niemengr 20121118 2073436688

Im Jahre 1969 veröffentlichte Czeslaw Niemen mit dem Album "Enigmatic" ein Meisterwerk. Das Jahr 1969 war das Jahr von Woodstock, das Jahr der Mondlandung und das Jahr, in dem der Fernsehturm am Berliner "Alex" eröffnet wurde. Drei Ereignisse, die man gut und gerne in einem Atemzug mit der Veröffentlichung von "Enigmatic" nennen kann, denn "Enigmatic" ist noch heute ein Meilenstein der polnischen Rockmusik und damit etwas Bleibendes. Zu der Zeit, als die Platte in die Läden kam, war von mir auf diesem Erdenball allerdings noch nichts zu sehen oder ahnen, aber auch in Bezug auf meine - wäre ich schon da gewesen - Anwesenheit auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs hätte ich vom Erscheinen dieser Platte wahrscheinlich nichts mitbekommen. Mir brachte mein Kollege Hartmut den polnischen Musiker erst viele Jahre später näher und empfahl mir seinerzeit, mit exakt diesem Album meine Reise in das Niemen-Land zu beginnen. Für diesen Tipp bin ich ihm sehr dankbar, hat er mich mit dem Hinweis erst an Niemen herangeführt und neugierig auf mehr gemacht.

"Enigmatic" steht schon einige Zeit in meinem Plattenschrank, und in dieser Woche habe ich das Album endlich auch auf CD bekommen. Das war der Grund, "Enigmatic" hier einmal ausführlich vorzustellen und es vielleicht auch anderen Leuten, denen die Platte noch nicht bekannt ist, schmackhaft zu machen.
Es gibt Leute, die vergleichen die Musik auf "Enigmatic" mit der von PROCOL HARUM. Andere vergleichen sogar Niemens Gesang mit dem von Joe Cocker. Das sind persönliche Sichtweisen, die ich nicht oder nur im Ansatz teile. Und nur, weil hier eine Hammond-Orgel zu hören ist, gleich auf PROCOL HARUM zu verweisen, ist mir zu einfach... Musikalisch bietet "Enigmatic" viel mehr, nämlich eine herrliche Mischung aus Blues, Rock und Kirchenmusik. Speziell für die zuletzt genannte Musikart sorgen die auf der Platte verwendeten Orgeln und Chöre. Zugegeben, man wird an einigen Stellen den Eindruck nicht los, dass sich in Bezug auf die Vortragsweise entweder Joe Cocker bei Niemen oder Niemen bei Cocker Inspiration geholt haben muss, aber das sind auch nur wenige Momente. Niemen stellt definitiv etwas Eigenes dar und muss nicht mit anderen Künstlern verglichen werden. Czeslaw Niemen erzeugt allein durch seine Stimme und Vortragsweise eine bluesige Atmosphäre, die mit dem eindrucksvollen und unverwechselbaren Sound der Hammond-Orgel (ebenfalls von Niemen gespielt) perfekt zu einer Einheit verschmilzt. Ich kenne NICHTS Vergleichbares - auch nicht von PROCOL HARUM! Aber auch die anderen Instrumente, die hier zum Einsatz kommen, werten die Musik auf und setzen eine wunderbare Idee hervorragend in die Tat um. Um nur ein Beispiel zu nennen, erinnert die von Tomasz Jaskiewicz gespielte Gitarre stark an Clapton - der Musiker steht dem Briten in seiner Spielweise in nichts nach und trägt hier ein ums andere Mal seinen Teil dazu bei, dass die Langrille wahrlich ein Klassiker geworden ist.

Die Scheibe startet mit dem Stück "Bema pamieci Zalobny - rapsod", einer fast 17-minütigen Suite unter Verwendung eines Gedichtes des großen polnischen Dichters der Romantikers Cyprian Kamil Norwid. Das war für die damalige Zeit schon etwas Ungewöhnliches. Das Stück lässt sich in zwei Teile zerlegen: Teil 1 ist eine Art langes Intro, in dem Niemen mittels Orgel und Glocken eine feierliche Atmosphäre aufkommen lässt, zu der ein Chor einen Teil des Gedichts singt. Der nahtlos folgende Teil 2 erstreckt sich über die letzten 8 Minuten des Stücks, in dem sich die musikalische Stimmung ändert. Aus den sakralen und feierlichen Momenten des "Intros" wird eine rockige und bluesige Wand aus Sound und Spielfreude. Es gibt eine bluesige Gitarre zu hören, das Lied-Thema wiederholt sich öfter (ohne sich jedoch abzunutzen), und der Rhythmus von Schlagzeug und Bass bestimmen nun das Stück. Dazu trägt Niemen den Text sehr emotional und berührend vor. Schade, dass man der polnischen Sprache nicht mächtig ist... Musikalisch ist es aber ein Fest für die Ohren!
Die der Suite folgenden drei Titel sind wesentlich kürzer, allerdings haben zwei der Stücke mit über 7 Minuten Laufzeit dann doch noch eine recht beachtliche Länge. Auch musikalisch gibt's weitere Farbtupfer zu entdecken und was die Texte betrifft, wird weiter auf Gedichte bedeutender polnischer Dichter zurückgegriffen (z.B. Pawel Kubiak oder Adam Asnyk). Die Rockmusik bekommt jazzige Elemente hinzugefügt und zeigt dem Hörer einen weiteren Horizont auf. Für den Facettenreichtum sorgt auch die Instrumentierung: Weitere Instrumente sind herauszuhören, z.B. Saxophon (ich meine sogar, mehrere zu hören) oder Flöten, und der Chor ergänzt die Stimme Niemens teilweise so stark und passend, dass es einem einen wohligen Schauer über den Rücken jagt (insbesondere bei "Jeonego Serca"). Trotz der musikalischen Andersartigkeit der einzelnen Lieder verfolgt die Platte von vorne bis hinten einen roten Faden, der perfekt in der Musik aufgeht. Die Mischung aus Kirchenmusik, Chor-, Blues- und avantgardistischer Rockmusik, gepaart mit der Spielfreude der auf dieser Platte zu hörenden Musiker erzeugt ein Gesamtwerk der Extraklasse - eben einen Klassiker der Rockgeschichte!

Die gefühlvollen und melodischen Progressive Rock-Titel haben über die Jahre nichts an ihrem Glanz verloren - im Gegenteil. So wie mir diese Platte empfohlen wurde, möchte ich das an dieser Stelle auch tun. Auch wenn "Enigmatic" über 40 Jahre auf dem Buckel hat, darf sich der Musikantennachwuchs gerne mal damit beschäftigen. Spielweise, Spielfreude und Musikidee ergeben ein großartiges Ganzes, das man bei der einen oder anderen Produktion aus heutiger Zeit leider vergeblich sucht...
(Christian Reder)

VÖ: 1969; Label: Polskie Nagrania Muza (Best-Nr.: SX 0576); Titel: Bema Pamieci Zalobny - Rapsod · Jeonego Serca · Kwiaty Ojczyste · Mow do mnie jeszcze; Bemerkung: Beim gleichen Label im Jahre 1996 erstmals auf CD erschienen (Best-Nr.: PNCD356); Musiker: Czeslaw Niemen (voc, org) · Zbigniew Namyslowski (as) · Janusz Zielinski (bg, g) · Thomasz Jaskiewicz (g) · Czeslaw "Maly" Bartkowski (dr) · Zbigniew Sztyc (ts) · Michael Urbaniak (ts, fl) · Gruppe ALIBABKI (back-voc, chor)

   
   
© Deutsche Mugge (2007 - 2023)

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.