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Ein Konzertbericht mit Fotos von Thorsten Murr. Zusätzliches Foto: Jana Liebig


 
Das Kesselhaus ist schon zeitig sehr voll - und es wird noch voller. Viele bekannte Gesichter sind in der Menge - Musiker, Manager und etliche vertraute Musikfreunde, die man infolge der Umstände der letzten Jahre teilweise schon lange nicht mehr persönlich getroffen hatte. Somit ist es schon die knappe Stunde bis zum eigentlichen Konzertbeginn ein Event vorm Event, in dem man viele Hände schüttelt, Menschen umarmt, anderen zuwinkt und hier und da versucht, wenigstens ein paar freundliche Worte zu wechseln.

Meilensteine von damals bis heute
Ziemlich pünktlich geht es los. Keine Ankündigung, keine große Inszenierung. Die Band, Wolfram "Boddi" Bodag, Heiner Witte, Manfred "Manne" Pokrandt und Hannes Schulze, geht zu ihren Instrumenten und schon erklingen die ersten Töne. "Es kommen andere Zeiten", das Dylan-Cover, ist der Opener. Ein Rückblick auf die Wende- und Nachwendezeit. Wer erinnert sich nicht daran, als alles irgendwie offen war - an die großen Verheißungen und die große Verunsicherung. Gleich darauf folgt das von mir, vor allem auch wegen seines exzellenten Textes, sehr geschätzte "Herbstlied", ebenfalls vom 1992 erschienenen Album "Egoland".


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Boddi Bodag



Engerling gibt 'ne Party - alle kommen
Nach den musikalisch kunstvoll verpackten politischen Statements wird die Feier eingeläutet - mit "Molls Party", einem der großen Hits aus den Achtzigern vom Album "So oder so". Dieser Moll, der in dem Song stundenlang auf seine Gäste wartet und deren Ankunft dann schließlich verpennt, tat mir immer irgendwie leid. Ja, dieses Lied berührt mich auch heute noch. Doch anders als beim bedauernswerten Moll sind Engerlings Publikum und auch die musikalischen Gäste pünktlich zur Stelle. Den Anfang macht Waldemar "Waldi" Weiz. Gespielt werden "Die Anderen" und "Nr. 48", was Zufall sein kann oder heute vielleicht bewusst beiläufig auf das "45 plus 3"-Jubiläum hindeuten soll.

Mitspieler, Weggefährten und Freunde
Waldi, auch "Meister der Blue Notes" genannt, war von 1989 bis 1992 in der Band. Sein feinfühliger, stets etwas jazziger und mit einer Prise B.B. King versetzter, Gitarrensound korrespondiert gekonnt mit dem Spiel von Heiner Witte. Zweifellos zwei abgebrühte Könner ihres Fachs, weitere Könner werden wir heute noch erleben.

Bestens aufgelegt
Heiner Witte spielt heute, zumindest nach meinem Empfinden, besonders laut und rockig auf. Sehr gut! Überhaupt machen die Engerlinge richtig was los an diesem besonderen Abend. Boddis Arbeitsplatz, ein bisschen erinnern die Keyboards, zu denen man als Zuschauer ehrfürchtig aufblickt, ja immer auch an einen Chefschreibtisch, ist traditionell am vom Publikum aus linken Rand der Bühne platziert. Von dort hat er alles im Blick und alles im Griff, denn neben seinem Hauptjob als virtuoser Keyboarder und souveräner Leadsänger ist er heute gewissermaßen auch der Zeremonienmeister.


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Heiner Witte



Im Zentrum der mit Equipment vollgepackten Bühne produziert der mächtige Manne Pokrandt seine tiefen Töne. Wüsste man es nicht besser, würde man angesichts seiner gewohnt verhaltenen, aber sehr coolen Bühnenshow sicherlich nur schwer darauf kommen, dass es explizit sein fetter Bass ist, der die ganze Kiste zuverlässig vorwärts treibt. Sprühende Bewegung gibt es indes hinten am Rhythmus-Gerät von Hannes Schulze zu sehen, dem Jüngsten im Bandgefüge. Hannes ist offensichtlich in bester Partystimmung und jedes Mal, wenn mein Blick - meist durch den Kamerasucher - auf ihn fällt, sehe ich ihn lachen.

