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Ein Bericht mit Fotos von Bodo Kubatzki



Berlin - Tempodrom
"This is the best concert we've ever played in Berlin", wird das Fazit eines sichtlich begeisterten Steve 'h' Hogarth lauten, als die letzten Töne des Marillion Klassikers "Sugar Mice" nach einer fantastischen, zweistündigen Show im Berliner Tempodrom verklungen sind. Erst einige Tage zuvor hatte die Band über ihre Web-Seite kundgetan, dass die Wahl für ihr erstes Marillion-Weekend in Deutschland auf Berlin gefallen sei. Die Konzerte im Juni 2023 würden im legendären Tempodrom stattfinden. Somit fieberte die Band ihrem ersten Konzert in dieser Location mit Spannung entgegen. Doch alles lief hervorragend. Selbst Managerin Lucy Jordache, die in der Nähe des Mixers saß, stand die Begeisterung während des Konzerts ins Gesicht geschrieben. Gehen wir zurück auf Anfang…


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Die Band Marillion existiert nun bereits seit über 40 Jahren. In den frühen 80er Jahren avancierte sie mit ihrem damaligen Sänger Fish zu den bekanntesten Vertretern des sogenannten Neo-Prog. Kurz nach der Trennung von Fish im Jahre 1988 fand die Band mit Steve 'h' Hogarth einen neuen Sänger, Songschreiber und Texter, der auch mal zur Gitarre greift oder Keyboard spielt. Mit ihm wuchs die Band in den vergangenen 33 Jahren zu einer festen und kreativen Gemeinschaft, die 16 Studio- und diverse Live-Alben in dieser Konstellation veröffentlicht hat. Wie kaum eine andere Band der Prog-Szene haben Marillion inzwischen ihren eigenen, unverwechselbaren Sound erschaffen, der kaum noch an die Neo-Prog-Zeiten erinnert. Parallel entwickelte sich weltweit eine riesige Fangemeinde, die teilweise in Communities organisiert ist und ihrer Band die Treue hält. Das kann ich auch in Berlin wieder erleben. Kurz vor dem Konzert im Tempodrom treffen wir uns in der nahe gelegenen Stadtklause mit Freunden zu einem Bier und einem Imbiss. Neben mir sitzt ein einzelner Herr mit Marillion-Shirt, der aus Nottingham nach Berlin gereist ist, um seine Band zu erleben. Die Herren am Nebentisch, ebenfalls in Marillion-Shirts gekleidet, sprechen eine skandinavische Sprache. Dann kommt eine Gruppe von Leuten in die Kneipe, in der wir langjährige Freunde von The Web Italy, dem italienischen Marillion-Fanclub, erkennen. Die Wiedersehensfreude ist groß und wir haben einiges zu erzählen. Die Kneipe profitiert an diesem Abend quasi von den Fans der Band aus Aylesbury. Die Musik von Marillion verbindet eben.

Dass dies nicht nur auf die Fans zutrifft, können wir dann auch beim Support-Act feststellen. Die belgische Violinistin Maia Frankowski begleitete Marillion 2019 als Mitglied des Streichquartetts In Praise Of Folly auf der umjubelten Tour "Marillion with friends from the orchestra", und Sänger Harry Pane übernahm damals den Support. Inzwischen sind die beiden verlobt und supporten die Band gemeinsam als Duo June Road. Neben ihrer Debut-Single "Seize The Day" und weiteren eigenen Songs wie "Time" oder "Glow" haben sie auch den Fleedwood Mac-Klassiker "Big Love" im Programm. Die knapp 40 Minuten mit stimmungsvollen Songs, oft zweistimmig gesungen und mit sehr schönen Violine-Parts versehen, kommen beim Publikum gut an und werden mit viel Beifall bedacht.


