ALPHAVILLE: "Strange Attractor" (CD Album)

lp19 20170511 1076251841VÖ: 07.04.2017; Label: Polydor/Universal; Katalognummer: 0602557404258; Musiker: Marian Gold (Gesang), Carsten Brocker (Tasteninstrumente), Alexandra Merl (Bass), David Goodes (Gitarre), Jakob Kiersch (Schlagzeug); Produzent: Alphaville, Andreas Schwarz-Ruszczynski; Bemerkung: CD Album im Jewel-Case (Plastikhülle). Auch als Schallplatte (Doppel Vinyl) mit vier Bonustracks ("Mafia Island (MMXII.2)", "Heartbreak City (MMXII.5)", "A Handful Of Darkness (MMIV.1)", "Around The Universe (MMIV.2)") erschienen - alle Texte im beiliegenden Booklet/Plattentaschen;

Titel:
Giants • Marionettes With Halos • House Of Ghosts • Around The Universe • Enigma • Mafia Island • A Handful Of Darkness • Sexyland • Rendezvoyeur • Nevermore • Fever! • Heartbreak City • Beyond The Laughing Sky


Rezension:
Was ist in all den Jahren, in denen es die Gruppe ALPHAVILLE gibt, gleich geblieben? Die Besetzung? Bekanntlich nicht! Der Sound der Band? Ganz sicher nicht! Aber was ist dann das deutliche Markenzeichen, dass diese Band unverkennbar ALPHAVILLE sein lässt? Es ist die Stimme von Marian Gold, die auch nach 35 Jahren scheinbar so nichts an ihrem Glanz und ihrer tiefgehenden Substanz verloren zu haben scheint. Diese Stimme mit der hohen Wiedererkennbarkeit, die wie ein glühender Strahl von 1983 bis heute Erfolgs- und Misserfolgsphasen ebenso wie musikalische Experimente und Auf-Nummer-Sicher-Kompositionen links und rechts von sich hat liegen lassen. Auch ohne das neue Album "Strange Attractor" bereits gehört zu haben darf man sicher sein, dass es auch im Jahre 2017 so ist, dass sich da nichts geändert hat. Soviel sei an dieser Stelle schon verraten.

