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Interview vom 12. November 2017



Am Rande der Feierlichkeiten zu seinem 50. Geburtstag am 12. November 2017 fand unser Freund Marcel Fischer von Radio Marabu die Gelegenheit, mit unserem Freund und Vereinsmitglied Andreas Hähle über dessen Karriere als Texter, Musiker, Moderator und Redner zu sprechen. Dieses Interview wurde bis jetzt nur über Radio in Marcels Sendung ausgestrahlt. Die Wortbeiträge dieser Sendung sind jetzt hier erstmals nachlesbar und somit für die Nachwelt erhalten worden ...




001 20190616 1094514082Den Titel "P 16" von P 16 hast Du geschrieben, damit fing Deine Texterkarriere an. Jubilar Andreas, wie geht es Dir mit 50?
Es ist - glaube ich - ein wichtiges Datum, auch wenn ich kein Geburtstagsmensch oder -freak bin. Auch früher, als ich jünger war, vergaß ich meine Geburtstage immer. Ich kann mich an einen Geburtstag erinnern, es war wohl so der 32., da haben die Leute der Bürogemeinschaft, in der ich arbeitete, "Happy Birthday To You" gesungen und ich dachte, die wollen mich verarschen. Ich erkannte den Gag nicht, bis ich heraus bekam, dass ich tatsächlich Geburtstag hatte an diesem Tag. (lacht) Also es war mir nicht so wichtig. Aber jetzt, da ich 50 werde, unterschrieb ich heute eine Patientenverfügung, ein Testament habe ich geschrieben, habe mit meiner Frau geredet, wie das mit der Grabstelle werden soll. Ja doch - es ist schon ein wichtiges Datum ... (lacht)

Wenn man auf Deine Website sieht, dann bist Du Hochzeits- und Trauerredner, wenn man aber beispielsweise über Facebook vieles von Dir mitbekommt, bist Du häufiger als Trauerredner unterwegs. Wie hast Du Dir das angearbeitet?
Das war Zufall. Zu so einem Job kommt man immer - wenn man es nicht unbedingt anstrebt und das tat ich nicht - wie die Jungfrau zum Kind. Die Mama eines Freundes von mir verstarb und ich verfasste mit dessen Schwester, dessen Frau und ihm selbst eine Rede. Er meinte "Du hast so eine tolle Stimme, ich möchte, dass Du die Trauerrede machst." Ich machte das und dann kamen hin und wieder Anfragen. Als ich nach Leipzig zog, machten wir uns Gedanken, was ich dort so machen könnte. Ich hatte immer einen Job, denn von der Kunst kannst du nicht leben, hatte in Leipzig aber noch keine Idee, was ich dort machen könnte, sollte und wollte. Ich fragte dann einen befreundeten Bestatter, der viel mit ROCKRADIO zu tun hatte, ob er sich vorstellen könne, dass ich das mache. Er meinte, das kann er sich vorstellen, gab mir einen Auftrag und seitdem läuft das mit der Trauerrednerei. Die Hochzeitsrednerei kam dadurch, dass auch Rockmusiker heiraten und sich überlegten, das Gelaber der Standesbeamten nicht ertragen zu wollen. "Wir lassen uns eintragen, dann machen wir 'ne geile Party und der Hähle hält die Rede." So kam das ...

