Manuel Schmid & Marek Arnold: "Ziele" (Album)

lp05 20221013 1333351824VÖ: 14.10.2022; Label: A&O Records; Katalognummer: folgt; Musiker: Manuel Schmid (Gesang, Keyboards), Marek Arnold (Keyboards, Programming, Saxophon, Gesang); Gäste: Ralf Dietsch (Gitarre bei Titel 1, 4, 7, 10), Denis Straßburg (Bass bei Titel 1, 4, 7, 8, 10), Peter Rasym (Bass bei Titel 3, 5), Manuel Humpf (Schlagzeug bei Titel 1, 10), Martin Fankhänel (Gitarre bei Titel 2, 3, 5), Clemens Litschko (Schlagzeug bei Titel 4, 7), Ulf Reinhardt (Schlagzeug bei Titel 5, 8), Marcella Arganese (Gitarre bei Titel 8), Martin Schnella (Gitarre bei Titel 8); Produktion: Manuel Schmid und Marek Arnold; Bemerkung: Dieses Album ist ausschließlich auf CD erschienen;

Titel:
"10 Milliarden Sterne", "Ein Leben lang", "Lange Tage Schweigen", "Fantasie", "Fremder Strand", "Ich fliege", "In der Mitte der Erde", "Ziel des Augenblicks", "Wände aus Papier", "Ankunft"


Rezension:

Zeiten ändern sich, sagt man, und neue Ziele werden gesetzt. Stimmt! Zumindest, wenn man bei Manuel Schmid und Marek Arnold vorbei schaut. Wo der eine (Arnold) mal war, ist der andere (Schmid) heute unverzichtbar. Zwischen 2010 und 2012 gehörte Marek Arnold zum Ensemble der Stern-Combo Meißen und war dort neben Thomas Kurzhals Teil der Kreativabteilung. Kurz nachdem die große Blase zerplatzte und mit ihm noch zwei andere Kollegen die Band verließen, stieg Manuel Schmid in die 1964 gegründete Artrock-Formation ein, wurde neuer Sänger, Tastenmann und nach Kurzhals' Tod Anfang 2014 kreativer Kopf der Gruppe. Und weil sich Zeiten eben ändern und Ziele neu gesteckt werden, arbeiten der alte und der aktuelle Stern inzwischen gemeinsam an neuer Musik. Für die Combo und in eigener Sache. Am 14. Oktober 2022 erscheint nach "Zeiten" (2018) mit "Ziele" nunmehr das zweite gemeinsame Album der beiden Musiker.

Eigentlich könnte "Ziele" auch ein Album von STERN MEISSEN sein. Parallelen zur Musik der Sterne lassen sich nicht leugnen. Aber das liegt in der Natur der Sache, denn weder kann Manuel seine Stimme verstellen, noch können die beiden Komponisten und Arrangeure ihre musikalische DNA unterdrücken. Man hat nun mal seine Fingerabdrücke und Handschriften. Und trotzdem ist "Ziele" etwas Eigenständiges und von den Sternen Losgelöstes. Es ist z.B. ein ganzes Stück weit vom Artrock der Band entfernt und viel näher am Pop, als es die Meißener Sterne aktuell sind. Aber für Popmusik ist das, was auf "Ziele" zu hören ist, wiederum zu komplex, um in der gleichen Schublade zu landen, wie Produktionen aus den aktuellen Charts. Dafür ist dann doch viel zu viel Fleisch am Knochen. Beim Schöpfungsprozess von "Ziele" haben die beiden Herren in allen Bereichen echt Sorgfalt walten lassen, denn Sorgfalt ist die wichtigste Zutat, um Wertigkeit zu schaffen. Das Album wurde nicht mal eben in drei Wochen zusammen geklöppelt und eingekocht weil gerade nix anderes zu tun war, sondern man war zwischen April 2021 und Juli 2022 intensiv damit beschäftigt, das Songmaterial aufzunehmen. Dass auf "Ziele" am Ende des Tages viel mehr Popmusik als bei anderen Kollegen zu hören ist, kann man letztlich auch der Besetzungsliste der Studioband ablesen. Da tritt z.B. ein gewisser Peter Rasym bei zwei Songs als Bassist in Erscheinung, in den anderen Titeln sorgt Denis Straßburg, Bassist bei der Gruppe CYRIL, für die nötigen Tiefdruckgebiete. An den Gitarren wirken u.a. Martin Fankhänel (u.a. THE LATERISER) und Martin Schnella mit. Neben Denis Straßburg sind auch noch Clemens Litschko (Schlagzeug) und Ralf Dietsch (Gitarre) von der Gruppe CYRIL mit an Bord. Ihr seht: Hier ist handverlesenes Personal für die Umsetzung der künstlerischen Geistesblitze von Arnold/Schmid im Einsatz. Mit Ausnahme einzelner von Marek Arnold programmierter Synthie-Sounds sind alle Töne von Hand gespielt, und deren Erzeugung wurde nicht dem Computer überlassen sondern verschiedenen Musikanten mit unterschiedlichen Talenten am jeweiligen Instrument. Und was gibt es auf "Ziele" jetzt genau zu hören?