Und nun liegt sie vor mir und in meinem CD-Player, die neue CD, die auch als Doppel-Album auf Schallplatte erschienen ist. Knapp sieben Jahre nach "Catching Rays on Giant", diesem fulminanten Studioalbum, das nach über 13 Jahren Platten-Abstinenz im Herbst 2010 das Licht der Welt erblickte, kehren ALPHAVILLE nun mit "Strange Attractor" zurück. Anders, als man es erwartet hat, und sieben Jahre nach dem Vorgänger!
Eine ziemlich finstere Ballade mit dem Titel "Giants" bildet zum einen die Staffelstab-Übergabe vom Vorgängeralbum zum neuen Werk, und zum anderen den Start in eine neue Phase musikalischer Veränderungen. Wenn ich schreibe "ziemlich finster", so ist das für diese in Moll-Tönen gehaltene Nummer wohl die einzig richtige Beschreibung. Eine Konzertgitarre leitet den Song ein, in dem Marian eher zurückhaltend und mit tiefer Stimme den Inhalt transportiert. "I Hate To Sleep | But I Love To Dream", singt er da. Es wirkt wie eine zu Musik gewordene Trauerphase, die einen sofort am Anfang dieses neuen Albums empfängt. "Strange", also "fremd", wie es der Albumtitel schon verkündet. Und "Attractor" steht für eine gewisse Anzahl von Zuständen, auf die sich ein dynamisches System im Laufe der Zeit zubewegt.
Schon der zweite Song "Marionettes With Halos" vertritt dann auch gleich einen anderen "Zustand", denn hier ist die Grundstimmung eine komplett andere. Musikalisch ist man hier im elektronischen Bereich ganz dicht am Puls der Zeit. Die Beats hämmern ordentlich und die Melodie setzt sich schnell im Ohr fest. Hier noch einen Marschschritt digital erzeugt, eine funky Gitarre eingewoben und fertig ist eine tanzbare Nummer mit der man sich sehr gut mit den derzeitigen Chart-Besetzern messen und diese durchaus um Längen schlagen kann. Das schreiende Gitarren-Solo zum Ende hin ist ein kleiner Höhepunkt in dem Stück, das zwar irgendwie typisch ALPHAVILLE ist, aber trotzdem neu, knackig, frisch und keinesfalls retro klingt.
"House Of Ghosts" klingt so, wie der Titel es suggeriert. Mystisch, geheimnisvoll und undurchsichtig. Auch in dieser ruhig arrangierten Nummer mit klassischen Keyboard-Sounds erkennt man die Band wieder, die man schon in den 80ern lieben gelernt hat. Ebenso ruhig kommt "Around The Universe" daher, ein Anwärter für die nächste Klammerblues-Runde, deren vom Synthie erzeugter Klangteppich und Marians Art des Vortrags mehrfach die berühmt-berüchtigte Gänsehaut entstehen lässt. Die will dabei gar nicht mehr weggehen. Ja, dafür schließen wir Dich in unsere Gebete ein, Marian!
Ebenfalls in ruhigen Fahrwassern gleitet "Enigma" dahin und leitet zu "Mafia Island" über, das wieder diese Finsternis in sich hat. Synthie-Teppiche, Drum-Computer und besonders auch Marian sind hier tragende Säulen. Die Stimmung, die dieser Song erzeugt, lässt sich nur schwer in Worte fassen, wirkt bei geschlossenen Augen allerdings ziemlich unwirklich und gedämpft. Wer mental gerade nicht ganz ausgeglichen ist, sollte den Song lieber ein andermal hören. Aus dieser schweren Gemütslage will sich das Lied letztlich auch nicht befreien und man kehrt damit insgesamt auch zum Opener zurück, der uns mit ähnlicher Schwermut wenige Minuten vorher schon begrüßte.
Das folgende "A Handful Of Darkness" ist wieder eine dieser typischen Stücke im ALPHAVILLE-Sound. Wie schon "Around The Universe" scheint dieses Lied ein geeigneter Kuschelrock-Anwärter zu sein, wäre da nicht der Inhalt. Es geht in dem Song um Krieg und um den Tod unschuldiger Kinder. Die zum Thema gewählte Musik soll hier zusammen mit der Aussage, man treffe sie in Träumen wieder und sie warteten im Paradies, eher tröstend wirken als Soundtrack der Zweisamkeit sein. Gänsehaut pur erzeugt das Stück trotzdem, egal von welcher Richtung aus man es betrachtet. Besonders der Kinderchor am Ende ...
Mit "Sexyland" beginnt dann der zweite Teil des Programms auf "Strange Attractor". Vorbei die ruhigen Melodien, Melancholien, Schwermut und dezenten Arrangements. Hier ballern die Beats los, die Gitarren drehen auf, und Marian Gold ebenso. Als schüttele er hier gerade all den Ballast der vorher zu hörenden, teils bedrückenden Themen ab, lässt er seinem Instrument, der Stimme, freien Lauf. Die Nummer zieht einen von Anfang an mit und weiß mit seinen vielen kleinen Nuancen zu überraschen. Einmal eingegroovt setzt man mit "Rendezvoyeur" noch eins oben drauf. Die Nummer klingt wie ein Remix von THE BOSS HOSS. Eine im Country-Stil wie von Johnny Cash gespielte Gitarre würzt das flott arrangierte Stück vom Feinsten und der Beat geht direkt ins Bein. Ein echtes Brett für den Tanzboden.
Bei "Nevermore" lassen THE SISTERS OF MERCY grüßen. Die dicht gepackte Nummer mit seinen Gitarren- und Synthie-Sounds erinnert stark an die britische Dark-Wave-Kapelle, nur Marian klingt überhaupt nicht wie Andrew Eldritch. Ein Glück! Auch dieses Stück reißt einen aus dem Sessel und das Zucken im Bein kommt nicht etwa von einem vorher noch nicht entdeckten Nervenleiden, sondern wird tatsächlich von diesem Song ausgelöst. Das Hinzuziehen eines Arztes ist also nicht erforderlich, nur etwas Beinfreiheit im Wohnzimmer.
Wenn wir schon bei Vergleichen sind ... Das folgende "Fever!" hat deutliche Züge vom DURAN DURAN-Sound der letzten Jahre gemischt mit Retro-Sounds der 70er. Aber auch hier scheint dies nur so zu sein, denn ALPHAVILLE zeigt sich einmal mehr von der vielseitigen Seite und macht dem Album-Titel alle Ehre. Die Experimentierfreude der Band macht richtig viel Spaß und "Fever!", dieser wunderbare Diskotheken-Reißer mit Ohrwurm-Gefahr, ist ein weiteres Teil dieses Puzzles, das am Ende das gesamte Werk "Strange Attractor" ausmacht.
Das folgende "Heartbreak City" ist dann mein persönlicher Favorit auf dem Album. Hier zeigen Marian Gold und seine Jungs und Mädels den Kollegen von den SCISSOR SISTERS, wie ihre Musik in geil klingen könnte. Ein Synthie-Teppich breitet sich aus, eine funky Gitarre kommt dazu und Marian Gold überzeugt auch in den ganz hohen Tonlagen mit souveräner Haltung. Ein fetter Bass blubbert sich angenehm in die Magengegend und der Refrain bohrt sich tief ins Ohr und in den Teil des Hirns, der eine hammergeile Melodie so schnell nicht wieder in Vergessenheit geraten lassen will. Dieses Stück will ... ach was ... MUSS laut konsumiert werden und verlangt im Anschluss umgehend nach einer Wiederholung. Ihr werdet sehen ...
Nach einer Reihe von treibenden Pop-Knallern endet das Album wieder mit einer eher ruhigen Nummer. Die Ballade heißt "Beyond The Laughing Sky" und versprüht eine deftige Prise 70er Rock und Pink Floyd in den Raum. Gitarren-Solo inklusive. Und auch hier drückt die Band der Nummer ihren eigenen Stempel auf und lässt sie im ALPHAVILLE-Licht erstrahlen. Fantastisch!