"Lebenselixier"
Ich betrachte Engerling ja nun seit rund 15 Jahren auch durch die Kameraoptik und danach dann immer nochmal auf dem Bildschirm. Irgendwie scheinen Boddi, Heiner, Manne und Hannes im Laufe der Jahre kein bisschen zu altern. Ein Phänomen. Es gab mal, vielleicht vor zehn Jahren, T-Shirts, darauf hatten die Fans "Engerling - Lebenselixier" gedruckt. Ich hatte das bislang für ein originelles Loyalitätsbekenntnis gehalten, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass das ein ernsthafter Hinweis auf ein wohlbehütetes Geheimnis dieser Band ist.

Geballte Power …
Diese 48-jährige Band ist also ausgesprochen lebendig, und der Spaß an der Sache ist allen Mitwirkenden anzusehen, auch den drei Bläsern neben Hannes' Schlagzeug, die dem musikalischen Gesamtbild zusätzliche Größe und der allgemeinen Dynamik eine Extradosis Treibstoff verpassen: Jason Liebert an der Posaune, Andy Wieczorek am Saxofon und Ferry Grott an Trompete und Flügelhorn. Die drei kennen sich von verschiedenen gemeinsamen Unternehmungen, stellvertretend seien die Polkaholix genannt, und haben sichtlich Spaß an ihrem heutigen Job.


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Steffi Breiting



… und viele reizvolle Akzente
Mit dieser geballten Power geht es weiter, und schon kommen mit Steffi Breiting und Tobias Hillig die nächsten Gäste auf die Bühne. Gefühlt sind Steffi und Tobi immer dabei, wenn es in der ostdeutschen Bluesgemeinde etwas Besonderes zu zelebrieren gibt. Ob bei den zurückliegenden Jubiläumskonzerten von Engerling und Monokel Kraftblues, bei den jährlichen Festivals in Spremberg oder, zumindest Tobi, im vergangenen Dezember zur Kundenbluesnacht im thüringischen Neustadt an der Orla.

Während sich Tobi Hillig mit seiner Gitarre wie gewohnt, höchst professionell und völlig unaufgeregt, in das musikalische Gesamtbild einfühlt und einfügt, zieht Steffi Breiting mit ihrer markanten Stimme freilich die Aufmerksamkeit auf sich. Auf zwei soulige Stücke von Susan Tedeschi, die wie für Steffi geschrieben scheinen, folgt der leidenschaftlich vorgetragene Janis-Joplin-Klassiker "Piece Of My Heart". Sehr cool, das hat gesessen.

Nach dem Exkurs in die internationale Musikwelt geht es zurück zu Engerling, mit Ankunft im "Legoland". Dabei gibt sich mit Haymo Doerk ein weiterer versierter Gastgitarrist die Ehre. Haymo hatte seit den Neunzigerjahren immer mal wieder Heiner Witte vertreten, wenn es erforderlich war. Als zweiten Beitrag verleiht er einem der wohl, zumindest in meiner Liste, größten Engerling-Hits aller Zeiten, dem "Muschellied", seine spezielle Würze und spielt auch später noch bei einigen Nummern mit.


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Manne Pokrandt



Drei Stunden hochklassige Live-Mugge …
Generell bewegt sich das gesamte musikalische Geschehen auf höchstem Niveau, ein zauberhaftes Solo von Ferry Grott auf dem Flügelhorn etwa ist eines der glitzernden Highlights, die eingestreut werden - bei einer gleichermaßen temporeichen Abfolge der Darbietungen. Angesichts von 48 Jahren Bandgeschichte könnte man ja heimlich vermuten, die Engerlinge und ihre Weggefährten, die überwiegend derselben Generation entstammen, würden es etwas ruhiger angehen - aber weit gefehlt! Am Ende sind es gut drei Stunden Konzert, ohne Pause, die auch dem überwiegend reifen Publikum ein gewisses Stehvermögen abverlangen.

… der ostdeutschen Blues-Legenden
Aber dieses großartige Vergnügen heute hält man gerne aus, zumal Engerling gerade das Durchhaltelied "Sechs Tage auf dem Rad" intonieren und dazu drei weitere Ex-Mitglieder das Line-up bereichern: Gunther Krex, der von 1980 bis 1983 den Bass spielte, übernimmt von Manne. Hinzu kommen Bernd "Kuhle" Kühnert mit seiner Gitarre, bei Engerling ab 1975, und Gründungsmitglied Rainer "Lello" Lojewski am zweiten Schlagzeug. Kuhle und Lello wechselten damals zu Monokel und sind bis heute oft gemeinsam in verschiedenen Bandprojekten zu erleben.