Eine ganze Menge! Wurden auf dem Vorgänger noch drei Songs der Gruppe TOXIC SMILE mit deutschen Texten versehen und für die Duo-Variante neu eingespielt, haben es heuer ein paar Kompositionen aus dem Hause CYRIL auf das Album geschafft. Dies erklärt sicher ein Stück weit auch das Mitwirken einzelner CYRIL'ianer bei den Aufnahmen dieser Platte hier. So könnten einem die Lieder "10 Milliarden Sterne", "Fantasie", "In der Mitte der Erde" und "Ankunft" bekannt vorkommen, wenn man die entsprechenden CYRIL-Scheiben bereits sein eigen nennt. Die Musik stammt jedenfalls von dort, die Texte sind für diese CD neu entstanden.
In dem das Album eröffnenden und treibend arrangierten Stück "10 Milliarden Sterne" geht es um unseren Weg hier auf Erden, auf dem wir uns alle befinden, und es handelt davon, dass wir - egal für wie wichtig wir uns halten - nur ein kleines Teilchen im Ganzen sind. Die "10 Milliarden Sterne" schauen dabei auf uns hinunter und begleiten uns.
Das Lied "Ziel des Augenblicks" soll die Hoffnung in schwierigen Zeiten nähren und gibt uns den gut gemeinten Rat mit auf den Weg, den Moment zu genießen. Das Ganze direkt auf den Punkt gebracht und - im Gegensatz zu artverwandten Liedern anderer Interpreten - nicht in Volkstümeleien abdriftend. Auch die musikalische Umsetzung des Themas haut dem Hörer die positive Botschaft nicht mit irgendeinem Happy-Clappy-Sound um die Ohren, sondern bedient sich in verspielten Passagen filigraner Töne aus dem Keyboard, die vom straight getrommelten Schlagzeug und einer feinen E-Gitarre unterstützt werden. Eine von Manuels Kolleginnen, Anna-Marlene Bicking, nannte ihre Musik mal "Kunstpop". Wenn dieser Begriff wie die Faust auf´s sprichwörtliche Auge passt, dann bei dieser Nummer hier! Womit wir wieder bei der Wertigkeit wären …
Im Titel "Fremder Strand" begegnen wir dem einzigen Text eines externen Autoren, nämlich Joachim Krause. Krause schrieb seinen letzten Text für LIFT im Jahre 1980. Das waren die Zeilen zu "Am Abend mancher Tage". Nach 42 Jahren feiert der Texter nun auf dieser CD sein Comeback, von Marek und Manuel überredet, doch für sie etwas zu schreiben. Der Text zu "Fremder Strand" greift dann ein wenig auch die Thematik zu "Am Abend mancher Tage" auf. Hier geht es um Depressionen und die Situation einer solchen wird durch Krause in klaren aber sehr gedrückten Farben gezeichnet ("Fremder Strand im Niemandsland | Im Grau und Dämmerlicht | kriecht von allen Seiten Nebel her" oder "Meine Spur zerfließt im Sand | immer tiefer sinke ich ein | jeder Schritt so unendlich schwer"). Diese Stimmung im Song wird im zweiten Teil durch positivere Metaphern und Hoffnungsgabe aufgebrochen, die verwendeten Farben werden heller ("Wind reißt die Nebel fort", "Licht wird frei zum Horizont"). Die gewählten Töne sind passend getroffen, werden von Marek am Klavier und Peter Rasym am Fretless-Bass erzeugt. Der eben beschriebene Bruch im Mittelteil wird auch durch die Musik deutlich gemacht, und diese wirkt plötzlich wie das Aufreißen eines tiefgrauen Himmels in ein wunderschönes Blau. Zum Klavier und dem Bass gesellt sich das Trommelwerk dazu, während sich Manuels Stimme erhebt. Die gesamte Nummer ist von vorn bis hinten ein weiteres Kunstwerk!
Im Song "Fantasie" geht es darum, was diese mit Dir machen kann und in wie weit sie Deine Kreativität beeinflusst. Vor allem aber, wie weit sie mit Dir gehen darf ("… auf der langen Reise nennt man Dich auch Fantasie | Ob man jemals ankommt weiß man nie"). Es wird darin aus Sicht von Manuel wohl auch die eigene Herangehensweise ans Kreativsein beschrieben. Musikalisch nimmt uns das Duo mit auf eine farbenfrohe Berg- und Talfahrt. Während die Zwischenspiele mit der dezent gespielten Gitarre eher zerbrechlich klingen, türmt sich im Refrain eine Wand aus Gitarren und Drums auf, der als besonderem Element noch Mareks Saxofon zur Seite gestellt wird. Ich wiederhole mich gerne: Auch das ist große Kunst!
Kurz vor Schluss begegnen wir dem Stück "Wände aus Papier", das nur vom Klavier und vom Gesang lebt, und in dem es heißt, "Du hörst Purples Ameisenarmee | kannst Du sie verstehen | scheint sie Dir auch hilflos | doch Du wirst sie siegen sehen". Damit beschreibt das Duo Arnold/Schmid die Coronazeit aus Sicht der Künstler. Kulturschaffende waren "hilflos", weil sie vor vollendete Tatsachen gesetzt wurden. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, sich mit ihrem Publikum zu treffen und ihrer "Berufung" zu folgen. Die Zeile mit dem "Siegen sehen" dürfte dann wohl als Kampfansage im positiven Sinne gewertet werden. Es ist aber ein leiser Kampf, denn über die Musik erhebt sich der Kämpfer nicht. Das Arrangement bleibt sachlich und ruhig, von der ersten bis zur letzten Minute. Einmal mehr werden bunte Bilder gemalt, die direkt von Manuels Lippen vor das innere Auge des Zuhörers projiziert werden. Entstanden ist dieser Text übrigens am Küchentisch in Mareks Zuhause. Wenn es dort bei Kaffee und Brötchen immer so poetisch zugeht bleibt zu hoffen, dass die beiden da noch öfter sitzen und "spinnen" werden. Ein vom Rezensenten natürlich ganz uneigennützig geäußerter Wunsch :-)
Beendet wird das Album, das neben den hier näher vorgestellten Liedern noch einige mehr im Gepäck hat, mit dem Song "Ankunft". Dies ist eine thematische Übersetzung des Originals, das einem Konzeptalbum der Gruppe CYRIL entnommen wurde. Dieses Album spielt in einer anderen Zeit, nämlich in der der Pharaonen, und hier geht es um die Schlussszene, in der der Protagonist der Geschichte seine Angebetete sucht und sich nicht damit abfinden kann, dass sie als Angestellte am Hof dadurch in den Tod geschickt werden soll, indem sie quasi als lebende "Grabbeigabe" zusammen mit der Pharaonin beigesetzt wird. Marek Arnold löste diese Schlusssequenz aus dem Konzept heraus, um es als eigenständige Geschichte für dieses Album stehen zu haben. In der überarbeiteten Fassung findet sich nun die Botschaft wieder, an eine Liebe zu glauben, sie zu suchen und zu finden, an ihr festzuhalten und sie nicht wieder zu verlieren. Musikalisch ist diese Geschichte in eine Bombast-Ballade mit E-Gitarren und Schlagzeug-Gewitter verpackt, die zusätzlich noch mit allerlei Feinheiten gespickt wurde. Ihr könnt Euch sicher denken, was ich über diese Nummer denke? Richtig! Ich will das mit der Wertigkeit und der Kunst aber nicht überstrapazieren, das versteht sich inzwischen wohl von selbst ...

