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Ende der 80er Jahre schien es manchem interessierten Beobachter so, als verfiele der begnadete Deutschrocker und Wortakrobat HEINZ RUDOLF KUNZE schonungslos dem massenkompatiblen Radiopop. Die lauen Produktionen "Einer für alle" (1988) und "Gute Unterhaltung" (1989) boten mehr Schatten als Licht, und nicht wenige Texte ließen die vorherige Bissigkeit und Trefflichkeit des studierten Germanisten/Philosophen HRK missen; auch traten (gesellschafts-)politische, kritische Ausführungen unverzeihbar in den Hintergrund.
Herr Kunze hatte mit dieser kommerziell zwar durchaus rentablen, qualitativ aber überaus fragwürdigen Vorgehensweise auch bei einem Beinhart-Fan, wie dem Verfasser dieser Zeilen, deutlich an Faszination und Überzeugungskraft eingebüßt.
Hätte er diesen Weg weiter beschritten, hätte er soundsoviele langjährige Anhänger verstoßen, wäre er zwar vielleicht in den Genuß des einen oder anderen "BRAVO"-Starschnitts gekommen, hätte aber Dank dieses Tuns leicht als "Mathias Reim für Gymnasiasten" stranden können.
So MUSSTE letztendlich die Wende zurück zu DEM Kunze gefunden werden, den wir bis 1986/87 so liebten und schätzten. Der erste Schritt dorthin nannte sich "Brille", erschien im Frühjahr 1991, rockte teilweise wieder ganz schön drauflos, beinhaltete zudem veritable experimentelle Elemente; HRK's altgewohnte lyrische Genialität wurde wiederum deutlich - und selbst die radiokompatiblen (Single-)Titel bewiesen hohes Niveau und sympathische Bodenständigkeit. Heinz hatte mit "Brille" dem vergänglichen "Middle of the Road"-Pop zum Glück endgültig Lebewohl gesagt - und das war auch gut so!
"Brille" kam nun vor kurzem, wie gleichzeitig die bereits an dieser Stelle analysierten Scheiben "Dein ist mein ganzes Herz" (1985) und "Wunderkinder" (1986), als "Remastered DeLuxe Edition" bei Heinz' früherer Plattencompany Warner Music Group rundherum erneuert auf den Markt. Heiner Lürig, sein langjähriger Gitarrist/Komponist, peppte die elf Titel des Originalalbums klanglich auf und fügte diesem Repertoire fünf ganz und gar nicht unspannende Bonus-Titel hinzu.
Es war eine reine Freude, als die durch "Einer für alle"- und "Gute Unterhaltung"-geschädigte Fangruppe, zu denen sich auch der Rezensent zählte, damals die ersten Takte des Eröffners von "Brille" vernahm: Dezent an Glam Rock bzw. frühe "Roxy Music" gemahnend, dröhnten die Gitarren wie junge Götter, erklang eine nette, total zum musikalischen Kontext passende Jahrmarktorgel; ein treibendes Schlagzeug trieb die temporeiche Melodie voran - inhaltlich wurde wiederum ätzende Zeitgeist-Kritik geübt; der Künstler brillierte mit so phantastischen Sätzen, wie "Wenn das hier schon das Leben ist / was machen dann die Toten? / Wer kennt sich hier aus / Wer hilft mir hier raus / Aus der Verschwörung der Idioten?"
"Die Verschwörung der Idioten" leitete eine Produktion ein, die einen guten Startschuß abgab, für die Reanimierung des ORIGINÄREN Heinz Rudolf Kunze.
Track 2 von "Brille" gilt bis heute als einer DER Live-Klassiker schlechthin und ertönt seit seinem Entstehungsdatum auf nahezu jedem HRK-Konzert: "Wenn Du nicht wieder kommst", ein wiegender, schneller Boogie/Rock'n'Roll-Ohrwurm bester Güteklasse; ein dralles Liebeslied, das von einem Mann berichtet, der sich nichts sehnlicher wünscht, als daß seine Große Liebe, den Beschluss, ihn verlassen zu haben, revidiert, und eben möglichst bald "wiederkommt". Die dreiköpfige, aus Irland stammende Bläsersektion "The Rumour Brass", die zuvor mit Koryphäen der Sorte Graham Parker, "The Clash", "Katrina & the Waves" oder Shakin' Stevens gespielt hatte, veredelte gerade diesen Titel durch ihr fettes Gebläse - und verleiht diesem Ewigkeitshymnus dadurch einen ganz besonderen Charme.
