Michael Rötsch: "Alles nur Gerede" (Album)

roetsch21 20210620 1946414620VÖ: 04.06.2021; Label: Medicom Music; Katalognummer: MM2021022 Musiker: Michael Rötsch (Gesang, Gitarre), Robert Boddin (Gitarren, Bass, Orgel, Hintergrundgesang), Wolfram Schröter (Mundharmonika, Rutschgitarre), Roland Beeg (Gitarren), Andreas Saul (Mundharmonika), Reiner Müller (Gitarre), Ralf Iben (Piano), Andreas Geyer (Hammondorgel, Piano), Silvio Remus, Achim Lassen (beide Schlagzeug); Produzent: Michael Rätsch/Peter Gesang; Mastering: Jürgen Block; Bemerkung: CD im aufklappbaren Digipak, inkl. Booklet mit Abdruck der Songtexte;

Titel:
Helden • Was für ein Leben • Kaffeestube 6 bis 17 Uhr • Farbenblind • Die letzte Tour • Puppengott • Eiszeit • Entspann Dich • Schwarzer Dreckmann • Korrupt • Zucker satt • Kaffeestube 18 bis 0 Uhr/div>


Rezension:


Einleitung
Das Corona-Virus hat in der Kulturszene für viel freie Zeit gesorgt. Den Musikern und Veranstaltern war es nicht möglich, ihre Mitmenschen mit Live-Musik zu versorgen. Die Konzerthäuser blieben geschlossen, die Solisten und Bands im Zwangsurlaub. Fast 1 ½ Jahre lang! Manch einer nutzte diesen unfreiwilligen Urlaub, um daheim mal ordentlich durchzuwischen und die Ecken aufzuräumen. Dabei kamen so manche Song-Schätze zum Vorschein, die irgendwann in der Vergangenheit als noch nicht ausgereift oder als Überbleibsel einer Album-Produktion in der Schublade verschwunden - nun doch das Licht der Welt erblicken. Einer dieser fleißigen Frühjahrsputzer ist Michael Rötsch, der nun in diesem heißen Sommer und im zarten Alter von 58 Jahren mit "Alles nur Gerede" dank Corona und voller Schubladen aus mehreren Jahren Musikerdasein sein Debüt-Album vorlegen konnte.

Der Musiker
Wenn jemand mit dem Unterschied eines zusätzlichen Buchstabens genauso heißt wie unser Seitengründer, dürfte klar sein, dass er bei uns nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Aber im Fall von Michael Rötsch ist es noch mehr. Uns bei Deutsche Mugge ist er schon seit Jahren als Veranstalter des "Bluesfestivals Bad Berka" bekannt, das seit nunmehr fast 20 Jahren einmal im Jahr von ihm auf die Beine gestellt wird. Schon davor hatte er so manches Festival im Bereich Blues ins Leben gerufen, verdingte sich aber auch selbst als Musikant (Gesang und Gitarre) in verschiedenen Formationen und als Gitarrenlehrer in Jena und Weimar. Zu DDR-Zeiten gehörte Michael u.a. der Gruppe Partisan an, mit der er es bis in den DDR-Rundfunk (DT64) schaffte und zwei Alben produzierte. Weitere Stationen waren/sind Bullfrog-Blues, United Blues Artists, Three Guitars, Modern Bluesband sowie Dogma'n, wo er seit 2004 mitspielt. Alle nationalen und auch internationalen Kapellen und Projekte hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Ebenso die Auflistung seiner nebenberuflichen Aktivitäten, wie z.B. bei der Rumänien-Hilfe e.V. Weimar während der Wendezeit oder als Kultur- und Veranstaltungsmanager beim Jugend- und Kulturzentrum "Mon Ami" Weimar. Rötsch ist ein vielbeschäftigter Mann, dessen Wurzeln weit auf der Welt verteilt liegen. Auf besagtem Debüt-Album "Alles nur Gerede", das beim Label Medicom Music auf CD erschienen ist, verwirklicht sich der Thüringer jetzt selbst und bringt dem interessierten Hörer damit seine Geschichten, verbunden mit seiner Vorstellung von deutscher Rock- und Bluesmusik, zu Gehör.