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Beerdigungen und habe eine schreckliche Erinnerung an die meines Großvaters vor einigen Jahren. Ich bin nicht religiös, es war in Erfurt und meine Mutter hatte mit dem dortigen Trauerredner alles besprochen. Mein Großvater war eigentlich eher ein intellektueller Denker, ein Wirtschaftsfachmann, ein scharfer Kopf also,002 20190616 1895616337 aber in die Rede wurde hineingeschrieben, dass er in den letzten Lebensjahren den Garten lieben gelernt hat, obwohl ich wusste, dass er ihn wie die Pest gehasst hat und dann dröhnte im Saal auch noch "Time To Say Goodbye", welches er ebenso gehasst hat. Da konnte ich mir das Grinsen in der ersten Reihe nicht so ganz verkneifen. Wenn Du mit den Familien sprichst, merkst Du dann auch, dass die Biographien vielleicht geschönt werden?
Na, die werden nicht nur geschönt, sondern teilweise sogar gefälscht. Mein schönstes Erlebnis in dieser Richtung erzähle ich jetzt einfach mal: Der Bestatter hatte sich erlaubt, einer Dame zu sagen: "Sie müssen sich vorstellen, wenn der Trauerredner zu Ihnen kommt, der ist wie ein Arzt oder ein Anwalt. Sie müssen dem Trauerredner alles sagen, auch das, was nicht in die Rede kommt." Nun besuchte ich die Dame und wusste davon aber nichts. Sie erzählte mir eine gefühlte halbe Stunde, ich tippte alles ganz eifrig mit und plötzlich sagte sie: "Und das alles kommt nicht in die Rede!" (lacht) Jetzt bin ich mal ein wenig piefig, ganz häufig kommt es vor, dass im Fall einer zweiten Ehe die erste Ehefrau nicht erwähnt wird, was manchmal richtig böse Folgen hat, weil dann auch die aus der ersten Ehe entstandenen Kinder einfach keine Erwähnung finden, aber anwesend sind. Und damit ist der Familienkrieg schon vorbereitet. Ich finde, man sollte - wie das der Bestatter schon sagte - wirklich alles sagen. Biographien werden gefälscht und wenn man atmosphärisch dahinter steigt, dann kann man auch aus dem, was man eigentlich weglassen oder verfälschen wollte, tatsächlich eine schöne Rede gestalten. Man muss es nur wissen. Peinlich wird es nur dann, wenn es irgendwie "kriegerisch" wird. Also nicht von meiner Seite aus, sondern von den Angehörigen. Wenn also Dein Trauerredner gesagt hat, dass Dein Großvater seinen Garten lieben gelernt hat, dann hat ihm das jemand erzählt und wenn er sich für "Time To Say Goodbye" entschieden hat, dann hat zumindest niemand widersprochen. Das hätte man machen müssen. Ich frage dann auch, ob sich die Angehörigen schon die Musik ausgewählt haben. Manchmal machen das die Bestatter schon im Vorfeld, ich frage aber dennoch nach, weil ich das ja auch in die Reden einarbeiten will. Oft sitzen die Menschen dann aber da und sagen: "Wir wissen eigentlich gar nicht, auf welche Musik er stand, was er gehört hat" oder sie sagen "Schlager allgemein". Man kann da schon arbeiten und ich mache das sehr gern. Ich möchte eine individuell gestaltete Rede haben, in der sich keine Textbausteine ständig wiederholen und nicht eine Biographie wie die andere klingt. Ich möchte den Menschen würdigen, dessen Leben, dessen Vorlieben und dessen Lebensleistung. Und wenn die Lebensleistung darin bestand, immer für die Familie gesorgt zu haben, ist das auf jeden Fall auch eine Lebensleistung. Das möchte ich immer in den Vordergrund stellen. Erschwerend hinzu kommt die Frage der Erinnerung in den Fällen, in denen die Menschen sehr lange vorher erkrankt oder sogar dement waren. Ich hatte eine Begegnung mit einem Menschen, der jeden Tag seine Frau besuchte, obwohl sie seit fünf Jahren schwer dement war und das blieb ihm so knallhart in Erinnerung, dass er Schwierigkeiten hatte, sich an die Zeit davor zu erinnern. Das musste man bei ihm erst herausbekommen. Fünf Jahre sind bei knapp 80 Jahren ja nicht ein ganzes Leben. Damit hilft man den Menschen auch, diese Trauer besser zu bewältigen und diesen Verlust anders zu sehen, weil für diesen kurzen Moment ein Mensch wieder aufersteht. Ich freue mich über alle Menschen, die diese Reden auch behalten.

