voltaire2009 20130104 1852929799 Titel:
Label:
VÖ:

Titel:

"Das letzte bisschen Etikette"
Rough Trade
Mai 2009

1. Ganz normal (Prolog)
2. So still
3. Die gute Art
4. Hier
5. Wenn du gehst
6. Sollichlassich
7. Ich verliers
8. Zu was
9. Interlude
10. Was ich will
11. Das Haus das ich dir versprach


Als der Verfasser dieser Zeilen am 26. April diesen Jahres das Hamburger Konzert eines seiner Jugendidole, John Watts (Ex-"Fischer-Z"), mitsamt dessen aktueller Combo "The CB's" (inkl. seiner supersüßen, 20jährigen Tochter Millie Watts, die als Hintergrundsängerin fungierte), besuchte, traute er seinen Augen und Ohren nicht, als er Johns Vorband bzw. - neudeutsch gesagt - "Support Act" erstmals in seinem Leben sah und hörte. "VOLTAIRE" nennt sich eine junge Band aus dem Raum Köln/Bonn - zwei (von insgesamt fünf) Musikern - Roland Meyer de Voltaire (voc, git) und Marian Menge (Tasteninstrumente, Xylophon (!)) - beide höchstens Mitte 20 - begeisterten uns Alt80er-John-Watts-Fans mit einer grandiosen Deutschrock-Darbietung voller Energie, Dynamik und Ehrlichkeit.
Kurz nach Ende der Konzertreise mit "Mister-Fischer-Z", begaben sich "VOLTAIRE" in klassischer Rockbesetzung (voc, git, b, dr. key) auf eine eigene Tournee durch dieses, unser Land, um ihr brandneues (insgesamt zweites) Album "Das letzte bisschen Etikette" (Rough Trade) ausgiebig vorzustellen. So gastierten Roland und die Seinen am vergangenen Mittwoch (13.05.2009) in der schummrigen "Prinzenbar", einem ehemaligen Kino am Rande der Reeperbahn zu Hamburg-St. Pauli.
Wie soll man die Stilistik der fünf jungen Wilden uss Kölle am Rhing am Besten beschreiben? Hier fließen Elemente aus klassischem, vorantreibendem Rock, kessen Alternative-Spielereien, heftigem Punk, mystischen Gothic-Klängen, lautem Gitarrenrock, unerwarteten Tempo-Wechseln, "Hamburger Schule", unüberhörbarer Hymnik a la Springsteen und sensiblen Balladen zusammen, die, verbunden mit überwiegend philosophischen, bildreichen, oft verbal ausufernden, zumeist melancholischen, nachdenklichen Texten, eine eindeutig prickelnde faszinierende Melange aufbieten, die "VOLTAIRE" zu einer DER Deutschrock-Hoffnungen der ausgehenden "Nuller-Jahre" werden lassen könnte.
Die fünf Rheinländer tragen enormes kreatives Potential in sich und haben m.E. eine große Zukunft vor sich, zumal ihre breit gefächerten Klangkaskaden, sowohl die junge Generation "20plus", als auch uns überzeugte 80er-Jahre-Puristen unterschiedslos ansprechen.
Gegen 21.40 Uhr betraten zunächst der überaus charismatische und stimmstarke Sänger Roland, nur mit einer elektronisch verstärkten Akustikgitarre behangen, sowie Multiinstrumentalist Marian, die kleine, aber feine Bühne der "Prinzenbar" und versetzten die rund 60 - mehrheitlich weiblichen - Zuschauer innerhalb der ersten Minuten ihres Auftritts sogleich in hellste Verzückung.
Im Vordergrund standen natürlich die Songs von "Das letzte bisschen Etikette". Dieses prägnante, außergewöhnliche, gleichermaßen hitträchtige Opus - fast alle Titel daraus kamen beim Hamburger Auftritt von "Voltaire" zum Einsatz - möchte ich an dieser Stelle einwenig ausführlicher analysieren!
Sympathisch quergedacht, beginnt das 11-Song-Album mit dem als "Prolog" ausgewiesenen Mid-Tempo-Hardrocker "Ganz normal". Es folgt der eilige, schnelle Hymnus "So still", der seinen Liedtitel klanglich mittels drastischer, fetter Gitarrenwälle auf kongeniale Art und Weise ad absurdum führt.
Die aktuelle Single von "Voltaire" erklang auf dem Konzert erst gegen Ende dessen. Sie nennt sich "Die Gute Art" und brilliert mit phantastischen Wortspielen der Sorte "Sag mal / ist das / die Gute Art / Faschist zu sein?"… eine kryptische Nummer über eine DOM/DEV-Beziehung?? Auf jeden Fall ein wundervoller, leicht nervöser, schlagzeugbetonter Titel, der musikalisch, wie lyrisch, fraglos das Zeug zum Kulthit hat, aber fürs langweilige Formatradio m.E. (weil zu anspruchsvoll und inhaltlich zu vertrackt) gänzlich ungeeignet ist.