Die Texte
Die 12 auf diesem Album befindlichen Lieder sind teils mehrere Jahre alt, aber bisher eben noch nicht veröffentlicht gewesen. Seit 2003 hat er sie gesammelt. Sie passten bisher einfach nirgendwo so richtig hin, insbesondere wohl auch deshalb, weil Rötsch in all den Jahren fast ausschließlich in Englischer Sprache Musik gemacht hat, diese Songs aber komplett auf Deutsch sind. Und hier überzeugt der Musiker mit der texterischen Verarbeitung von interessanten Erlebnissen und Beobachtungen, die er im Leben hatte, sowie der Vertonung von geschichtlichen "Besonderheiten" seiner Heimat Weimar.

So sind auf jeden Fall zwei Lieder zu nennen, die zusammengehören, auf der CD aber an unterschiedlichen Positionen platziert sind: "Kaffeestube 6 bis 17 Uhr" und "Kaffeestube 18 bis 0 Uhr". Es handelt sich dabei um Lieder im Stile der "kleinen Kneipe" von Peter Alexander, aber eben als Blues. Hauptschauplatz ist eine der letzten verbliebenen urigen Kneipen in Weimar, nämlich das "Euro-Café", das zu DDR-Zeiten noch "HO Kaffeestube" hieß. Der inzwischen in Rente gegangene Gastwirt meldete sich am Telefon immer mit "Kaffeestube", weil es zu DDR-Zeiten dort halt nur Kaffee und Tee, aber kein Bier oder Wein gab. Dafür aber hochprozentigen Schnaps - von früh um sechs bis nachts um zwölf. In dem Laden verkehrten damals wie heute alle möglichen Menschen, vom Zeitungsreporter über den Maler bis hin zum Obdachlosen. Sogar die Jugend aus verschiedenen politischen Lagern verbringt seine Freizeit dort. Über einzelne Charaktere dieser bunten Gäste-Mischung hat Rötsch seinen Text verfasst. Witziges Detail an diesem Stück ist, dass im Lied die originalen Hintergrundgeräusche aus der "Kaffeestube" hinein gemischt wurden. Ungewöhnlich im Blues, aber authentischer und näher dran an dem Laden geht es außer mit einem direkten Besuch dort kaum noch ...
Mit dem Stück "Die letzte Tour" setzt Rötsch außerdem seinem ehemaligen Kollegen von der Gruppe Bullfrog Blues und Freund Ringo Stilke, einigen von Euch vielleicht noch als Drummer der Gruppen MONDIE und BAYON bekannt, ein Denkmal. Dieser starb bereits im Jahre 1998 und über dieses Lied findet er nochmal den Weg zurück in die Öffentlichkeit.
Zum "Luft holen" setzte Michael mit "Entspann Dich" einen reinen Instrumental-Titel auf die siebte Position - quasi genau in die Mitte seines Albums. Hier übernimmt keine Story die Hauptrolle, sondern ein Instrument: Die Hammond Orgel. Das Lied mit Inhalt zu füllen bleibt dem Hörer und seinem Kopfkino überlassen.
Alles andere als entspannt ist die Geschichte des "Schwarzen Dreckmann", die in dem gleichnamigen Song direkt im Anschluss erzählt wird. Die hier besungene Person gab es wirklich und stellt einen dunklen Punkt in der Geschichte der Stadt Weimar dar. Der Mann war das Kind eines afroamerikanischen G.I.s und einer aus Weimar stammenden Frau. Als sogenannter Mulatte hatte er es schon als Kind nicht leicht. Dadurch, dass er schwarz war, wurde ihm das Leben stets und ständig schwer gemacht. Dies ging so weit, dass man ihn trotz Talent und Intelligenz in eine Hilfsschule steckte und ihn zu DDR-Zeiten auch beruflich nicht über den Hofkehrer in einem VEB hinaus kommen ließ. Nach der Wende hatte er dann mangels Ausbildung keine Chance mehr auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt und stand am Tage als "Schandfleck" an den verschiedensten Ecken der Stadt einfach rum, was den Vätern dieser Kulturhochburg Weimar natürlich ein Dorn im Auge war. Er trank dort immer Bier, hatte einen herunter gekommenen Anzug an und sprach kaum ein Wort. Das Sprechen hatte er da schon fast verlernt. Michael Rötsch recherchierte die Geschichte des Mannes, lernte ihn auch persönlich kennen, und verewigte sein Leben letztlich in diesem Lied. Sehr beeindruckend und tief unter die Haut gehend!
Dies sind nur ein paar Beispiele der Geschichten und Stories, die einem auf dem Album begegnen. Es gibt noch mehr.