Bis heute ist es Tradition, daß bei Kunze-Auftritten, sobald die Band nach dem Hauptteil des Programms die Bühne verlassen hat, die begeisterten Fans nicht etwa nur banal "Zugabe, Zugabe" rufen, sondern stattdessen lauthals anstimmen: "Wenn Du nicht wiederkommst / Wenn Du nicht wiederkommst"!
Einige der Textzeilen aus dem Evergreen hatten seinerzeit, im Frühjahr 1991, für den Rezensenten und dessen damaligen Lateinkurs eine spezielle Bedeutung. Unsere Lateinlehrerin, Frau Murati (Gott hab sie selig!), befand sich wegen einer Krebserkrankung auf Kur - und wurde durch einen nicht gerade mitreißenden Vertretungslehrer ersetzt. So sangen wir gerne mal "Mein Latein ist am Ende / Frau Murati (im Original: "mein Verstand") ist auf Kur"… und flehten geradezu nach ihr: "Wenn Du nicht wieder kommst"...
Als "eine Ballade, die keine ist", wird im CD-Beiheft die wundervoll überzeichnete, 50er-Jahre-angehauchte, wiederum bläserverstärkte Schlagerparodie "Alles gelogen" vollkommen zutreffend bezeichnet. Ein alterndes Ehepaar lebt sich zunehmend auseinander… ER, leicht devot geprägt, macht ihr immer wieder Komplimente, die zur Routine erstarrt sind - bis er eines Tages aufsteht und ihr radikal ins Gesicht sagt, daß dies doch eigentlich "Alles (nur) gelogen" war, all die vielen, vielen Jahre lang… bis beim letzten Refrain der Chor das ganze Gefühlsspektakel perfektest konterkariert. Denn nun heißt es auf einmal: "Alles gelogen / All diese Jahre / DIE VOR UNS LIEGEN" - was schlußendlich bedeutet, daß er sie, trotz aller Widrigkeiten, niemals mehr wird loslassen können. Ein phantastischer Plot, von HRK in so grazilen, sensiblen, wie stechenden, sarkastischen Worten hervorragend lyrisch umgesetzt.
Mit dem, vermutlich vom damaligen Irak-Krieg geprägten "Kriegstanz" konnte ich niemals viel anfangen. Der zweifellos gelungene Text, geschrieben aus der Sicht eines brutalen Militärs/Feldherrn, wird untermalt von einem kaum als Melodie erkennbaren, dröhnendem, bedrohlichen schlagzeug-/percussion-Gewitter, das durch kreischende E-Gitarren noch verstärkt wird - ganz persönlich, hielt ich dieses Klangdrama von jeher für einen ungemütlichen, stilistischen Bruch im ansonsten doch so stimmigen Konzept des hier vorgestellten Albums. Mich erinnert diese Drastik, Radikalität und letztlich "Unmusikalität" des "Kriegstanzes" einwenig an "Desire" von "U2" - auch mit diesem, klanglich ähnlich inszenierten "Lärm", konnte ich mich, obwohl bekennender Fan von Bono & Co., zu keinem Zeitpunkt jemals anfreunden.
Für "Kriegstanz" gilt m.E.: Textlich TOP - Musikalisch FLOP.
