Interzone: "Letzte Ausfahrt" (Album)

lp04 20190828 2092307625VÖ: 15.03.2019 (Vinyl), 13.09.2019 (CD); Label: Jim Rakete/Repertoire Records; Katalognummer: nnb; Musiker: Heiner Pudelko (Gesang, Mundharmonika), Trotter Schmidt (Bass), Hans Wallbaum (Schlagzeug), Mario Schulz, Leo Lehr (beide Gitarre), Aki Furi (Keyboards); Texte: Wolf Wondratschek; Kompositionen: Interzone; Bemerkung: Zuerst in einer auf 500 Exemplare limitierten Auflage als Schallplatte, ein halbes Jahr später dann auf CD erschienen. Das Album beinhaltet Aufnahmen aus dem Jahre 1979, die damals nicht freigegeben und erst 40 Jahre später veröffentlicht wurden. Die Titel auf der CD sind identisch mit denen auf der Platte;

Titel:
Seite 1: Café Capri • Liebeslied • Das alte, sentimentale Gefühl • R&R Freak • Gizeh • Picknick auf einer Blutfontäne
Seite 2: Letzte Ausfahrt • The Ticket That Exploded • Henry Miller geht wieder auf den Strich • Supergirl • Wartehalle 9 • Apartment 302


Rezension:
Bisher hieß es in der Bandbiographie immer nur lapidar, INTERZONE hätte am Anfang der Laufbahn keine eigenen Texte geschrieben, sondern Kompositionen zu Gedichten von Wolf Wondratschek gemacht. So wie andere Bands in ihren Anfängen Lieder anderer Kapellen nachgespielt haben, so haben halt INTERZONE auf ihren Konzerten Fremdtexte zu eigener Musik gespielt. Quasi als Aufwärmprogramm zu dem, was sie später auf drei Langrillen veröffentlichten. So konnte man das interpretieren. Was für eine irre Story aber dahinter steckte, und dass die Kapelle sogar schon das Konzept für ein komplettes erstes Album mit diesen Gedichten und Kompositionen hatte, das letztlich aber wieder verworfen werden musste, dürfte bis zum Frühjahr dieses Jahres wohl nur wenigen Insidern bekannt gewesen sein. Eben erwähnte Texte von Wondratschek, die man dessen Buch "Chucks Zimmer, Gedichte" entliehen hatte, hatte INTERZONE bereits als Demos aufgenommen und hätte sofort loslegen können, sie im Studio final einzuspielen und auf Platte auf den Markt zu bringen. Sogar ein Plattenlabel hatte einen unterschriftsreifen Vertrag für die Musikanten bereit liegen. Nur einer machte nicht mit: Der Dichter! Damals, Ende der 70er, war ein Plattenvertrag gleichzusetzen mit einem Lottogewinn. Heute, wo jeder zweitklassige Triangel-Spieler Kinderlieder von Zuckowski neu vertonen und auf CD rausbringen kann, ist das nichts Besonderes mehr, aber damals … Zwischen dem großen Glück (und vielleicht einem großen Erfolg) lag nur die Entscheidung des Textdichters, der zu dem Zeitpunkt aber fand, dass in seinen Zeilen auf Papier schon genug Rock'n'Roll stecken würde und dass man da nicht noch weiter dran basteln müsse. Eine einer Absage gleich kommende Antwort holte sich damals Jim Rakete ab, der nicht nur Fotograf und Musikmanager (u.a. für Nina Hagen, SPLIFF) war, sondern auch die Jungs von INTERZONE unter seine Fittiche nahm. Er stellte dem sich damals in New York aufhaltenden Wondratschek bei einem nächtlichen Telefonat die Idee vor, seine Texte mit der Musik von INTERZONE zu verbinden. Damit wollte sich der Dichter aber nicht so recht anfreunden und verlangte - damit es aber trotzdem umgesetzt hätte werden können - die seiner Meinung nach angemessene Entlohnung von 250.000 DM für die Verwendung seiner Arbeiten. In weiser Vorausahnung, dass keine Plattenfirma der Welt so viel Kohle für das Debüt-Album einer jungen Kapelle auf den Tisch des Hauses legen würde, hatte Rakete abgewunken. Jegliche weitere Mühe, Wondratschek umzustimmen, wäre da wohl vergebens gewesen. Die Ideen und die Demos verschwanden anschließend im Keller, und INTERZONE arbeitete an eigenen Texten, die überwiegend von Heiner Pudelko stammten, und anderen Liedern, die letztlich 1981 auf der ersten LP "Interzone" erschienen. Statt "Café Capri", "Das alte, sentimentale Gefühl" und "Letzte Ausfahrt" hießen die Songs dann "BLNW", "Blues" und "Hintermänner". Wäre das so nicht passiert, man hätte diese Geschichte für einen Roman erfinden müssen.