"Ziele" ist ein sehr beeindruckendes Album, das mit vielen Dingen zu überraschen weiß. Die kreativen Ideen der beiden Hauptakteure und die Stimme des Sängers sind Stärken dieser Scheibe. Weitere stellen die Inhalte dar. Das gesamte Album soll dem Hörer einen Hoffnungsschimmer bieten und im Idealfall auch ein Hilfsmittel dafür sein, einen guten Weg aus einer schweren Lebenslage zu finden. Quasi ein Anti-Depressivum in Tönen und Worten. Alle Texte lassen reichlich Spielraum für eigene Interpretationen. Nur selten wird man mit der Nase direkt auf das Thema gestoßen, vielmehr bieten die Texte lediglich einen Wegweiser, wohin die Reise gehen soll. Sie sind voller Metaphern, geschickten Umschreibungen und Poesie. Die Landkarte muss der Hörer nach den gelieferten Wegweisern selbst zeichnen. Das geht hier sogar soweit, dass laut eigener Aussage von Marek auch die beiden Musiker selbst unterschiedliche Empfindungen bei den Texten haben. Zwar nicht im Gesamten aber im Detail und der weiteren Ansicht. Ein weiteres Merkmal dafür, dass man nicht nur von den Arrangements, sondern auch von den Texten meilenweit weg vom Mainstream-Pop ist. Und weil sich Zeiten immer wieder ändern, warten wir nun auf den Moment, in dem diese Kunst eine breite Öffentlichkeit erreicht und von ihr so geschätzt wird, wie es auch sinnfreier und inhaltsarmer Tinnef aus dem Tagesprogramm nahezu aller Radiostationen derzeit noch tut. Das wären doch mal "Ziele", oder?
(Christian Reder)





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