Du hattest bei Facebook erzählt, dass Dir Deine Frau das letzte Album von Leonard Cohen "untergeschoben" hat. Das führt mich zu einer Frage: Dein Leben wird von der Kultur überschattet, teilst Du dieses Kapitel mit Deiner Frau?
Ja, das ist das Schöne daran. Ich war ja schon mal verheiratet - will meiner lieben ersten Frau aber nichts Schlimmes nachsagen - aber sie hatte einen ganz anderen Musikgeschmack, als ich. Das war auffällig und ich mochte nicht, wenn PUR in der Küche spielte ... Bei Lika ist es so, dass wir auf dieselben Leute abfahren und dieselben musikalischen und kulturellen Vorlieben haben.003 20190616 1251355512 Wir machen alles gemeinsam, ohne es großartig abzusprechen. Das einzige entscheidende Kriterium ist "Haben wir beide Zeit oder nicht?" Hingehen wollen wir immer zu denselben Sachen ...

Zwei aktuelle Projekte: Du hast Texte für Roland Kaiser geschrieben ...
Ja das habe ich gemacht, mal sehen, was daraus wird. Er wollte sich noch melden und mich auf dem Laufenden halten. Ich glaube, er entschied sich für sechs oder sieben ... Ich weiß allerdings nicht, für welche er sich entschieden hat. Wir hatten uns über Jan Böhmermann amüsiert und dass es derzeit schlimm ist mit der Situation deutschsprachiger Texte. Es ist aber auch nicht wichtig, welche er auswählte, ich lasse mich einfach überraschen.

Ich finde es mutig, bin aber auch nicht wirklich überrascht, weil ich Roland Kaiser zu einem der sehr ehrlichen Künstler zählen würde, der weiß, was und wo er ist. Das zweite Thema ist Jule Werner. Du arbeitest auch für sie an neuen Texten?
Na ja, die Texte sind schon fertig ... (lacht)

Du kommst aus Borna, bist ein echter Sachse, wie kamst Du zum Texten?
Na ja, schon durch die Band SCHULROCK, aus der später P 16 wurde. Ich schrieb ja Gedichte und in meiner Schule in Neukieritzsch wurden immer Leute gesucht, die Gedichte für irgendwelche Veranstaltungen oder Patenbrigaden vortragen. Das machte ich mit Bravour und dann begann ich, selbst Gedichte zu schreiben. Ich fand sie nicht so doll, aber die Lehrer waren begeistert. Ich war damals so um die acht, neun Jahre alt. Ich baute auch immer Gags mit ein. Ich trug also nicht nur Gedichte vor, sondern machte irgendwie - was ich noch gar nicht wusste - Kabarett. Später machte ich dann wirklich Kabarett. Im Pionierhaus Borna formierte sich dann die Band. Dort hatte ich viel zu tun und die kannten mich auch alle. Hartmut Lorenz war eigentlich der Hausmeister dieses Pionierhauses wurde dann gleich der Manager der Band. Er leitete auch die Arbeitsgemeinschaft "Film und Musik" und in dieser AG war ich dabei. Dort trugen wir diese Textzelebrationen zu Schuldiskotheken und anderen Veranstaltungen vor. Dann hieß es: "Ihr müsst eigene Songs machen." Wir sagten okay, vielleicht bekommen wir ein paar Noten zusammengebastelt. Die waren ja alle total jung und ich auch. Ich war zehn, als wir uns kennenlernten. Er meinte dann, wegen der Texte vielleicht mal den Andreas Hähle zu fragen. Er fragte mich also, aber ich sagte, dass ich Liedtexte nicht schreiben kann, weil das etwas ganz anderes sei, als meine komischen Gedichte. Als Kind willst du Erwachsene aber auch nicht enttäuschen und da kam ich auf die glorreiche Idee, eine Postkarte über die Autogrammadresse, die auch seine Privatadresse war, an Kurt Demmler zu schreiben. "Lieber Herr Demmler, ich soll hier Texte für eine Schülerband schreiben, weiß aber nicht, wie das geht. Können Sie mir helfen?" Er schrieb mir eine Postkarte mit seiner Telefonnummer und den Tagen, an denen er zu Hause erreichbar ist. Ich rief ihn also von der Post aus über einen Fernsprecher an und wir verabredeten uns. Ich sollte ein paar Sachen mitbringen und er zeigte mir, wie man aus Gedichten Texte baut und auch das, was nicht so geeignet ist und das hat sich bis zu seinem Tod fortgesetzt. Die Unterrichtung zwar nicht mehr, aber zumindest der Kontakt und er war der Meinung: "Als Texter bist Du wirklich tauglich."