Die Musik
Das Album ist mit seinen vielen verwendeten Blues-Spielarten unheimlich breit aufgestellt. Es begegnen einem neben dem klassischen Chicago-Blues, dem Texas-Blues und dem Delta-Blues auch der Südstaaten-Blues, einfache Shuffle-Nummern und Blues-Balladen, aber eben auch Titel, die als reiner Rock bezeichnet werden können. Dies hat zur Folge, dass man auch nach mehrmaligem Hören immer wieder etwas Neues entdeckt, das einem vorher nicht aufgefallen ist. Dass dies so geworden ist, ist reiner Zufall, denn - wie schon erwähnt - sind die Lieder alle zwischen 2003 und 2020 entstanden und auch zu unterschiedlichen Zeiten und in drei verschiedenen Studios mit diversen Musikanten, u.a. von Double Vision, Kirsche & Co., Cotton Men Blues Band, Dogma'n und BAYON, aufgenommen worden. Trotzdem hat das Album einen harmonischen und sich durch die Platte ziehenden "Grundton", den es dem Mixer Jürgen Block zu verdanken hat, der die Demos und Grundbänder alle nochmals neu gemischt und mit ordentlich Wumms versehen hat. So wurde aus einer Sammlung von noch nicht verwendeten Texten und Kompositionen ein deutsches Liederalbum mit verschiedensten Blues-Stilistiken, das der Künstler selbst wegen seiner unterschiedlichen Gangarten für gewöhnungsbedürftig hält.

Fazit
Ich habe mich mit diesem Album nun ganze drei Tage beschäftigt. So lange wie noch mit keinem anderen Album aus dem Blues-Bereich. Zu komplex sind die Themen, zu viel wird einem hier erzählt und zu verspielt ist die musikalische Umsetzung. Jeder Song ist im Booklet mit einer Zeichnung verbunden, die ein Freund von Michael gemacht hat, und die dem Hörer beim Durchblättern nochmals einen besonderen Farbton mit auf die Reise geben. Auf das Gesamtwerk kann der Musiker durchaus stolz sein, aber Michael Rötsch ist niemand der stolz darauf ist, was er kann oder gemacht hat, sondern vielmehr darauf, dass er gut mit Menschen umgehen und sich in sie hinein fühlen kann. Empathie und das Auge für Dinge, die den meisten von uns wohl nicht auffallen würden, sind seine Stärken, die er in Verbindung mit Ironie und manch zwinkerndem Auge vermischt, und für sein Songwriting einsetzt. Kein Wunder also, dass ihm Lieder wie "Schwarzer Dreckmann" oder eben die Sozialstudie in den "Kaffeestuben" so gut von der Hand und der Zunge gehen. Wer sich das Album "Alles nur Gerede" zulegt, hat die Ereigniskarte in seinem Spiel des Lebens gezogen. Was ihm schon beim ersten Hören widerfahren wird, gleicht einem unerwarteten Abenteuer in unentdecktes Land. Du bist der Meinung, im Blues ist Dir schon alles begegnet? Du täuscht Dich gewaltig! Inhalte, die den Kopf zum Denken anregen, und Musik, die direkt in Bein und Blut gehen, bilden die Leitplanken für ein tolles Album!
(Christian Reder)





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