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June Road


Marillion präsentieren anschließend ihr aktuelles Album "An Hour Before It's Dark" in voller Länge. Das Album dürfte ihr gesellschaftskritischstes sein. Die Arbeit an den Songs begann Anfang 2020, als sich Corona und Covid 19 mehr und mehr ausbreiteten und die Sterblichkeitsraten in der Welt in die Höhe schnellten. Unsicherheit und Existenzsorgen machten sich breit. Lockdowns führten zu Isoliertheit und sozialer Distanz. Es war unvermeidlich, dass sich diese globalen Ereignisse auf die Texte von Steve Hogarth und auf die Musik von Marillion auswirken würden. So hat sich das Virus auch in einige der Songtexte des Albums eingeschlichen. Auch das Thema Klimakrise findet sich auf dem Album wieder. Jedoch spricht nicht nur Angst und Wut aus den Texten, sondern auch Mitgefühl und Hoffnung. Das alles wissen Hogarth und Band live eindrucksvoll in Szene zu setzen. Steve Hogarth steht als Frontmann wie immer im Mittelpunkt des Geschehens und performt die Songs mit viel Theatralik, wie man es von ihm kennt.

Die Band ist bei dieser Tour zum Sextett angewachsen. Auf dem Podest zwischen Schlagzeuger Ian Mosley und Keyboarder Mark Kelly befindet sich ein Arsenal von Perkussions-Instrumenten, das gekonnt von dem portugiesischen Schlagzeuger Luis Jardim bedient wird. Jardim hat schon für Stars wie Tina Turner, George Michael, Rod Stewart und viele andere gearbeitet. Nun bereichert er den Sound von Marillion. Neu ist auch, dass die Band auf dieser Tour bewusst auf Video-Projektionen verzichtet. Es gibt nur eine konventionelle Lichtshow, mit der Lichttechniker Yenz Nyholm beeindruckende Stimmungen und Effekte zaubert.

"Be Hard On Yourself" kommt druckvoll von der Bühne. Der Bass pumpt und knarzt, das Schlagzeug treibt den Song voran. Der Gesang von h ist eindringlich und dramatisch. "Reprogram The Gene" schließt sich an, ein ebenso eindringlicher Song, dessen Textzeile "Locked Down, Knocked Down..." von vielen Fans lauthals mitgesungen wird. Am Schluss des Songs hat Pete Trewavas offensichtlich Probleme mit seinen In Ear Monitors. Steve Hogarth versucht mit einigen Gags zu überbrücken. Schließlich stimmt er den Kinderlied-Klassiker "The Wheels on the Bus" an, und viele Fans singen mit. Als Keyboarder und Technik-Freak Mark Kelly seinem Kollegen Pete zur Hilfe kommen will, ist das technische Problem behoben, und das Konzert nimmt seinen Lauf. Der Song "Murder Machines" geht sofort ins Ohr. Auch dieser Song bezieht sich auf Corona und rückt ins Bewusstsein, dass Umarmungen in Zeiten der Pandemie das Risiko in sich bergen, jemanden zu töten. Die Ballade "The Crow And The Nightingale" ist Steve Hogarths lyrisch eindringliche Hommage an Leonard Cohen. Das Stück endet mit einem wunderschönen Gitarrensolo von Steve Rothery, bei dem alle Spots auf ihn gerichtet sind. Der Song "Sierra Leone" erzählt die Geschichte von Würde und Hoffnung inmitten der Armut des gleichnamigen westafrikanischen Landes.

Der für mich stärkste Song des neuen Albums ist "Care". In seiner Ankündigung des dreiteiligen Stücks spricht Steve Hogarth davon, dass zu Hochzeiten der Pandemie auch in England Menschen an ihren Fenstern standen, und Krankenschwestern und Pflegekräfte für ihre aufopferungsvolle Arbeit beklatscht haben, obwohl es doch wohl angebrachter wäre, diese Berufsgruppen besser zu bezahlen. "Die Engel auf dieser Welt sind nicht in den Mauern von Kirchen", singt Steve Hogarth beim hymnischen Schlussteil dieses epischen Longtracks. "Care" ist ein mitreißender und bewegender Song, der Hoffnung macht. Für mich ist er der erste emotionale Höhepunkt dieses Konzerts.