Fast 40 Jahre schlummerten die Wondratschek-Vertonungen von INTERZONE nun im Keller der Witwe von Heiner Pudelko. Von der damaligen Band lebt heute nur noch der Schlagzeuger Hans Wallbaum. Alle anderen, allen voran die Stimme dieser Band, die es kein zweites Mal in diesem Universum gibt, sind bereits voraus gegangen. Irgendwann vor ein paar Monaten unternahm Jim Rakete, der offenbar immer noch einen Kontakt zu Wolf Wondratschek pflegt, einen neuen Anlauf, dem Texter das Konzept von damals schmackhaft zu machen. Und dieses Mal fand Wondratschek Gefallen an der Idee und gab seinen Segen. Zwar ist der Dichter immer noch der Meinung, dass Gedichte auf Papier und nicht in ein Lied gehören, aber heute, 40 Jahre später, sieht er in der Veröffentlichung der Vertonungen kein Problem mehr. Jim Rakete konnte die Demos nun verwenden und die Arbeit der Band endlich der Öffentlichkeit vorstellen. Dies passierte bereits im Frühjahr auf radioeins rbb in einer zweistündigen Sendung, in der Jim Rakete und Wolf Wondratschek, sowie das letzte noch lebende Gründungsmitglied von INTERZONE, Hans Wallbaum, zu Gast waren. Dort wurden die Lieder gespielt und über die hier kurz angerissene Geschichte geredet. Am 15. März dieses Jahres erschienen die Lieder schließlich auf einer Schallplatte, die "Letzte Ausfahrt" genannt wurde, auf 500 Exemplare limitiert und inzwischen schon längst vergriffen ist. Und weil die Nachfrage so überraschend hoch war, kommt dieses Album am 13. September 2019 bei Repertoire Records auch auf CD heraus.