P 16 wurden dann ziemlich erfolgreich, waren im Fernsehen zu sehen, auch mal in den Zeitschriften "F.F. dabei" und im "Neuen Leben" ...
Ja, sogar als SCHULROCK schon. Es gab einen DDR-weiten Wettbewerb, den die Sendung "rund" organisiert hatte. Dort wurden die besten Schülerbands der DDR gesucht. Hartmut Lorenz hatte sich überlegt, sich dort zu bewerben. Das lief über einen recht langen Zeitraum. Die Redaktion besuchten die nominierten Bands, machte Aufnahmen und Hartmut hatte sich ausgedacht, dass SCHULROCK darüber zumindest im regionalen Bereich bekannter werden und öfter spielen könnten, wenn sie mit solch einem kleinen Doku-Film oder Teaser punkten und auf sich aufmerksam machen würden. Das größere Ziel war, dann vielleicht sogar mal bei "rund" auftreten zu können. Ich glaube, pro Sendung wurden drei Bands vorgestellt, dann gab es eine Jahresendauswertung und plötzlich waren die Sieger eben SCHULROCK. Und SCHULROCK wurde P 16, als sie 16 wurden ... (lacht)

Später hattest Du dann ein bisschen Ärger. Du gingst nach Stralsund und ich fand bei Wikipedia, dass das MfS empfohlen hätte, P 16 solle nicht mehr mit Dir zusammen arbeiten. Gibt es dazu eine Geschichte?
Das erfuhr ich ganz nebenbei. Sie besuchten Hartmut Lorenz zu Hause und sprachen den Rat aus, die Zusammenarbeit mit mir zu beenden.

Aber so wild waren die Texte doch gar nicht ...
Nein, da ging es auch gar nicht um P 16. Nachdem ich nach Stralsund ging, schrieb ich für die Turmband Texte. Das war eine evangelische Band, aber nicht nur. Wie sich im Rückblick herausstellte, war sie irgendwann eine der wesentlichsten Band des Widerstands mit unheimlich gut besuchten Konzerten usw. Das wurde sie aber erst dann, als ich Texte für sie schrieb. Vorher spielten sie nach und vertonten christliche Texte. Nun kam ich als weltlicher, nichtchristlicher Mensch und wir entwickelten sozusagen unsere eigenen christlichen Botschaften. (lacht ...) Die waren sehr DDR-kritisch und so hatte ich dann viel Kontakt mit dem MfS und sie gingen zu Hartmut, um von einer weiteren Zusammenarbeit abzuraten.

In Stralsund machtest Du eine Ausbildung und arbeitetest am Theater. Was verbindet Dich mit der Küste?
Meine Mutter, mit der ich allein lebte, war verstorben und so zog ich zu meinen Großeltern. Sie lebten in Stralsund, meine Mutter kam ursprünglich auch von dort. Den Rest der neunten - ca. 14 Tage - und die zehnte Klasse schloss ich dort ab, machte eine Lehre als Schriftsetzer und war dann am Theater tätig. Das war meine wildeste Jugendzeit in wirklich allen Facetten, die man sich nur vorstellen kann. Um Texte unter die Leute zu bringen, habe ich dort zum Beispiel Bands gegründet. Aus bestehenden Bands wurden also Musiker durcheinander gewürfelt und es war, was Bands mit eigenen Songs betraf, die für Stralsund wohl innovativste Zeit. Da wurde richtig gezaubert. Ich glaube, es gab da sieben oder acht Bands, die nur dafür gegründet wurden, um meine Texte zu singen. Also auch, um mir einen Gefallen zu tun. Nach Abschluss der Lehre ging ich ans Theater und hatte dort ganz viele Kontakte zu Künstlern anderer Art und da gab es viel zu lernen. Es war eine wachsende Zeit, die Turmband gab es immer noch, ich hatte ein eigenes Kabarett und bekam dann hier und da mal Auftrittsverbot. Es war echt interessant und die Kontakte zu den Leuten, die fast alle nicht mehr in Stralsund wohnen, sind bis heute beständig. Lustig ist, dass eigentlich auch Demmler Schuld daran war, dass ich in Stralsund als Texter Fuß fassen konnte. Er war auf der Freilichtbühne bei einem KARUSSELL-Konzert, bei dem auch ich war. Kurz bevor er mich sah, hatte ihn der Vertreter einer jungen aufstrebenden Band angesprochen, ob er nicht für sie Texte schreiben wolle, was er allerdings nicht wollte. Dann sah er mich und meinte "Hier, das ist Andreas Hähle, der schreibt auch tolle Texte. Arbeitet doch mal mit ihm zusammen, der wohnt ja auch in Stralsund." Das wussten sie natürlich nicht, denn mich kannte ja kein Mensch. Das war Burkhard Schmidt, mit dem ich heute noch eng befreundet bin.