Der knapp siebenminütige Titelsong von "Brille" ist mal wieder sehr autobiographisch geprägt. Er erzählt über Heinz' Jugend in den 60er Jahren, über die Schwierigkeiten eines recht unansehnlichen "Brille"nträgers, der ob seiner Hochbegabung, seines frühen Interesses für Literatur und Rockmusik, seines Wunsches, Dichter zu werden, bei seinen Mitschülern, Lehren, allgemein bei vielen Menschen der Gattung "Otto Normalverbraucher", nicht gerade beliebt ist, sich von denen unverstanden fühlt. Daher redete sich der pubertierende Heinz auf Rat seines Vaters ein: "Du mußt besser sein, Brille / Besser als der Rest" (Textzitat).
Doch zum Schluß dieser sehr intimen, fragilen Mid-Tempo-Ballade wendet sich das Blatt: Heinz hat es ja unwiderruflich vermocht, seine, ihn damals hänselnden, verspottenden Schulkameraden in Sachen Intellekt, Reputation und Erfolg um ein Vielfaches zu übertreffen… "Die anderen geh'n zur Bundespost / Er kämpft mit der Gitarre / Wenn er sie auf der Straße trifft: Ein Hauch von Leichenstarre"…"Du bist besser dran Brille… Die anderen schon scheintot / Du springst aufs Podest - Du bist besser dran, Brille / Besser, viel besser / als der Rest!" Nicht wenige der in diesem fulminanten "Seelen-Striptease" geschilderten Situationen und Erlebnisse hat der Verfasser dieser Zeilen, wenn auch zehn, 15 Jahre später - letztlich bis heute - auch erleben dürfen.
Auf den munteren, textlich überwiegend philosophisch gehaltenen Gitarren-Pop/Rocker "Was wirklich zählt" - ein nettes, aufmunterndes (Liebes-)Lied, sicherlich nicht Heinz' schlechteste Nummer, aber garantiert auch nicht sein Meisterwerk - folgt "unser Arztroman in viereinhalb Minuten" (Zitat: HRK), "Doktor, Doktor", musikalisch "Wenn Du nicht wiederkommst" nicht unähnlich: Ein von "The Rumour Brass" straight nach vorn getriebener, Good-Time-Rock'n'Roller, komponiert von Heiner Lürig, der hier seine Vorliebe für den britischen Gitarrenhelden Dave Edmunds unverhohlen auslebt - und dies auf absolut Klasse Niveau.
Bei Heinz' Anhängerschaft noch 2009 immens begehrt und gefragt ist die leicht Dylaneske, schottisch/irisch ausgestaltete Folkballade "Der Abend vor dem Morgen danach" - ein wunderschöner, hochemotionaler Text, verbunden mit einer zwar ungewöhnlichen, aber jederzeit sympathischen Melodie - falls HRK diesen tollen Titel immer wieder mal in seine Tourneerepertoires einbaut, brandet, gerade hier, ein besonders lauter Jubel seitens der Zuhörer auf.
Dem Tabu-Thema "Vergewaltigung" ist der außerordentlich gelungene, lyrisch eigentlich unübertreffliche Gitarrenrocker "Tausendschön" gewidmet. Heinz' schildert hierin aus der Sicht eines imaginären Beobachters all die ekelerregenden Demütigungen, die eine Frau während perverser sexueller Übergriffe durch einen schrankenlosen Kriminellen erleiden muß, in zerbrechlichen, äußerst gewählten, verständnisvollen Worten - sicherlich, hinsichtlich seiner Ausformulierung, der anspruchsvollste, gleichsam ergreifendste Beitrag auf "Brille".
In der über sechsminütigen, vertrackten Klangkaskade "Stirnenfuß" treffen ein skurriler, abstrakter, versponnener, positiv chaotischer Text und eine gitarrenbetonte, wiederum leicht folkige, erst sanfte, dann konsequent rockige, rasende - im positivsten Sinne des Wortes - "Nicht-Melodie" kongenial aufeinander - zwar nicht hitkompatibel, aber seit damals ein weiteres Liebhaberstück von Heinz' engsten Freunden; ein Geheimtip, der zugleich als Titelgeber für das sehr gelungene und informative Buch des Kollegen Holger Zürch, "Silbermond samt Stirnenfuß" (Engelsdorfer Verlag - ISBN 3-938873-21-0) fungiert, das dieser im Jahre 2005 über HRK schrieb (und in dem auch der Rezensent mit einem Beitrag vertreten ist).