Als ALPHAVILLE im Jahre 2010 mit dem letzten Album um die Ecke kamen war ich hellauf begeistert. Der Sound, die Melodien, die Songideen und natürlich der hier schon oft genannte Gesang des Marian Gold versetzten mich in Hochstimmung. Eins fiel damals schon auf: Mit "Forever Young" und "Big In Japan" hatte das nicht mehr viel zu tun, auch wenn man deutlich ALPHAVILLE hörte. Die Band hatte sich weiterentwickelt. Im Jahre 2014 verlor Mastermind Marian Gold in Martin Lister seinen genialen Doppel-Partner in Sachen Songwriting und Arrangement. So ein Einschnitt bleibt nicht ohne Folgen. Im Leben nicht, und beim Musikmachen schon gar nicht. Und so erfuhren die seit 2012 für dieses Album bereits entstandenen Lieder auch deutliche Veränderungen. Fans der ersten Stunde werden ihre Band nicht wiedererkennen und sicher auch 'ne Menge zu Meckern haben, aber für mich ist "Strange Attractor" eine logische Weiterentwicklung von "Catching Rays On Giant". Die Band strotzt vor Song- und vor allen Dingen auch Sound-Ideen. Die Umsetzung ihrer Lieder von den ersten Entwürfen zum endgültigen Musikstück scheinen nicht nur durchdacht, sondern wirken in sich geschlossen und genau so beabsichtigt. Dazu kommt diese Vielfalt an Sounds und Stilistiken innerhalb eines Albums. Hier muss ganz offensichtlich fleißig getüftelt worden sein. Von Langeweile oder Eintönigkeit kann hier überhaupt nicht die Rede sein. Fremd mag das neue Material auf den ersten Blick klingen, ja ... Aber dieses Album möchte in Ruhe gehört und erkundet werden. Die Lieder brennen sich schnell ins Gedächtnis, machen Spaß und es wächst das Verlangen nach mehr. Wer genau hinhört wird feststellen, dass neben Marian Golds Stimme noch eine Konstante geblieben ist: Die Lust auf neue Elemente in der Musik, auf Voranschreiten im Beruf und auf Expeditionen. Ich werde dieses Album jedenfalls in der nächsten Zeit noch oft genießen und freue mich trotzdem schon jetzt auf die nächste Stufe ... das nächste Album!
(Christian Reder)

 


 


Albumplayer (alle Songs zum Anhören):






   
   
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