Du hast zu der Zeit beispielsweise einen großen Hit mit Ines Paulke gehabt: "Himmelblau" ...
Das entstand durch ein Paket, welches ich Arnold Fritzsch mal in die Hand drückte. Er suchte sich dann dies und das raus, "Das ist für den Cantus-Chor, das ist für das und das ..." und er konnte die Sachen gebrauchen. Eins davon war "Himmelblau" und wurde bis zur Endfassung verwertet. Eigentlich war das gar nicht für Ines Paulke gedacht, es nahm also einen anderen Weg, aber der Weg war okay ...

006 20190616 1320189445Wie erlebtest Du die Wende und welche Hoffnung gab sie Dir?
"Wende" ist ein merkwürdiger Begriff. Für mich waren es zwei Dinge: Wir hatten es mit einer Elite zu tun, die einfach die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat und später auch den eigenen massiv gemachten Fehlern geopfert wurde. Man kann es sicher psychologisch erklären, warum die so drauf waren, aber es fehlte ein Generationswechsel. Aber nicht der von Honecker zu Krenz zum Beispiel, sondern wirklich ein wacher Wechsel. Das ist aber wohl immer so, wenn du ein System anlegst mit einem ganz anderen Hintergedanken - Frieden und Humanismus - und es aufgrund sicher nachvollziehbarer Gründe im eigenen Land nicht erfüllen kannst, aber eine Generation nachwächst, denen man den Sozialismus versprochen hat. Wenn die sich dann aber im Alter der achten, neunten oder zehnten Klasse in der Welt umsieht und feststellt, dass der Sozialismus hier bei mir im Dorf schon mal nicht ist, vielleicht ist er in der Kreisstadt, dort ist er auch nicht, vielleicht ist er in der Bezirksstadt, dort ist er auch nicht und spätestens dann merken sie: "Die verarschen uns." Und dann gehen die nach vorn und sagen: "Wir möchten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz." Das war der Hauptanspruch dieser friedlichen Demonstrationen. Es wäre machbar gewesen - da beißt sich alles in den eigenen Hintern - wenn die damals existierende Elite nicht so blöd gewesen wäre und wenn die Nachwachsenden nicht ungenügend gebrieft gewesen wären. Also Modrow zum Beispiel war völlig überfahren bei dem Kohl-Besuch und recherchierte nicht nach, was seine eigenen Wirtschaftsleute in der DDR-Regierung hätten wissen können. Nämlich, dass die DDR gar nicht pleite ist. Es kam dann eben der Wille auf, dass wir unter Umständen die Möglichkeit hätten, unser Land für einen Videorecorder oder einen Gebrauchtwagen zu verscherbeln und das haben die dann gemacht.