So, wie man "Brille", den Titelsong vorliegenden Silberlings, durchaus als "Fortsetzung" von "Vertriebener" (1985) betrachten könnte, so schließt die bebende Pianoballade "Der alte Mann", dialektisch gedacht, direkt an "Madagaskar" (dto.) an. Hierin geht es um einen verbitterten Kriegsverbrecher, der nach 1945 in Südamerika abgetaucht ist, sich selbst und den Rest der Welt einfach nur hasst - der aber immer wieder (und zunehmend mehr) Post von seinen "Fans", ergo: geschichtsvergessenen Neonazis, aus der BRD erhält. Ein Titel, der gerade derzeit, hinsichtlich der Causa "John Demjanjuk", brennende, gleißende Aktualität genießt.
Die Demofassungen von "Doktor, Doktor" und "Alles gelogen", sowie Konzertmitschnitte des "Abends vor dem Morgen danach", des "Alten Herrn", sowie des rockigen "Arztromans" beschließen als Bonustracks eine superbe CD-Neuauflage eines Opus, mit dem Heinz 1991 die Notbremse zog, um nicht einst auf dem "Sommerfest der Volksmusik" sein Stelldichein geben zu müssen. "Brille" war ein Schritt zurück nach vorn, der zig unzweifelhafte Deutschrock-Perlen in sich trägt und im Grunde genommen denjenigen HRK (wieder)gebar, der uns 2009 immer noch und weiterhin in die selbe Ekstase versetzt, wie er es von 1981 bis 1987 getan hatte!
Eine persönliche Anmerkung möchte ich, bevor ich mich der ausführlichen Analyse der vierten und (vorerst!) letzten Wiederveröffentlichung meines großen Vorbildes HRK hingebe, an dieser Stelle schon proklamieren. Das soeben ausgiebig beschriebene HRK-Album trägt den Titel "Brille".
Der Verfasser dieser Zeilen trägt ebenfalls eine solche. Die Songtexte und die durchgehend mehr als nur lesenswerten "Liner Notes" sind im CD-Beiheft in einer derart winzigen Schrift abgedruckt, daß es "Brillenträgern" enorm schwer fällt, diese überhaupt zu entziffern. Die vier "Remastered DeLuxe Edition"-Neuauflagen kosten 15 bis 20 Euro, es sind also Produktionen, die in den "High Price"-Bereich fallen und keine Budget-Sachen, die ich immer wieder mal für SONY konzipiere und die für rund zehn Euro erhältlich sind. Nach der intensiven Beschäftigung mit bislang drei CD-Neuauflagen von HRK, tun mir meine Augen extremst weh, ob der Minischrift im Booklet. Für knapp 20 Euro, so denke ich, kann der Konsument erwarten, daß er sich keine Lupe kaufen muß, um die Texte schmerzlos lesen zu können.
Liebe Katalog-Kollegen bei WARNER: Ich möchte mit diesem Intermezzo einfach nur Solidarität mit denjenigen Menschen üben, die, wie ich, keine gesunden Augen (mehr) haben. Bitte achtet doch künftig, gerade bei "High Price"-Themen, darauf, daß die Schrift in den Booklets problemlos lesbar ist : )))
So, nun genug gejammert - auf geht's zu einem wahrhaft monumentalen Rockklassiker namens "Kunze: Macht Musik". Ein Jahr nach "Brille", war Heinz' Pop-Phase gottlob endgültig vorbei, was die krosse Gitarren-Scheibe "Draufgänger" im Herbst genannten Jahres mittels radikaler, dröhnender Hardrock-, gar Punk- und Bluesklängen eindrucksvoll belegte. Im August und September 1993 gingen die Musiker der "Verstärkung", gemeinsam mit ihrem Vordenker und Vorsänger HRK, ins Studio und spielten "Kunze: Macht Musik" ein, eine grandiose Produktion, die es im Frühjahr 1994 bis auf Rang 10 der offiziellen "Media Control"-Charts schaffte und auf der sich Heinz und seine Begleiter - übrigens letztmalig in dieser Besetzung - musikalisch, wie textlich gnadenlos austobten, ohne irgendwelche Kompromisse mit dem Mainstream einzugehen.