Während man woanders seit einigen Jahren die ostdeutschen "Rock-Legenden" feiert, hat sich heute Abend ein überaus reichliches Angebot an ostdeutschen Blues-Legenden versammelt. Sowohl als Rock- als auch als Blueslegende darf da wohl der nächste Jubiläumsgast gelten: Christian Liebig, einst auch bei Hansi Biebl in der Band, Mitte der Achtziger bei Engerling, später dann, "bis vor wenigen Wochen", wie Boddi sagt, bei Karat. Mit seinem imposanten Fretless-Bass gibt er zum "Frühprogramm" eine feine Probe seines Könnens ab.


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Christian Liebig (Foto: Jana Liebig)


Gleich darauf tritt mit Uschi Brüning eine weitere Legende und die zweite Dame des Abends ins Rampenlicht. Auch sie könnte man getrost als obligatorischen Jubiläumsgast von Engerling betrachten, war sie doch schon beim 40. Geburtstag live dabei. In ihrem Set widmet sie einen Song, "Blues für L", ihrem Ehemann, dem berühmten Jazzmusiker Ernst Ludwig Petrowsky, der, wie sie erzählt, nicht mehr auftreten kann.

Die Show nähert sich ihrem Finale. Zu "Da hilft kein Jammern" kommt alles auf die Bühne, was ein Instrument bedienen oder mitsingen kann, und bei der Allman-Brothers-Nummer "Don't want you no more" geben alle Gitarristen, jetzt in einer nahezu bühnenbreiten Phalanx aufgestellt, der Reihe nach ein kurzes Solo zum Besten, auch Waldi Weiz, der früh am Abend den Reigen der Gastmusiker eröffnet hatte, ist wieder da.

Zum Abschied Mama Wilson
Ja, genau so muss das kommen, genau das wünscht sich ein Fan bei einem solchen Ereignis. Am Ende kommt alles zusammen - und klar auch "Mama Wilson" die "gute alte Ma …" ist dabei. Da erinnere ich mich, wie damals in meiner Jugend ein Schulfreund zu mir sagte: "Hej, hör dir das mal an! Das sind welche von uns, und die singen über Canned Heat!" So kam ich damals zu Engerling, "So oder so" bin ich noch heute dabei.


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Finale



Die Leute im Saal klatschen und johlen, was sonst. Klar gibt's noch eine Zugabe: "Like A Rolling Stone" - mit vereinter Kraft und einer umwerfenden Solo-Rap-Einlage von Ferry Grott. Ein großer Song und ganz, ganz großes Kino! Was für fulminantes Finale! Ganz zum Schluss, allein von Engerling, den Jubilaren vorgetragen, "Du bringst mich besser nach Hause heut Nacht", wozu die Band nach und nach von der Bühne geht. Ob die Textzeile "Diese Nacht hat nichts gebracht" heute zutrifft, wage ich stark zu bezweifeln. Dem Publikum hat dieser Abend jedenfalls eine ganze Menge gebracht: rund drei Stunden Live-Musik auf durchweg höchstem Niveau, von einer der langjährigsten und bedeutendsten Bands, die der Osten Deutschlands je hervorgebracht hat.


Nach der Show sind die meisten der beteiligten Musikerinnen und Musiker noch im Saal, völlig entspannt, für Fotos und Smalltalk mit den Fans - und wer's nicht glaubt, ich hab's gesehen: Manne Pokrandt hat sich tatsächlich mit seinem Fahrrad auf den Heimweg gemacht.

Liebe Engerlinge, 48 Jahre sind beachtenswert, aber da geht noch eine Menge! Also haltet Euch fit und macht einfach so (oder so) weiter. Immer weiter!



Engerling live ...
• 13.05.2023 - Berlin - Kiste
• 17.05.2023 - Wriezen - Ranch
• 20. 05.2023 - Kleinoßnig - Gasthof "Schön Oßnig"
• 03.06.2023 - Hartha - Waldbühne Openair
• 08.07.2023 - Spremberg - Blues & Rocknacht

Alle Angaben ohne Gewähr!


Engerling im Netz ...
• Off. Homepage: HIER
• Portrait: HIER






 

   
   
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