1994 zogst Du nach Dresden. Dort schriebst Du Dein erstes Buch "... und schuld an allem ist das Leben, die Sau".
Nein, das schrieb ich nicht in Dresden, das Buch entstand schon in Stralsund. Es hatte eine lange Entstehungszeit, 1991 oder '92 kam der "Endzeit-Verlag" Rostock in Form von zwei packigen Personen auf mich zu (lacht ...) und sie sagten: "Du, wir wollen ein Buch von Dir veröffentlichen." Ich sagte: "Ist okay, machen wir." Dann haben wir ein bisschen sehr lange an dieser Geschichte gearbeitet. Mal passte mir deren Vorschlag für das Layout nicht, mal passten denen ein paar Texte nicht. Es war aber alles im inhaltlichen Kontext, wir bauten es im positiven Sinne um, aber es dauerte eben. Wir hatten allerdings auch nicht kontinuierlich an diesem Buch gearbeitet und nach zwei Jahren - also 1994 - ging ich schon nach Dresden und das Buch erschien. Allerdings nicht mit Andreas Hähle als Autorenname, sondern als APunkt Bänger Strobel, weil ich in Dresden bei Radio NRJ - als wir alle noch dachten, das wäre ein Piratensender - und dort die Sendung "Stadtreinigung" gemacht habe. Die war sehr witzig und war eine Hommage an alle Klamauk- und Satiresendungen, die es in der DDR gab. "Spaßvögel" zum Beispiel, um mal einen Namen zu nennen. Das war sehr lustig und erfolgreich und wir wollten es nach der Wende fortsetzen. Selbst die "BILD"-Zeitung interessierte sich - das muss ja schon mal was sagen - und auch das Fernsehen war da, weil wir jeden zweiten Freitag zwischen 19 und 21 Uhr eine gewisse "Straßenfegerarbeit" geleistet haben. Zu den Sendungen waren viele Leute - und das auch generationsübergreifend - am Radio.007 20190616 1202670077 Das war der letzte Akt dieser Art. Egal, das habe ich damals gemacht und habe praktisch den Namen, den ich in dieser Sendung benutzte, als Autorennamen angegeben. Viele wundern sich, dass da nicht Andreas Hähle steht, sondern APunkt Bänger Strobel, der ja nun gar keine Bedeutung mehr hat. Dadurch entstand dieser Name.

Dann ging es nach Gera ...
Später war ich beim "Offenen Kanal", vorher war ich in einem kommerziellen regionalen Sender, nämlich bei TVO, das war ein Fernsehsender. Ich machte bei diesem regionalen Fernsehen also einmal in der Woche eine Sendung und man hatte eine Woche zu tun, um eine Sendung, die eine Woche läuft, herzustellen. Am Anfang war ich dort Praktikant, übertrug zum Beispiel Polizeiberichte in den Videotext. Dann meinten die: "Andreas, Du musst mal raus!" Da fiel irgendwer aus und ich sollte einen Beitrag machen. Allerdings nur schreiben, sprechen durfte ich den damals noch nicht. Irgendwann kam jemand auf die Idee, ich könne die Nachrichten sprechen, weil ich ganz gut reden kann ... Das hat sich einfach so ergeben, ich arbeitete dort eigentlich nur des Broterwerbs wegen. Auf einmal hieß es: "Wir brauchen den Andreas nicht für die Nachrichten, da ist er zu verloren. Der muss der Hauptmoderator unseres Senders werden." Das wurde ich dann auch, installierte eine Comedy-Show und würde über Nacht plötzlich Chefproduzent dieses Senders. Ich legte dort also eine tierische Karriere hin und es fehlte eigentlich nur noch, den Besitzer wegzucanceln ... (lacht) Nein, mit ihm verstand ich mich unheimlich gut, obwohl er ein ziemlich straighter und übermäßig ernsthafter Mensch war. So leitete ich diesen Laden inhaltlich ungefähr zwei Jahre und dann ging er leider pleite. Ganz einfach, weil keine Werbeeinahmen mehr entstanden. Warum nicht? Weil ringsum die ganzen Firmen pleite gingen, Ostthüringen brach zusammen und somit auch die regionale Fernsehstruktur. Danach ging ich dann zum "Offenen Kanal" und die freuten sich auch sehr ... Und um noch mal auf Radio NRJ zurückzukommen: Wir konnten eigentlich machen, was wir wollten und irgendwie wollten wir DT 64 ersetzen. Das fehlte und das war unser Anspruch. Wir wollten dieses progressive, wir wollten gute Musik spielen, gute Wortbeiträge und auch fundierte journalistische Recherchen zu Künstlern und dergleichen. Wir haben wirklich alles gemacht, was uns einfiel und wir hatten Spaß dabei. Es war wirklich gute Arbeit und zwar sachsenweit. Egal, wer da jetzt mit dabei war, es war ein richtig geiler Sender. Dann kamen die Franzosen und sagten: "Das gehört ja eigentlich uns." Und so wurde daraus ein "European-Hit-Rotation-Radio" und wupps war das ganze aus und zu Ende. Da wusste ich, dass eine Ära zu Ende geht. So wie eben auch mit dem Fernsehsender, auch er wurde gecanceled. Das Ganze - auch politische Hinterfragen - einer Region wurde damit beendet. Und was ganz wichtig war, was ich als sportuninteressierter Mensch gar nicht begriffen hatte: Die regionalen Sportübertragungen sind den Leuten wichtig! Die sahen also Fußballspiele von "Dorfmannschaften", aber das waren unsere Leute. Und genau das wurde ihnen weggenommen. Nicht nur durch Wegfall dieser TV-Sender, sondern einfach im allgemeinen. Man spricht einfach nicht mehr wirklich darüber, was vor der eigenen Haustür passiert.008 20190616 1034475059 Deshalb sind die Leute auch nicht wirklich informiert und genau daraus entstehen die diffusen Ängste, die in den Menschen stecken und die zu den Konfusionen führen, in denen ganz Europa steckt. Also nicht nur in Deutschland ...

