natsch2007 20121125 1748247953 Label:
Best.-Nr.:  

Titel:

buschfunk / sechzehnzehn 2007
BF 05932

7 Minuten mein
Weit, weit und wild
Die Angst und die Lust
Schau nicht so laut
Ach
Ein seltsames Paar
Männer weinen nicht
Was Liebe ist
Tausend viel
Wilder Mohn, hast mich geweckt
Nur mit Dir
Karamell und Marzipan


Wir sind in die Jahre gekommen, die Musiker und das Publikum , haben positive und negative Erfahrungen gesammelt und versucht, uns in der neuen Welt zu sortieren.
Thomas Natschinski ist vor kurzem 60 Jahre alt geworden. Mancher resigniert dabei, andere versuchen, diese Zahl zu verdrängen, wieder andere treten die Flucht nach vorn an. So einer ist zu unser aller Erstaunen eben Thomas. Nach 20 Jahren selbst gewählter Arbeit in der zweiten Reihe ging es in diesem, seinem Jubiläumsjahr, Schlag auf Schlag: die Mitwirkung als Special Guest an der Eastrock Symphony im Sommer 2007, die neue CD, das wirklich emotionale Geburtstagskonzert Thomas Natschinski & friends, die Arbeit am 2008 erscheinenden Buch...
Wenn nach so langer Zeit, in der er überwiegend für andere schrieb, wieder eigene Lieder veröffentlicht werden, ist die Erwartungshaltung groß, sehr groß sogar. Vieles hat sich verändert, auch der individuelle Musikgeschmack, die Produktionsmöglichkeiten, die Stimme, die Blickwinkel. "Weit, weit & wild" heißt die neue CD, komponiert natürlich vom Meister selbst, die Lyrics steuerten Karat-Texter Norbert Kaiser und (zu meiner Verblüffung) Ex-DT-64-Moderatorin Christine Dähn bei. Man merkt die Reife der Schreiber, nimmt dem Sänger jede Zeile ab. Ohne philosophisches Geschwafel, mit Liebe zum Detail und zu den großen Kleinigkeiten, geht es um sowohl um das ewigen Thema Liebe, verpackt in zum Teil ungewohnte sprachliche Bilder, als auch um Betrachtungsweisen und Alltagsgeschichten. Das reicht von der Bratwurst nachts um eins, geht über sich verhakelnde Räder und reicht bis zu Gurkenscheiben auf dem Gesicht. Tief Berührendes ("Schau nicht so laut") wechselt sich ab mit Skurilem ("Ach"), es gibt ungeahnte Wendungen ("Männer weinen nicht") und witzige Parabeln ("Ein seltsames Paar").
Das alles findet auf höchstem musikalischen Level statt. Thomas hat das Gespür für Stimmungen und federleichten Melodien, die auch die Jürgen-Walter-CDs auszeichnen. Er reist innerhalb eines Liedes durch Tonarten, wo ich manchmal nicht weiß, wie kommen wir wieder zurück zum Leitmotiv? Ausflüge in verschiedene musikalisch Genres, Taktwechsel und Punktierungen machen das Ganze spannend, und sparsame, transparente Arrangements tun das ihre dazu. Eingespielt von Musikantenfreunden der ersten Garde wie Uwe Hassbecker und Ralf Templin an den Gitarren, Jäckie Reznicek an den Bässen, gesanglich unterstützt von Gotte Gottschalk und Angelika Weiz ist dieser Silberling für mich eine ständige Fundgrube. Ich hab das Album über die HiFi-Anlage gehört, dann unter Kopfhörern, schließlich über die PA, mit der ich sonst auf der Bühne stehe - jedes Mal entdecke ich etwas Neues. Perlende E-Pianos, die wiederentdeckte Mundharmonika, virtuoses Klavierspiel, filigrane Akustikgitarrenläufe, E-Gitarren mit herrlichem Stereo-Delay und sehr musikalischem Wah-Pedal, dazu Jäckies eigenständige Fretless-Bass-Figuren mischen sich zu einem sehr abwechslungsreichen Gesamtbild.
Der Gesang von Thomas ist nahezu komplett staubtrocken, ohne Effekte aufgenommen worden. Das tut der Textverständlichkeit gut, neigt aber - auch durch die permanenten Verschleifungen an den Zeilenenden - in der Summe der CD ein klein wenig zur Monotonie. Musikalische Grüße gibt es in meinen Ohren von Roxy Music ("Ach") und per Cello von Elvis Presley ("Was Liebe ist"), oder irre ich mich? Einige Songs haben wir zum Geburtstagskonzert schon live erlebt, mit großer Spielfreude überzeugend umgesetzt.
Highlights sind für mich der Titelsong "Weit, weit & wild" (DEN hätte ich auch als Opener auf die CD gesetzt, das Akustikgitarren-Intro kriegt man sowieso nicht mehr aus dem Kopf, und die Tremolo-Gitarre aus der legendären Maja ist auch mal wieder dabei ), "Schau nicht so laut" (Piano pur , dazu Vocalisen von Geli Weiz und Gotte, ich sehe die beiden hochkonzentriert auf ihren Stühlen sitzen - dieses Lied ist ein Meisterwerk!!!), ebenso "Tausendviel", und in würdiger Tradition auch "Wilder Mohn".
Ein Hammersong ist "Die Angst und die Lust" - eine herrlich treibende Uptempo-Nummer mit einer tollen Leadgitarre - ab damit ins Radio-Tagesprogramm!!
Ja, und das wird wohl wieder das Hauptproblem. Gibt es im Rundfunk eigentlich noch Musikredakteure oder nur noch Rechner, die media-controll-gefütterte Playlists ablaufen lassen? Jeder P*ps von Grönemeyer, Naidoo, Rosenstolz oder Silbermond wird zum deutschen Quotenhit-Event hochgejubelt. Nichts dagegen, hat ja auch alles seine Berechtigung. Aber: wo bleiben Wolf Maahn, IC Falkenberg, Dirk Michaelis und jetzt auch Thomas Natschinski? Wer spielt Musik mit Sinn für Erwachsene?
Die CD lief oft in den vergangenen Tagen, sie hat es verdient. Spielen, weiterempfehlen, kaufen! Inspiriert und motiviert von ehrlichen, echten Freunden ist Thomas Natschinski endlich wieder zurück in der ersten Reihe. Ja, wir sind in die Jahre gekommen, Musiker und Publikum. Wir brauchen zum Lesen und zur Arbeit am PC nun doch schon manchmal eine Brille - und wir brauchen Lieder wie diese von der neuen CD "Weit, weit & wild".
Lass uns mit dem nächsten Album nicht wieder 20 Jahre warten, okay ?

(Jens Kurze, alias Tomsdaddy)