walteran 20121220 1706754101 Titel:
Label:
VÖ:

Titel:

"Ansteckungsgefahr"
poeticlabel
2010

1. Ansteckungsgefahr
2. Pirat
3. Liebesperlenspiel
4. Schlüsselkind
5. Letzte Bahn
6. Herzen in Not
7. Umgezogen
8. Du schläfst
9. Südsee
10. Marie
11. Seelenstaub

Man fragt sich sehr oft, warum ausgerechnet dieser oder jener Musiker mit seinem Werk alles abräumt, was es abzuräumen gibt, ein anderer, mit einer wesentlich interessanteren Produktion, aber ein Schattendasein fristen muss. Schauen wir uns mal ganz entspannt die aktuellen Neuheiten in Sachen Deutschrock an und picken uns ein sehr gutes Beispiel für ein "Warum eigentlich?" raus: Da läßt sich die Band Juli nach vier Jahren mal wieder mit einem neuen Album und einer neuen Single blicken. Juli ist die Kapelle, die 2004 mit der "perfekten Welle" den Weg nach ganz oben in die Hitparaden geschafft hat, und die seitdem diesem Erfolg (Platz 2 der Single-Charts in Deutschland und Österreich) vergeblich hinterher rennt. Die neue Scheibe "In Love" und die daraus ausgekoppelte Single "Elektrisches Gefühl" sind dermaßen schwach auf der Brust, dass man sie problemlos in Plegestufe 2 unterkriegen könnte. Trotzdem hat sich das Ding bis auf Platz 12 (Singlecharts) vorarbeiten können (Das Album sogar bis auf Platz 4 - Warum eigentlich?). Stellt man dann aber die neue Produktion von Tom Walter daneben, kratzt man sich fragend am Kopf und stellt sich wahrlich die Frage, warum auf der einen Seite eine so farblose Kapelle wie Juli gnadenlos gehyped wird, während sich Tom Walter 'nen Wolf musizieren kann, und die Medien ihn und seine Musik trotzdem nicht wahrnehmen. Und ganz allgemein dann auch zusätzlich die Frage, warum kein Medienvertreter mehr abseits der von der Industrie veröffentlichten und groß beworbenen Platten und Künstlern nach Musikern und Talenten sucht, wie es gerade Radio-DJs früher gemacht haben...

Tom Walter hat mich bereits vor zwei Jahren mit "So ist das Leben" und so großartigen Songs wie "Leiser Wind", "So ist das (L)eben" oder "Am Hafen" aus dem Sitz gehoben. In der Zwischenzeit existierte er leider nur noch in der Erinnerung und ab und zu mal durch ein kleines Konzert irgendwo im Nirgendwo. Schade, dass dem gelungenen Debüt nicht der verdiente kommerzielle Erfolg folgte, und es stattdessen sehr ruhig um ihn blieb. Jetzt ist sein zweites Werk "Ansteckungsgefahr" erschienen und der Albumtitel verspricht wirklich nicht zu viel! Einen wahren Blickfang hat er aus seiner Scheibe gemacht. Verpackt als Paket, eingewickelt in Packpapier und mit Kordel verschnürt, ist das erste, was dem interessierten Hörer ins Auge fällt. Ein gelungener optischer Effekt, der auf den Inhalt neugierig macht. Auch der kann sich sehen/hören lassen. Schon der erste Titel von "Ansteckungsgefahr" sorgt für eine Sepsis beim Hörer. Der Song heißt wie das Album selbst und überzeugt sowohl mit der musikalischen Idee als auch mit seinem Text - schon ist man infiziert und ein Gegenmittel gibt's nicht. Wie schon beim Vorgängeralbum läd Walter den Hörer zum Mitdenken ein und schleudert seine Botschaften nicht platt vor die Füße des Konsumenten. Hinhören, aufpassen und staunen, was der Sänger sich da hat einfallen lassen. Es macht Spaß, dem Künstler beim Umgang mit der deutschen Sprache zuzuhören und zu erleben, wie er sie mit Musik so verbindet, dass die Sprache selbst zum Instrument wird. Auch musikalisch hat er sich wieder ein paar ganz besondere Feinheiten einfallen lassen, die man beim Hören selbst entdecken sollte. Dem ersten Titel der Scheibe steht auch der zweite in nichts nach. "Pirat" hat das Zeug zu einem Radiohit, einem echten Ohrwurm. Ein Titel, der sich schon nach dem ersten Hören im Kopf festsetzt und dort auch länger bleibt. Immer wieder ertappt man sich später, dass man die Melodie summt. Bei "Liebesperlenspiel" hat der Künstler eine Ballade der Extraklasse erschaffen. Ihr folgt eine sommerleichte Brise in Liedform: "Schlüsselkind". Flotter Beat, schöne Story - leicht und beschwingt. So abwechslungsreich, wie sich das bei den hier beschriebenen ersten vier Songs der Platte anhört, bleibt "Ansteckungsgefahr" auch. Weitere Höhepunkte wie z.B. "Letzte Bahn" oder "Umgezogen" (eine Liebeserklärung an des Sängers erste Wohnung) folgen und runden ein Gesamtkunstwerk ab, an dem der interessierte Deutschrock- und -popfan seine helle Freude haben wird. Die Kompositionen überzeugen auf ganzer Linie, auf der Scheibe ist nicht ein schwacher Titel auszumachen.

