wittich 20150608 1229093992 Titel:
Interpret:
Label:
VÖ:

Titel:
"Ich"
Joachim Witt
SPV
5. Juni 2015 (digital)

1. Über das Meer
2. Was soll ich Dir sagen
3. Warten auf Wunder
4. Bitte geh mir aus dem Weg
5. Hände hoch
6. Lagerfeuer
7. Wieviel mal noch
8. Tod oder Leben
9. 1971 (oder "Ein Mädchen aus Amerika")
10. Es wirbeln die Äste
11. Alles was ich bin
12. Ole (Klub)
13. Nachtflug

Anmerkung: physisch, also auf CD und Schallplatte, erscheint das Album zwei Monate später als digital. "Ich" wird als Doppel-CD und Vinyl-Album veröffentlicht.





Immer wieder wundere ich mich, wie rastlos Joachim Witt in Sachen Musik ist. Dabei erinnere ich mich noch daran als wäre es gestern gewesen, wie Joachim Witt seine Solokarriere in den 80ern startete. "Kosmetik" hieß der Song, mit dem er damals im ZDF auftrat. Auf minimaler Ebene mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und dezentem Keyboard musizierte er dort mit seiner Band. Es folgte der heute zum Evergreen gereifte "Goldene Reiter" und mein persönlicher Lieblingssong aus seinem Repertoire, "Tri Tra Trulala (Herbergsvater)", die vom Arrangement her aus gleichem Holz geschnitzt sind. Der Erfolg gab ihm damals Recht. Witts Karriere ist aber durchzogen von Höhen und Tiefen. Unfreiwillig in die Neue Deutsche Welle gerutscht, in dessen Fahrwasser er erfolgreich Platten veröffentlichte und zu deren Ikonen Witt heute zählt, folgte für ihn eine Zeit der kommerziellen Misserfolge. An der Musik lag es nicht, dass es nicht lief. Allein sein "Hörner in der Nacht" ist ein zeitlos schönes Stück, das völlig zu Unrecht von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde und letztlich gefloppt ist. Vielleicht hatte er damals einfach zu abrupt seinen Stil und sein Auftreten verändert, so dass das Publikum überfordert war. Man weiß es nicht. Aber das war schon damals so wie heute: Joachim Witt wechselte die Musikstile wie sein Erscheinungsbild. Ende der 80er war Witt der Popper, in den 90ern der Raver, in den 2000ern ein Teil der schwarzen Szene und heute der Paradiesvogel mit langen Haaren und pompösem Outfit. Heute wirkt er wie der (wahre) Graf des Deutschrock ... edel, stattlich und souverän. Optisch wie auch in seiner Musik. Überhaupt: Egal, was er in all den Jahren musikalisch machte, er machte es stets aus Überzeugung und mit voller Hingabe. Witt ist Musiker durch und durch. Voller Ideen und Tatendrang. Kein Album ist wie das andere. Selbst seine Bayreuth-Reihe, die einen roten Faden verfolgt, weiß durch überraschende Momente und unerwartete Wendungen zu überraschen. In den letzten Jahren erschienen mit "Dom" (2012) und "Neumond" (2014) zwei Alben, die unterschiedlicher nicht sein können. Mit "Ich" folgt nun das dritte Werk in drei Jahren und wieder ist nichts, wie bisher ...

