Katrin Sass: "Am Wasser" (Album)

sass2023 20230503 1049762204VÖ: 28.04.2023; Label: Energie Kultur; Katalognummer: 4053804317887; Musiker: Katrin Sass (Gesang), Rainer Oleak (Piano, Gitarre), Peter Inagawa (Kontrabass), Tobias Morgenstern (Akkordeon), Ronny Dehn (Schlagzeug), Holger Engelhardt (Violine), Kristin May (Violine), Annegret Meder (Viola), Stephan Wünsch (Cello), Pepe Behling, Frida Granzin, Linda Mühle (alle Kinderchor), Carmen Oleak, Dietmar Schmidt (Background Gesang); Musik: Rainer Oleak; Texte: Antek Krönung; Bemerkung: CD im aufklappbaren Digipak inkl. Booklet mit Abdruck aller Songtexte;

Titel:
"Nochmal von vorn", "Am Wasser", "Geisterstunde", "Drei Bier, zwei Brause", "Trink, Schwesterlein, trink", "Tut mir leid", "Mein Kind hat Fell", "Nur geträumt (Instrumental)", "Von Ost nach West", "Lass ab", "Geteilte Freude", "Immer weiter", "Am Wasser Reprise (Instrumental)"


Rezension:


Es ist kaum zu glauben, aber es ist 10 Jahre her, dass wir "Königskinder", das Debüt-Album von Katrin Sass, hier vorgestellt haben. So lange hat die Künstlerin auch gebraucht, um ein weiteres, nämlich ihr zweites, Album aufzunehmen. "Am Wasser" heißt es, und wer nah an einem Solchen gebaut hat, wird beim Hören ihrer neuen Lieder an der einen oder anderen Stelle auch sehr emotional reagieren. Soviel ist sicher.

Grund dafür ist nicht die Musik allein sondern der Fakt, dass hier ein Leben voller Höhen und Tiefen vertont wurde. Und dabei schont sie sich nicht, die Sass. Sie spricht nicht nur die hellen Momente in ihrem Leben an, sondern auch die, die schmerzhaft waren und inzwischen Narben gebildet haben. Einzelne Kapitel aus ihrer Biographie "Das Glück wird niemals alt" sind hier jetzt zu Liedern geworden. Und das ist spannend, zumal sie die Hälfte ihres Lebens in der DDR gelebt hat, die andere im zusammengelegten Deutschland. Sie kennt also sowohl die eine, als auch die andere Seite sehr gut, und so wird ein Musikalbum zu einer kleinen Reise durch die deutsch-deutsche Geschichte, die diese wieder lebendig werden und viele eigene Erinnerung wieder zurückkehren lässt. So ist es zumindest dem Schreiber dieser Zeilen beim Hören von "Am Wasser" ergangen …