Sprechen wir weiter über Deine Texte. Du schriebst für Dirk Zöllner "Idylle im Krieg" und erzähltest mir, das wäre ein "Wendelied" ...
Jetzt wird es lustig: Den Text hatte ich eigentlich für Stephan Trepte gemacht. Als Stephan Trepte REFORM auflöste und mit einer Band herumkariolte, geleitet von Achim Kielpinski, der früher die GAUKLER gemacht hatte. Die Band hieß Ricardo & die Vertreter, brauchte neue Songs und Texte und ich kam mit diesem "Idylle im Krieg an" und sagte, das ist praktisch ein "Ost-West"-Thema. Sie fanden das auch ganz toll, Trepte entschied sich dann aber doch für einen anderen Text. Dazu kam es aber auch nicht, die Band löste sich auf und es verlor sich einfach, wie so vieles nach der Wende. Den Text hatte ich aber da und dann hatte ich ein eigenes musikalisches Unternehmen gemeinsam mit einer Theremin-Spielerin und dem Produzenten Heiko Bandasch. Wir hatten ein herrliches Electronic-Band-Format. Erst hieß es SERGEJWITSCH meets HÄHLE und später hieß es nur noch SERGEJWITSCH, weil es keine Auftritte ohne mich gab und ich absolut in diesen Schaffensprozess involviert war. Wir hatten uns dann überlegt, mal einen richtig geilen und großen Auftritt mit einigen befreundeten Musikern zu machen. Da waren Patti Heidrich von UNBEKANNT VERZOGEN und auch Dirk Zöllner mit dabei, der unbedingt mitspielen wollte. Er sah uns irgendwann mal live, war aber nicht vorn an der Rampe, sondern stand mit seiner Klampfe im Hintergrund. Und er hatte diesen Text gefunden, vertonte ihn zunächst für SERGEJWITSCH, nahm ihn aber dann doch für die ZÖLLNER. SERGEJWITSCH hatte sich mittlerweile auch aufgelöst, Katja und Heiko verstanden sich nicht mehr und ich bekam es auch nicht hin, das Unternehmen ohne die beiden noch einmal ins Leben zu rufen. Und ich hatte - glaube ich - auch keinen Bock mehr, die beiden miteinander zu versöhnen. Den Grund ihres Streits habe ich auch nie erfahren ...