Zu all den Vorzügen von "Ansteckungsgefahr" gibt's aber auch ein "Aber". Wie im Booklet nachzulesen, hat Tom Walter bei der Produktion der Scheibe alles selbst übernommen. Er ist Komponist, Texter, Produzent und Musiker in Personalunion, und wenn man viele Dinge auf einmal macht, bleibt irgendwas dabei immer auf der Strecke. So leider auch auf "Ansteckungsgefahr". Der Künstler wäre gut beraten gewesen, den einen oder anderen musikalischen Part bei der Produktion in die Hände von Musikerkollegen zu legen. Die Keyboards klingen stellenweise nach einer Bontempi-Orgel aus den späten 70ern (in Fachkreisen auch gerne "Tischhupe" genannt), auch den zum Einsatz kommenden Drumcomputer hört man an einigen Stellen der Scheibe leider mehr als deutlich heraus. Diese - zugegeben - eher kleineren Makel sorgen für Abzüge in der B-Note, fallen bei den schönen Melodien, wieder mal einzigartigen Ideen und der gelungenen Symbiose aus Musik und Text nur nebensächlich auf. Aber sie fallen auf...

Alles in allem ist "Ansteckungsgefahr" ein musikalisches Sammelalbum mit zeitlos schönen Kompositionen und wunderbaren Texten, die beim Hören unterschiedliche Bilder in der Vorstellung malen. Einmal "angesteckt" verlangt der Körper mehr davon, und es wird schon nach wenigen Takten klar, dass die CD von seinen Käufern nicht nur einmal gehört werden wird. Ich stelle mir insbesondere die Umsetzung dieser 11 Songs live auf einer Bühne mit dem sprichwörtlich "vollen Besteck" (mit kompletter Band) sehr interessant vor. Auch wenn das wohl nur ein Wunsch des Rezensenten bleiben wird, ist die Vorstellung sehr verlockend. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Songs "Ansteckungsgefahr" oder "Marie" beim Radio als Single gute Chancen auf Einsätze haben könnten. Aber das ist reine Spekulation, weil Radioredakteure heute - wie eingangs erwähnt - ganz anders ticken, als das früher mal der Fall war. Womit wir wieder beim Anfang dieser Rezension wären: Von der Idee und den Texten her ist "Ansteckungsgefahr" ein Werk, dass die neue Juli-Produktion locker in den Sack steckt, und nicht nur die... Dummerweise hat Juli reichlich Einsatzzeiten im Radio und genügend Platz in den Printmedien - Künstler wie Tom Walter leider nicht. Warum eigentlich?
(Christian Reder)

 


   
   
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