Das Album trägt ein ganz bestimmtes Merkmal: Minimalismus. Witt verzichtet hier auf sämtlichem pompösen Schnickschnack, der von Inhalten oder Songideen ablenken könnte. Es ist die pure Musik in seiner absoluten Reinheit, die der Musiker mit seiner Band hier eingefangen hat. Gewürzt mit der einen oder anderen Feinheit, ist sie doch eher schlicht und überwiegend akustisch arrangiert. Stellenweise erinnert die Musik an die der ersten Alben "Silberblick" und "Edelweiss", aber auch andere Phasen seiner Karriere scheinen durch. Inhaltlich überlässt Witt seinen Hörern oft die Aufgabe, seine Texte zu interpretieren und zu deuten. Nicht immer will er deutlich sagen, was er sagen will. Auszugsweise möchte ich Euch das Album jetzt kurz vorstellen ...
Es startet mit dem vorab schon veröffentlichten Titel "Über das Meer". Krähengeschrei leitet einen musikalisch sehr trägen Song ein. Doch "träge" ist hier nicht negativ gemeint. Die eher schleppend arrangierte Musik transportiert die benötigte Stimmung, in der sich der Inhalt entfalten kann. Es ist ein Lied über die Flucht in sich selbst, über das Suchen nach Kraft und eine gewisse Selbstreinigung in Momenten, wo man meint, es geht nicht mehr weiter ("Über das Meer flüchtet der Wind | Nimmt alles mit, was nicht mehr stimmt | Doch meinen Mut, lässt er bei mir | Auf jeden Fall, ein gutes Quartier"). Schon hier macht Witt deutlich, dass er seine neue CD nicht in irgendeinem Party-Keller zum Einsatz gebracht habe möchte. Die Lieder haben einen anderen Anspruch und sollen nichts anderes, als unsere Aufmerksamkeit bekommen.
Ein Lied wie "Hände hoch", das eine Art Marschbeat als Grundlage hat, zieht den Hörer mit seinem sphärischen Keyboard-Sounds und der passgenau angelegten Gitarrenfigur mitten ins Geschehen. Die Geschichte des Songs tut ihr Übriges dazu, und beides ergibt eine echte Hymne.
Auch das 15. Studioalbum des Künstlers birgt Überraschendes. Ohne Frage ist "Lagerfeuer" ein solches Stück. Ein 70er Jahre Orgelsound vermischt sich mit akustischer Gitarre. Leise wird der Song eingeleitet, dann kommen Keyboards, Schlagzeug und Stromgitarre dazu. Es entsteht ein Teppich für Witts rauchige Stimme, mit der er einmal mehr Bilder mit Worten malt. Mit dazu gibt's einen "Na na na na na"-Chor, der live sicher für einen von vielen Gänsehautmomenten sorgen wird.
Der Titel "Wieviel mal noch" wird mit einer im Country-Stil gespielten Gitarre eröffnet. Beim ersten Hören erinnerte mich das Lied doch stark an die "Kapitän der Träume"-Phase Anfang der 90er, dabei ist das definitiv keine Popmusik a la Annette Humpe, die hier zu hören ist. In einer ruhig seine Kreise ziehenden Nummer stellt sich Witt die Fragen, "Wieviel mal noch werden Träume entsteh'n? Wieviel Mal noch werden Träume vergeh'n", in Hinblick auf den Menschen und darauf, dass sich über all die Jahrhunderte nichts an seinem Verhalten und Handeln geändert hat.
"Tod oder Leben" beschreibt die eingangs schon auf Witts Karriere beschriebene Achterbahn des Lebens, in der es nun einmal von Natur aus auf und ab geht ("Immer nur rauf hemmt jedes Glück | Immer bergab wirst Du verrückt"). Musikalisch wieder in akustischen Rock gekleidet, überzeugt die Nummer auf ganzer Linie. Und wer bis jetzt noch einen Beweis dafür brauchte, dass sich Witt bei der Musik zum neuen Album an seinen eigenen Wurzeln orientiert, dürfte spätestens beim Refrain fündig werden. Ein weiteres Highlight auf einer bis jetzt tollen CD!
Eine Zeitreise ins Jahr 1971 unternimmt der Sänger mit seinen Hörern im Song "1971 (oder ein Mädchen aus Amerika)". Biographisches, vermischt mit Zeitgeschehen aus diesem für Witt offenbar speziellen Jahr, verwandelt in ein zu Musik gewordenes Tagebuch - spannend und nostalgisch.
Mein absoluter Favorit auf dem Album ist der Song "Alles was ich bin". Es ist ein knapp 4-minütiges Dankeschön von Joachim an seine Mutter, die ihn maßgeblich geprägt hat und großen Einfluss auf ihn hatte. Mehr noch: Sie hat ihm Werte vermittelt und in seiner Entwicklung unterstützt. Mehr sprechend und weniger singend bewegt sich Witt auf einem Teppich aus Syntie- und Gitarrenklängen, ergänzt durch einen ruhig operierenden Rhythmusverbund aus Schlagzeug und Bass. Traurig und schön zugleich, zeigt dieses Lied auch eine andere Facette des Sängers, nämlich die familiäre und gefühlvolle Seite.
Mit "OLE (KLUB)" gibt es am Ende - auf der CD wahrscheinlich schon als Bonus Track - noch eine kleine Rückkehr zum "Neumond". Hier dominiert die Elektronik und der künstlich erzeugte Beat. In guter alter Dark Wave-Manier erinnert Witt nochmals an die Musik auf dem Vorgänger-Album. Auch das letzte Stück auf dem Album, "Nachtflug", sticht aus dem bisher gehörten heraus. Dieses in Funk und Soul der 70er und 80er arrangierte Lied, das eine tanzbare Diskonummer geworden ist, bildet einen überraschenden Abschluss eines bemerkenswerten Albums.

Mag sein, dass Joachim Witt in Sachen Musik und Arrangement vieles auf sein neues Album übertragen hat, mit dem er schon früher gearbeitet hat. Das heißt aber nicht, dass hier der Teebeutel ein zweites Mal aufgegossen wird. Es ist kein Kauen auf altem Brot, sondern eine bunte Mischung aus neuen Ideen und altbewährtem Stoff. Mag auch sein, dass "Ich" keinen neuen Megahit für Joachim Witt bereit hält. Dafür ist die Musikwelt da draußen inzwischen viel zu oberflächlich und auf Scheiße orientiert. Der Massengeschmack ist von vertonten Botschaften und in Melodien gekleidete Lyrik einfach entwöhnt und kann damit nicht mehr viel anfangen. Die Leute, die das können, werden es Joachim danken. Ich tue das jedenfalls und empfehle sein neues Album. Leute ... kaufen!
(Christian Reder)




   
   
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