Auch dieser Meilenstein teutonischer Rockkultur wurde nun als "Remastered DeLuxe Edition" neu aufgelegt. Den 13 Titeln der Urversion haben die Verantwortlichen sechs, bislang unveröffentlichte Bonus-Titel hinzugefügt.
Eigentlich sollte die CD zunächst ja "Tohuwabohu" getauft werden (vgl. Track 13) - da aber der Ostberliner Musiker André Herzberg (Ex-"Pankow") zur selben Zeit ein so betiteltes Opus vorgelegt hatte, entschied man sich für "Kunze: Macht Musik" - ein diabolisches Wortspiel, das zweifach interpretiert werden kann. Zum einen vermittelt es den wortwörtlichen Eindruck, nämlich, daß es nun mal der Beruf HRK's ist, Musik zu machen - andererseits könnte man aus dieser Titelwahl gleichermaßen herauslesen, daß "Musik" nicht selten auch "Macht" besitzen, ausstrahlen könnte.
Das Album beginnt mit dem trotzigen, brodelnden, psychedelisch ausgerichteten, von fetten Gitarrenorgien und ebensolchen am Schlagzeug lebenden, Anti-Liebeslied "Was willst Du", das vertrackte Rocksounds der ausgehenden 60er mit Alternative-Schiefklang der 90er kongenial verbrüdert.
"Sex mit Hitler" - alleine der Titel sorgte für Verwirrung, wenn nicht gar für einen kleinen Skandal. WARNER weigerte sich beharrlich, den vielleicht zynischsten Titel, den Heinz jemals ersonnen hat, als Single auszukoppeln; der Bayerische Rundfunk setzte "Sex mit Hitler", nur wegen seiner, zugegebenermaßen missverständlichen Benamung, umgehend auf den Index - ohne sich jedoch näher mit der Geschichte eines fiktiven Strichjungen auseinanderzusetzen, den Adolf gebucht hatte, um seine perversen Lüste auszuleben. Eine rockige, eingängige, wenngleich durchwegs düstere Gitarrennummer, deren Inhalt damals leider viel zu wenig diskutiert, sondern ausschließlich tabuisiert wurde.
Die gemächliche, nur hintergründig rockende Emotionsballade "Leg nicht auf" wurde als erste Single ausgekoppelt und erwuchs zu einem kleinen Hit für HRK, der den Rezensenten jedoch nie so ganz überzeugen konnte - Dies stellte kaum anderes dar, als "Dein ist mein ganzes Herz" im brachialen "Bon Jovi"-Stil… m.E. der schwächste, wenn auch kommerziell einträglichste Beitrag auf "Kunze: Macht Musik".
Ja, mit "Fetter, alter Hippie" etablierte sich HRK endgültig als "Botho Strauß des Rock'n'Roll" (© Holger Stürenburg - und sonst niemand!). Es war damals die Zeit, als sich soundsoviele einst als "Links" bezeichnete kulturelle Vertreter der 68er-Generation - von Wolf Biermann, Cora Stephan über Klaus Rainer Röhl und Karin Struck bis hin zu Martin Walser oder eben Botho Strauß - erstmals Gedanken machten, ob Sexuelle Revolution und Marsch durch die Institutionen tatsächlich so einfallsreich waren, wie bis dahin dogmatisch geglaubt. Biermann etwa wurde "Welt"-Kolumnist und sang auf der Kreuther Fraktionssitzung der CSU, Frau Struck, einst DKP-Mitstreiterin, erwuchs auf einmal zur strikten Abtreibungsgegnerin, Röhl wechselte ins nationalliberale Lager, Frau Stephan schrieb das wegweisende Buch über den "Betroffenheits-Kult" der 68er, Walser und Strauß boten sich ab sofort als weder "linke", noch "rechte", Querdenker jenseits aller verquaster Ideologien an. Das damalige Noch-SPD-Mitglied HRK spottete verächtlich, musikalisch im Stile von Lenny Kravitz, per Wah-Wah-Gitarre etc., gegen den "Fetten, Alten Hippie" (Songtitel) - wiederum ein Kunze-gemäßer "Tabubruch", da nicht wenige seiner Anhänger eben nichts anderes waren, als "Fette, Alte Hippies".