"Nochmal von vorn" heißt das erste von 13 Liedern, und die Frage stellt sich die Künstlerin dann auch. Soll bzw. möchte man das gelebte Leben nochmal von vorn beginnen? Mögliche Fehler dann nicht noch einmal begehen und an verschiedenen Weggabelungen die andere Richtung wählen? Sie beantwortet sich die Frage in ihrem Lied deutlich mit den Worten, "Neee, dann doch lieber Falten kriegen". Melancholisch klingen die Rückblicke in die Kindheit und die "Lehrjahre", deutlich fröhlicher der Refrain, in dem auch die eben getroffene Aussage gemacht wird. Ein schöner Opener ins Programm.
Jeder von uns hat einen Sehnsuchtsort. Einen Platz, an dem man lieber ist als irgendwo sonst, und man von der Zeit, die man dort verbracht hat, endlos lange im Alltag zehren kann. Für Katrin Sass ist es offenbar das Meer - ob Ost- oder Nordsee kann man sich wohl aussuchen ("Am Wasser da leb ich die Freiheit, Wasser ist dicker als Blut. Am Wasser erkenn ich den Himmel, am Wasser gehts mir gut"). Und dieses Meer, und was es mit ihr macht, besingt die gebürtige Schwerinerin in "Am Wasser", und gibt ihren Hörern den heißen Tipp, sich aufs Rad zu schwingen und in Richtung Norden zu fahren, wenn einem der "November in die Parade fährt". Beim Blick auf den blanken Hans vertreibt der Wind alle Sorgen, und wer diese Erfahrung schon einmal selbst gemacht hat, wird ihr da Recht geben.
Der Tango "Geisterstunde" ist da eine nicht ganz so entspannte Nummer, geht es in diesem Stück doch um das Gespenst aus Papier im Kleiderschrank. Damit ist nichts anders als die Kopie der eigenen Stasi-Akte gemeint, die außer ganz vielen anderen unserer Mitbürger auch Katrin Sass daheim hat. Das Papiergespenst deckt alles auf, u.a. natürlich wer einem zu DDR-Zeiten übel mitgespielt, einen ausspioniert und beim Staat verpetzt hat, aber als guter Freund zusammen mit einem am Tisch saß. Die Zeit mag 33 Jahre her sein, aber die Geister sind allgegenwärtig. Immer noch. Und sie werden es wohl auch noch so lange sein, bis der letzte Zeitzeuge ins Grab gegangen ist. Dass im Refrain das Gespenst den Namen "Hui Buh" verpasst bekommen hat, ist das Einzige, das einem hier ein Lächeln entlockt. Der Rest des Stücks wirkt dann doch eher bedrückend, was nicht zuletzt auch durch die Musik, die mit Streichern und Akkordeon arrangiert zu einem düsteren Klangwerk wurde, deutlich akzentuiert wird.
Gleiches passiert im Song "Trink, Schwesterlein, trink", in dem Katrin Sass ihre Alkoholsucht musikalisch verarbeitet. Auch hier ist die Stimmung instrumental alles andere als heiter eingefangen worden. Interessant an der Nummer ist auch, dass der Text hier weniger von der Erkrankten, als von dem kleinen Teufelchen auf der Schulter, das sie immer wieder zum Griff zur Flasche verführt, vorgetragen wird. Die in tiefer Moll-Stimmung eingefangenen Erfahrungen aus dieser Zeit und ihre Verarbeitung zu einem Lied wirken trotz all der tragischen Hintergründe erfrischend anders und sind ein grundehrlicher Umgang mit der eigenen Vergangenheit, über die manch anderer Kollege lieber den Mantel des Schweigens legen würde.
Aus einer Zeit, in der Kinder sogar samstags noch zur Schule gehen mussten, erzählt die Sängerin dann in "Drei Bier, zwei Brause". Es sind Kindheitserinnerungen von Katrin Sass, die hier den Weg in ein Lied gefunden haben. Samstags nach der Schule wurde der Tornister in die Ecke geworfen und das Kindsein genossen. Sie singt über Dinge, die sie geliebt hat, z.B. das Spielen mit den anderen Kindern oder dass der Vater am Samstag die Kartoffelpuffer machte und sie für das gemeinsame Essen mit der Familie bei Herrn Krause an der Ecke "Drei Bier, zwei Brause" eingekauft hat. Solche Erinnerungen hat wohl jeder von uns, weshalb einen ein Lied wie dieses auch besonders anfasst. Es handelt nämlich von einer Zeit, in der die Welt noch in Ordnung, man behütet und beschützt war, und die großen Sorgen noch weit weg. Ein wunderbares Lied.
Wunderbar ist auch, wie Katrin Sass darüber singt, dass ihr Kind stark behaart ist. Nämlich in "Mein Kind hat Fell", und damit ist niemand anderer als ihr Hund Lucky gemeint, der auf diesem Album auch seinen Platz findet. Dass die Sängerin in ihre Fellnase extrem verliebt ist, hört man aus jedem Wort deutlich raus, und sie macht im Text auch gar kein Geheimnis daraus, dass des Hundes Blick sie ständig zu Wachs in seinen Pfoten macht. Wer auch einen Hund hat, kann sich gut in sie hinein versetzen, und wer keinen hat, kann das Gefühl über das Lied sehr gut nachvollziehen.
Dass Katrin Sass das Herz am rechten Fleck und ein loses Mundwerk hat, mit dem sie ihre Meinung immer klar und deutlich formuliert, ist lange bekannt. Nicht erst, seit sie in einer Talkshow einem sich selbst maßlos überschätzenden Pausenclown vor Live-Publikum mal die Leviten gelesen hat. Und auch wenn das Lied "Tut mir leid" heißt, ist dies längst keine Entschuldigung dafür, dass sie ist, wie sie ist. Eine Frau mit Haltung und Courage. "Nimm es hin oder lass es", hätte die Nummer auch heißen können, in der sie sich selbst als denkende Persönlichkeit mit klarer Haltung und scharfem Blick präsentiert. Herrlich!
Ich könnte an dieser Stelle auch die anderen Songs, z.B. der zu Tönen gewordene Erlebnisbericht ihrer ersten Reise als DDR-Bürgerin in die Bundesrepublik ("Von Ost nach West") oder ein vom Hörer selbst mit Inhalten zu füllendes Instrumental ("Nur geträumt") genauso ausführlich beschreiben, wie die bis hierher vorgestellten Songs, aber das würde den Rahmen dieser eh schon ziemlich lang gewordenen Rezension nur noch weiter sprengen. Außerdem sollst Du, lieber Leser, den ich hier hoffentlich jetzt neugierig gemacht habe, noch selbst etwas zu entdecken haben.