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Steve "h" Hogarth


Hier und da wischt sich noch jemand eine Träne aus den Augen, als die Band in gelösterer Stimmung zum zweiten Teil des Sets ansetzt. Marillion widmen sich nun älterem Material, wie "Quartz" vom Album "Anoraknophobia" und einigen Stücken des erfolgreichen Konzeptwerks "Brave". "Wave" und "Mad" werden von der Band mit wilder Hingabe gespielt. Steve Hogarth tanzt und wirbelt über die Bühne, Pete Trewavas zieht es ebenfalls immer wieder in deren Mitte. Selbst Steve Rothery, der sich bisher kaum von seinem Effektpedal wegbewegt hat, lächelt immer häufiger und beginnt sich zu bewegen, während er seine umwerfenden Soli spielt. Ian Moseleys unspektakuläres, aber großartiges Schlagzeugspiel und die zusätzlichen Percussion-Einwürfe von Luis Jardim, im Zusammenspiel mit Petes wummernden Bassläufen, sorgen für rockigen Druck. Mark Kellys üppige Keyboardsounds schweben über allem. Die Band scheint sich in ihrer Musik wahrhaftig zu verlieren, und reißt das Publikum mehr und mehr mit. Nachdem das Rumpeln des Bass-Pedals am Schluss von "Mad" verklungen ist, leiten dezente Pianoklänge und verspielte Bassläufe das eher selten gespielte Stück "Afraid Of Sunlight" ein. Dieser sanfte Song bietet einen kurzen Moment zum Durchatmen, bevor sich bei "The Great Escape" erneut Momente der Glückseligkeit bei mir einstellen. Dieses eindringliche Stück mit seinen göttlichen Gitarrensoli beschließt das reguläre Set des Konzerts.

Nach stehenden Ovationen und nicht enden wollendem Beifall widmet die Band die erste Zugabe "Estonia" ihrer Managerin Lucy Jordache, die, wie ich bereits erwähnte, im Publikum sitzt. Sicher hat Lucy einen großen Anteil daran, dass das Schiff Marillion seit vielen Jahren in ruhigen Fahrwassern schwimmt, trotz manchmal rauer See. Die zweite Zugabe "Berlin" ist ein Muss in der deutschen Hauptstadt. Bei diesem Stück wächst die Band kurzzeitig zum Septett an. Ein gewisser Frank Lu (nach meinen Informationen) spielt die Saxofon-Parts in dem emotionalen Song, dessen Text unter dem Eindruck des Falls der Berliner Mauer entstanden ist. Und wieder sind es stehende Ovationen, mit denen das Publikum seine Begeisterung zeigt, während die Band die Bühne noch einmal kurz verlässt. Marillion verabschieden sich schließlich mit dem einzigen Stück des Abends aus der sogenannten Fish-Ära. Die wunderschöne Ballade "Sugar Mice" mit dem herzzerreißenden Gitarrensolo, wird von vielen Fans mitgesungen. Als das Lied endet stellt sich bei mir so etwas wie Wehmut ein, weil die zwei Stunden mit Marillion viel zu schnell vergangen sind. Doch es tröstet mich, dass ich die Band zwei Tage später in Bremen noch einmal erleben darf.


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Steve Rothery


Bremen - Pier 2
Szenenwechsel... Es ist Sonntag, zwei Tage nach dem Konzert in Berlin. Wir befinden uns in der Hansestadt Bremen auf dem Gelände der ehemaligen Bremer Werft AG. Das Pier 2, eine alte Werkhalle, befindet sich in unmittelbarer Nähe der Weser. Ein ebenfalls dort gelegenes Einkaufszentrum ist an diesem Sonntag geöffnet. In ihm befinden sich diverse gastronomische Einrichtungen bekannter Ketten. Eine davon ist unser Treffpunkt vor dem Konzert. Wir sind eine Gruppe von Fans, die Marillion auch in Berlin erlebt haben.

Die Halle des Pier 2 ist lediglich im Rang bestuhlt. Unten wird gestanden, so wie es früher üblich war. Das Duo June Road eröffnet den Konzertabend mit dem gleichen Programm, wie in Berlin. Auch hier begeistern die beiden sympathischen Belgier das Publikum mit ihrer Musik.