"Deine Väter und Mütter / waren besser als Du / ihre Selbsthäkeldeckchen überleben Dich / um Längen… Du verdienst kein Mitleid / Fetter, alter Hippie" (Textzitate). Dem ist m.E. nichts hinzuzufügen.
Es folgt das vermutlich genialischste "Anti-Liebeslied" der deutschen Rockgeschichte: "Eigentlich nein" - ein draller, krasser Hardrocker, in dem sich der Rezensent - wie so oft bei Kunze - intimst wieder findet. Ein Lied für emotional oft enttäuschte Menschen, die sich irgendwann mal wieder unglücklich verlieben - und Dank dieses Meisterwerks aus sich herausgehen und einfach nur brüllen können: "Ich mag Dich / Wer bin ich? / Will ich hier sein? - Eigentlich nein!!! Eigentlich nein!!! Eigentlich nein!!!". Danke, lieber Heinz, für dieses persönliche "Überlebensmittel", das mir nicht selten bei unwillentlich ausbrechendem "Gefühlschaos" sehr geholfen hat!
Eine ruhige, versöhnliche, wenn auch lyrisch recht abstrakte Mid-Tempo-Folkballade unter dem Titel "Keine Umkehr mehr" wurde nach eben analysierter "Liebe/Haß/Liebe-Ambivalenz" auf "Kunze: Macht Musik" berücksichtigt, bevor mal wieder der Ironiker HRK zum Zuge kommt: "Einfacher Mann" stellt eine perfekte Parodie auf den sprichwörtlichen "Spießer" dar: "Mein Vater war ein Wandersmann / Er kam bis Wladiwostok / Ich kenn' mich aus auf Capri / aber, wo liegt eigentlich Rostock?"… Trefflich die Finger in die offene Wunde legend, beschreibt HRK, kritisch, aber niemals verletzend oder gar mit erhobenem Zeigefinger, eine Spezies von scheinbar unbelehrbaren Menschen, von denen heute leider immer noch so viele Exemplare durch die BR Deutschland laufen, wie zum Entstehungszeitpunkt des brillanten Rocksongs, der als zweite Singleauskoppelung diente.
Das inhaltlich abstrakte "Freier Fall" und die romantische Liebeselegie "Du gehörst zu jemand anderem" leiten über zu einem weiteren Grund dafür, weshalb ich Heinz seinerzeit als "Botho Strauß des Rock'n'Roll" apostrophiert hatte. "Hereinspaziert", musikalisch unüberhörbar an die britische Punk-/New Wave-Legende "The Jam" angelehnt, lässt die Hysterie der Bundesdeutschen Veröffentlichten Meinung und nicht weniger, ansonsten unpolitischer "Normalbürger" 1992/93 zugespitzt Revue passieren, als überall in der Republik, ob Ost, ob West, glatzköpfige Chaoten - die soooo superdeutsch sind, daß sie sich "Skinheads", statt "Hautköpfe" nennen - meinten, brandschatzend durch dieselbe ziehen und widerliches Unheil anrichten zu müssen.
HRK gelingt es in diesem fulminanten, schnellen Beinahe-Punk-Rocker, einerseits eindeutig das braune Pack zu verdammen, zugleich aber, sich überaus kritisch über die aktionistischen Schnellschüsse der "Gutmenschen" in diesem unserem Lande lustig zu machen. "Der betroffene Rocker / macht Musik aus dem Bauch / Riecht verdächtig nach Blähung / und so klingt es dann auch / Die beamteten Denker / Ratlos Postmodern / Über'm Herzen der Schwachen / glimmt ein gelblicher Stern / Eimerweise in Talkshows / fließen Krokodilstränen / Und die Werwölfe lachen sich scheckig / und gähnen".