"Hier", im mittleren Tempo gehalten, hat hinsichtlich der musikalischen Umsetzung etwas dralles, energetisches, gleichsam abgeklärtes, trauriges an sich - eine Geschichte über einen Menschen, der seinen Weg offenbar noch nicht so ganz gefunden hat: "Ich geh hier weg / frag nicht wohin / das weiß ich auch erst / wenn ich da bin". Letztlich eine Art 2009er-Sichtweise von Heinz Rudolf Kunzes herausragendem 1988er-Evergreen "Meine eigenen Wege".
Ein klassisches Abschieds- und gleichsam Willkommenslied stellt der brodelnde Gitarrenrocker "Wenn Du gehst" dar: latent amerikanisch arrangiert, von einem unverhofften, walzerähnlichen Part zum Coda geführt, melancholisch/abgeklärt/sehnsüchtig in einem interpretiert - ein enorm schönes, gefühlvolles Liebeslied anno Domini 2009, das aber auch schon vor 20 Jahren, zur Hochphase von Deutschrock und Deutschpop, hätte ein Hit werden können.
Extrem sparsam instrumentiert, entfernt an "Kiss" von Prince erinnert das baßlastige "SollichLassich" - ein Text über einen in sich zerrissenen Menschen, der nicht genau weiß, ob er aus sich rausgehen soll oder doch lieber brav und bieder bleiben möge.
Mit einem Kaminfeuer-kompatiblen, schnuckeligen Piano-Intro beginnt die grandiose Rockballade "Ich verliers", die sich immer mehr in Richtung eines monumental arrangierten Rockdramas steigert, während die hintergründige Absage an Zeitgeist und übertriebene Autoritätsgläubigkeit "Zu was" unverkennbar an die Grunge- und Alternative-Ära der frühen bis mittleren 90er Jahre gemahnt, kraftvoll vor sich hin losdröhnt und - wie man so schön sagt - "hinter vorgehaltener Hand" zur Anarchie aufruft: "Tu was Du willst / Es ist eh alles untersagt / Und das wirst Du immer spüren / wenn Du für alles um Erlaubnis fragst"...
Auf ein 17sekündiges, pianistisches "Interlude", folgt die Amokläufer-/Versagerode "Was ich will"; erneut ein krosser Gitarrenrocker, mit der radikalen Intensität etwa von Springsteens "Born to Run" ausgestattet, aber selbstverständlich im Sound des Hier und Heute inszeniert.
Mit der schier herrlichen, perfektest formulierten, über fünfminütigen Liebeserklärung "Das Haus, das ich Dir versprach" (Textzitat: "Sie kommen von Herzen / der Kopf ist abgestellt / glaub meinen Worten / ich glaub sie mir nämlich selbst") endet eine DER besten, trefflichsten, anspruchsvollsten deutschen Rock-Produktionen des Jahres 2009.
Wies der CD-Einstand von "Voltaire", "Heute ist jeder Tag" (2006, Universal), noch die gewohnten "Kinderkrankheiten" von Debütalben auf, so haben die fünf Jungs mit "Das letzte bisschen Etikette" ohne jegliche Zweifel ein frühes Meisterwerk vorgelegt, das garantiert dafür sorgen wird, daß die sympathische Truppe noch eine lange Zukunft vor sich hat.
‚Live' kommen "Voltaire" übrigens wesentlich druckvoller und "echter" rüber, als auf eben analysiertem Studioopus. Der Drive, der Elan, die Power eines Bruce Springsteen oder anderer forscher US-Rocker standen bei ihrem über einstündigen Konzert auf dem Hamburger Kiez durchgehend und pausenlos Pate. Etwas bedauerlich war jedoch - wofür die Band selbst allerdings nichts kann - die Tatsache, daß die Betreiber der "Prinzenbar" einfach so, ohne Ankündigung, vor den geplanten letzten beiden Zugaben, mir nichts, Dir nichts, das Licht ein- und die Anlage ausschalteten, nur, weil danach noch eine Discoparty dort stattfinden sollte. Dies zeugt fraglos von einer gewissen Arroganz einer - bekanntlich hochtalentierten - Nachwuchsband gegenüber. Aber gut, Roland und Marian ließen sich nicht vergackeiern - und präsentierten die zwei ausgesuchten Songs eben "unplugged" im Backstage-Bereich ihren hingerissenen Fans.
Außerdem: Aufgrund der hohen Qualität seiner Musik, dürfte das Quintett aus dem Rheinland eh bald wesentlich größere Hallen füllen, so daß es Schikanen seitens Miniclubs nicht mehr über sich ergehen lassen muß!
Gesamtwertung - CD: 1
(Holger Stürenburg)

 


   
   
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