack gerade die spannendste Alternative zu den "echten" Konzerten, die uns alle so fehlen.

Egal, für welche Alternative Ihr Euch entscheidet ... wir sind uns sicher alle darüber einig, dass jede der hier erwähnten Auftrittsformen gut gemeint, aber keine ein wirklicher Ersatz ist! Möge der schlechte Traum mit dem Virus schnell ausgeträumt sein, damit die Säle wieder öffnen und die Plätze wieder für Konzerte genutzt werden können. Und zwar rechtzeitig, bevor Bühnen und Künstler ihr Tun einstellen müssen, weil es sie nicht mehr ernährt. Der Großteil unserer Künstler hätte übrigens jetzt kein solches Problem, wäre die Kundschaft nicht von dem eingangs beschriebenen Virus befallen, der sie geizig und bequem gemacht hat. Denen, die uns mit Kunst versorgen, wurde durch das gedankenlose Verhalten und dem Wunsch, wirklich alles so bequem wie irgend möglich haben zu müssen, schon vor Corona ein Ast ihres Einnahmebaums abgesägt. Vielleicht sorgt jetzt der neue Virus auch dafür, dass der erste nachträglich bekämpft werden kann und es ein anderes Konsumverhalten geben wird. Ansonsten wäre auch das kacke!




   
   
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