Musikalisch wurde die Lebensgeschichte der Künstlerin überwiegend in Chansons mit französischem Anstrich verpackt. Das oft und tragend eingesetzte und von Tobias Morgenstern (L'art de passage) gespielte Akkordeon ist eine der Zutaten die dafür sorgen, dass es so klingt, wie eben beschrieben. Ansonsten sind klassische Instrumente wie das Klavier - gespielt von Rainer Oleak - und der Kontrabass - gespielt von Peter Inagawa - Hauptdarsteller dieser Scheibe. Als besondere Würzmischung hat man dem Ganzen den Sound eines Streichquartetts beigemengt und auch das von Ronny Dehn (SILLY) getrommelte Schlagzeug setzt deutliche Akzente im Gesamtbild. Das hier spielende Ensemble unterstreicht die Inhalte der Lieder ganz wunderbar. Düster dort, wo es gebraucht wird, und heiter da, wo es erlaubt ist. Nun ist Katrin Sass keine Whitney Houston und auch keine Mariah Carey. Sie ist Katrin Sass und deshalb wird sich stimmlich auch gar nicht groß verstellt, um das sein zu wollen, was man nicht ist. Sie singt, weil es sie glücklich macht. Und um nichts anderes sollte es gehen! Man darf ihre Art zu singen deshalb mögen, muss es aber nicht. Ich glaube, auch mit Letzterem kann sie gut leben. Wie sie ihre Geschichten aber erzählt und wie sie die Gefühle bei ihren Hörern erzeugen kann, muss man aber lobend erwähnen und auch würdigen.

"Am Wasser" ist ein großartiges Album, für das man sich Zeit nehmen sollte, um es vollständig zu erkunden. Antek Krönung hat als Texter, der sich beim Schneidern der Inhalte für Katrins Lieder an ihrer eingangs schon erwähnten Biografie "Das Glück wird niemals alt" orientiert hat, eine ausgesprochen gute Arbeit geleistet. Er hat das Leben von Katrin Sass kurzweilig in kleinen Abschnitten eingefangen, viel Ironie, Tiefgang und immer wieder auch überraschende Details eingebaut. Musikalisch eingekleidet wurden die von Katrin erzählten Geschichten von Rainer Oleak, der die ganze Scheibe komponiert, produziert, gemischt und arrangier hat. Unterm Strich eine gelungene Platte ohne einen einzigen Song, der einem nicht gefällt. Allerdings auch nichts für den Mainstream und darum leider völlig ungeeignet für die geistig wenig bis gar nicht herausfordernde Hauptsendezeit in Radio und TV. Schlecht für die Massen, gut für uns, die auch abseits der Medienautobahnen nach gut duftenden Blumen Ausschau halten und schließlich mit echten Perlen wie "Am Wasser" fündig werden …
(Christian Reder)





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