Ab 21:00 Uhr sind Marillion an der Reihe und spielen auch hier zunächst ihr aktuelles Album. Diesmal läuft alles reibungslos, ohne technische Probleme. Die Licht-Show ist wieder grandios und der Sound hervorragend. Dafür sorgt bei den Konzerten seit vielen Jahren Phil Brown. Der Höhepunkt des ersten Konzertteils ist auch in Bremen das Stück "Care". Diesmal spricht Steve Hogarth in seiner Anmoderation nicht über Krankenschwestern und Krankenpfleger, sondern über seinen Freund Conrado aus Mexiko City, der Krebs hatte und eine Chemotherapie über sich ergehen lassen musste. Nach jedem Chemo-Zyklus bekam h Infos von Conrado, und erfuhr so über dessen Ängste und körperliche Veränderungen bis hin zu seiner Heilung. Das alles floss in den Text des ersten Teils von "Care" mit ein. Dieses eindringliche dreiteilige Werk löst auch in Bremen wahre Begeisterungsstürme aus.


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Steve "h" Hogarth


Der zweite Teil des regulären Sets wird mit dem ruhigen Song "Somewhere Else" eröffnet. Der Rest des Sets bleibt gegenüber dem von Berlin unverändert, und doch scheint es irgendwie anders zu sein in Bremen. Die Band spielt intensiver, scheint insgesamt besser aufgelegt zu sein. Steve Hogarth turnt über die Boxentürme und sucht die Nähe zu den Fans. Liegt es daran, dass die Band zuvor einen Tag frei hatte, oder hängt es damit zusammen, dass der Saal nicht bestuhlt ist, und die Schwingungen, die von der Bühne kommen, die Fans schneller und besser erreichen? Ich weiß es nicht. Doch die Intensität, mit der die Band zugange ist, nimmt auch mich gefangen. Als erste Zugabe spielen Marillion das vierteilige Stück "The New Kings" vom Album "F.E.A.R.". Die Texte dieses Werks haben heute, zu Zeiten des Krieges in der Ukraine, noch mehr Gewicht als vor sechs Jahren, als das Album erschien. Dieses beeindruckende Werk ist ein weiterer Höhepunkt des Konzerts. Im letzten Zugaben-Teil wird es dann nochmal richtig rockig. "Cover My Eyes" sorgt für ausgelassene Partystimmung. Steve Hogarth ist gut bei Stimme und schafft die Höhen spielend. Pete Trewavas tobt wie ein Wirbelwind über die Bühne und Rothers bekommt das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Sein kurzes Gitarrensoli spielt er grandios. Selbst Ian Mosley, den ich vom Rang aus gut beobachten kann, strahlt über das ganze Gesicht. h resümiert im Anschluss, dass hier in Bremen die beste Stimmung auf den bisherigen Deutschland-Konzerten herrschte. Auch ich empfinde das heutige Konzert noch mitreißender, als das in Berlin. Auch in Bremen wird das Konzert mit dem Klassiker "Sugar Mice" beschlossen, ein kleiner Rückblick auf die Anfangszeiten der Band Marillion, die heute mehr zu sagen hat denn je, die jedoch von den öffentlichen Medien so sträflich vernachlässigt wird.

Das Konzert in Bremen ist mein sechstes Marillion-Konzert in diesem Jahr. Es versöhnt mich wieder mit meiner Lieblingsband und macht die Wutausbrüche von Steve Hogarth, die ich auf der "Cruise To The Edge" und in Stockholm erlebt habe, vergessen. Marillion sind immer noch eine herausragende Live-Band, bei der das kollektive Zusammenspiel, der stets fantastische Sound und die dazugehörige, fein abgestimmte Lichtkonzeption, zu beeindruckenden Erlebnissen werden. Und die Band hat es geschafft, eine eingeschworene Fan-Gemeinde um sich zu scharen, zu der ich mich gern zugehörig fühle.



Setlist
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