"Das war eine Sprache der Straße, die wir auch verstanden haben, ganz ohne Anglizismen", sagt Hans Wallbaum in eben jenem Gespräch über Wondratscheks Gedichte bei der Vorstellung der Lieder in Berlin. Auch, dass Pudelko ziemlich vernarrt in diese damals so innovative Textkunst des Wolf Woldratschek war, wurde dort erwähnt. Und nur das, wovon man wirklich überzeugt ist, lässt sich auch das Publikum überzeugend zu Musik machen. Musikalisch in einer Mischung aus AC/CD, den Stones und einer gehörigen Beilage aus dem Hause INTERZONE knattert die Platte dann auch mit "Café Capri" los. Zu hören ist der erste von zwölf vertonten Texten, die in Verbindung mit dieser heißen Musik so lange im Dunkeln und versteckt für jedes Ohr, das sie in der Form nicht hören durfte, lagen. Und die Nummer greift nicht nur sofort ans Bein, sondern erreicht auch den Kopf. Da wirkt was zusammen, das sich nicht auf den ersten Blick beschreiben lässt, das aber schon beim ersten Hören funktioniert. Man fühlt sich wirklich - wie im Lied besungen - wie "ein Raumschiff mitten im Straßenverkehr".
Weiter geht es mit einem Blues-Schleicher, der "Liebeslied" heißt. Im Vordergrund stehen neben dem Inhalt und Pudelkos Stimme die 60's Gitarre und die Mundi, die Dir gleich mehrere Gänsehautschübe von unten nach oben den Rücken hoch schicken.
Schon "Das alte, sentimentale Gefühl" legt gleich wieder ein paar Takte zu. Ein feiner Blues entfaltet seine ganze Schönheit. Eine mitreißende Nummer mit kleinen locker-leichten Zwischenspielen, die Wondratscheks Zeilen herrlich in Szene setzen.
Gleiches löst "R&R Feeling", aus und versetzt den Hörer tatsächlich ein Rock'n'Roll-Feeling. Ein feiner 70er-Sound klopft sacht an die Tür zu den 80er an, um gleich im nächsten Moment und beim Song "Gizeh" wieder einen Schritt zurück zu machen. Hier werden die ganz alten Blues- und Jazz-Fans an sich zu binden. Der Schleicher entstand unter Einsatz von Schlagzeug, Kontrabass, Hammond-Orgel und dieser wunderbar klingenden Gitarre Leo Lehrs.
Und so ergreift diese Platte mit jedem weiteren Lied Besitz von Deinem Freudenzentrum im Hirn und lässt Dich zwischen dem Wunsch, einfach nur zuhören zu wollen und mal ordentlich zur Musik abzuhotten, hin und her schwanken. Unsereins hat Rücken und verzichtet auf die zweitgenannte Option, ist aber nicht weniger begeistert und würde, wenn er könnte … Egal welchen für die bessere Beschreibung der Musik dienende "Klingt wie"-Vergleich man auch immer hier hernehmen würde, ganz deutlich ist jedem einzelnen Song die weiter oben erwähnte "Beilage aus dem Hause Interzone" herauszuhören. Es ist der typische Sound dieser Berliner Band, den keine andere damals in Deutschland hatte. "Picknick auf einer Blutfontäne" bringt gar ein bisschen Country mit und bei "The Ticket That Exploded" winken Dir von Weitem sogar die Herren von THE WHO zu. Dazwischen immer wieder diese Blues-Klopper wie "Henry Miller geht wieder auf den Strich" oder dem das Album seinen Namen gebenden "Letzte Ausfahrt". Egal, in welch Kleider aus Tönen die Männer von INTERZONE Wondratscheks Texte gehüllt haben, sie stellen den Schreiber in den Lichtkegel, der ihn als Popstar unter den Dichtern hell leuchten lässt. "Seine Gedichte sind wie Schüsse in ein Herz, das für die starken Dinge des Lebens schlägt", schrieb die Frankfurter Neue Presse mal über seine Werke, und tatsächlich darf man sich nun auch über diese Lieder hier davon überzeugen, dass man es hier mit etwas Großem zu tun hat.

INTERZONE ist es gelungen, 12 Klassiker der Gegenwart in Lieder zu verwandeln. Es ist müßig jetzt darüber zu diskutieren, welchen Verlauf die Karriere dieser Band genommen hätte, wäre "Letzte Ausfahrt" das Debüt-Album der Berliner Band gewesen, und nicht das nach ihnen selbst benannte Album "Interzone". Womöglich hätten sie eine Tür weit aufgestoßen, die sie über Nacht in die große weite Musikwelt hinaus getragen und ganz oben in der Szene hätte ankommen lassen. Wer weiß das schon, vielleicht hätten sie die Leute im Land mit diesen Liedern auch nur verunsichert oder überfordert. Immerhin kamen kurz darauf ja der wesentlich leichter zu verdauende "Knutschfleck" und die "kleine Taschenlampe", die brannte. Fakt ist aber, dass die Platte hier ein echtes Brett ist. Schwer, kantig, erdig riechend und sich rau anfühlend. Du kannst Dir diese CD (oder wenn Du der Glückliche bist, der eines der 500 Vinyls abgestaubt hat, auch die Platte) in jeder Gefühlslage anhören - laut oder leise, einmal oder mehrfach. Sie wird immer ihre Wirkung zeigen. Hier hat ein Meisterwerk vier Dekaden in der Versenkung auf den Startschuss gewartet, der nun Gott sei Dank doch noch gekommen ist. Wir hätten eine wahre Schönheit sonst wohl nie zu sehen - in diesem Fall zu hören - bekommen. Danke Wolf. Danke Jim. Und Danke INTERZONE!
(Christian Reder)