In gerade mal 3.00 Minuten Laufzeit von "Hereinspaziert" steckt mehr Zeitgeist-(Verachtung), als in soundsovielen, dicken Besserwisser-Büchern der obligatorischen "Berufsantifaschisten" - einfach nur Klasse : )
Ruhig, zugleich auflodernd, entflammend, aufbrausend, erklingen nun die mystischen, melancholischen Schleicher, stets mit klanglichen Widerhaken versehen, "Der Mann, der zu atmen vergaß", sowie "Goethes Banjo" - mehr Klangdrama, als Ballade. Letzterer Fanfavorit erzählt über einen Mann, der in seinem sexuellen Leben alles ausprobiert hat - aber niemals die echte Befriedigung erfahren durfte. So legt er sich in die brütend heiße Sonne in die Wüste Afrikas, um ebenjene erstmals überhaupt erleben zu können - HRK dazu im (mal wieder für "Brille"nträger unlesbaren "Liner Notes": "Der einsamste Mensch der Welt. Das ist eine Sexualität, die er nur mit der Sonne und sonst niemandem teilt. Da musste ich was drüber machen".
Mit "Tohuwabohu", einem weiteren, der wenigen autobiographischen Liedern von Heinz, endet "Kunze: Macht Musik". Er schildert darin, gekonnt zugespitzt, absurde Erlebnisse aus seiner Jugend und Schulzeit in den wilden 60er Jahren. Untermalt von einer lieblichen Gitarrenmelodie, kommen hierin so geniale Textzeilen der Sorte "In nichts war ich gut / außer in Angst / Das kann man nicht lernen / Das hat man" oder "Mein bester Freund / verließ mich für meine erste Freundin / Einen langen Moment war ich sicher / das sei nicht wieder gut zu machen / Er dauert noch an" vor - Dieser so außergewöhnliche, wie intime Titel inspirierte mich dazu, 1995/96 eine, ähnlich ausgerichtete, eigene Nummer namens "Mein persönliches Tohuwabohu" zu schreiben, die bislang allerdings nicht veröffentlicht wurde.
Kurz zu den Bonus-Tracks: Da "Radio Schleswig Holstein" (RSH) nicht der Bayerische Rundfunk ist, durfte Heinz dort im Rahmen einer Rundfunksession "Sex mit Hitler" ebenso "unplugged", mit geringster Instrumentierung, darbieten, wie "Fetter, alter Hippie" und "Leg nicht auf" - alle drei Radiomitschnitte wurden nun dem Originalalbum hinzu gekoppelt.
Im pseudoromantischen Schlager-/Chansonambiente erklingt die bisher unveröffentlichte Ballade "Wenn der and're geht"; eine Reggae(!)-Fassung des "Einfachen Mannes" sowie "Leg nicht auf" auf Englisch als "Don't hang up" vervollständigen die "Remastered DeLuxe Edition" von "Kunze: Macht Musik".
Im Anschluß an die dazugehörige Tournee, tauschte Heinz, mit Ausnahme von Mastermind Lürig, die gesamte Mannschaft der "Verstärkung" aus, da sich die bisherige Formation seit über acht Jahren einfach "auseinander gespielt" hatte.
"Kunze: Macht Musik" ist ohne jegliche Frage ein absolutes Meisterwerk, sowohl in musikalischer, als auch lyrischer Hinsicht. Pop für die Massen war Geschichte, nun betrieb das langjährige sprachlich/rhetorische/gedankliche Vorbild des Verfassers dieser Zeilen wieder genau dies, was er - und nur er selbst - wollte. Zwar reduzierte sich nun der kommerzielle Aspekt auf das nötigste, aber Heinz war ENDLICH wieder er selbst. Alleine dafür: Hut ab!
Gesamtnote - "Brille": 1-2
Gesamtnote - "Kunze: Macht Musik": Bestwertung
(Holger Stürenburg)

 


   
   
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