Dann hast Du viele Jahre bei ROCKRADIO gearbeitet und hattest dort eine Live-Sendung namens "Wahl-Lokal". In dieser Sendung hast Du viele Kollegen aus dem Umfeld des Ost-Rocks interviewt. Was war das für eine Zeit?
Das war eine schöne Zeit. "Wahl-Lokal" war eine Idee, mit der ich schon sehr lange schwanger ging. Dann traf ich die Leute von ROCKRADIO und die wollten was mit mir zusammen machen. Klaus Schnabel-Koeplin meinte, "Na klar, das machen wir." Als erste Interviewgäste hatte ich TRANSIT, in der dritten oder vierten Sendung waren dann SILLY dabei und wenn die zu mir kommen, musste es ja eine Bedeutung haben. Das heißt, sie waren damals meine "Türöffner", denn sie waren damals ja schon wieder sehr populär. Also, wenn SILLY in so eine Sendung geht, muss sie ja einen Wert haben. Und diesen Wert hat sie auch erhalten.009 20190616 1226295683 Oder wenn Herzberg darum bittet - der ja auch Interviews verweigert, wenn es ihm zu blöd ist - dass ich ihn im Interview doch mal zu provokanten Äußerungen dränge - dann ist das schon lustig ... (lacht) Ich glaube, es war auch die Fröhlichkeit, die wir hatten. Ich machte das so, wie ein Kaffeekränzchen ...

Du sprichst aber in der Vergangenheitsform, die Sendung gibt es nicht mehr mit Dir?
Nein, die Sendung gibt es gar nicht mehr. Das liegt aber nicht daran, dass ich die Sendung plötzlich über Nacht Scheiße fand. Ich finde, das Format hatte sich überholt, ich hätte etwas anderes machen wollen und sollen, aber ich wollte auch nicht jeden Monat nach Berlin fahren. In Leipzig konnte ich es leider nicht installieren, das lag an vielen verschiedenen Dingen, die aber nicht bösartig waren. Die Göttin des Schicksals sagte eben: "Es ergibt sich jetzt gerade nicht." Also mache ich jetzt gerade kein Radio und das "Wahl-Lokal" gibt es auch nicht mehr. Aber wir haben die sieben Jahre schön auslaufen lassen ...

Manchmal habe ich das Gefühl, dass es - obwohl wir mit dem Internet viele Möglichkeiten haben - schwerer wird, gute neue Musik an den Mann zu bringen. Wie siehst Du das?
Das kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man das betrachtet. Es gibt läufige - und das sage ich mit Absicht so - und es gibt gegenläufige musikalische Bewegungen. Die läufigen findest du im Mainstream-Radio und die gegenläufigen sind eigentlich keine gegenläufigen gegenüber dieser Richtung, denn die machen ihr eigenes Ding und die findest du in Konzerten. Dort, wo jemand etwas an die Wand malt, bleibt bestimmt auch immer jemand stehen und guckt auf dieses an die Wand gemalte Bild. Und so passiert es auch bei den Konzerten. Was wir erkennen, sind zwei Dinge: Wir erkennen, dass Menschen immer weniger Mainstream-Medien konsumieren. Wir hatten zum Beispiel mit dem "Wahl-Lokal" bei ROCKRADIO wesentlich mehr Hörer, als die Mainstream-Radiosender. Man geht auf die alternativen Angebote ein, nämlich das Internet-Radio und auf die Konzerte. Bei den Konzerten stellen wir allerdings noch etwas ganz anderes Negatives fest: Es fehlt das Geld. Viel mehr Leute würden tatsächlich mehr ausgeben und sich diese Leute zu Gemüte führen. Dies gelingt mit entsprechenden Eintrittspreisen oder manchmal auch mit Wohnzimmerkonzerten. Das alles fand das Publikum. Und da kann man auch nicht - wie viele das leider sind - traurig sein, ich finde es schöner und lebendiger, zu den Leuten hinzugehen, denn im Radio werden sie ja nicht gespielt. Und man entdeckt dort auch Musik. So, wie es auch in der DDR war. Es gab ja auch Nischen, es gab die großen Künstler, die PUHDYS und KARAT, die PUHDYS und KARAT, die PUHDYS und KARAT und manchmal ein bisschen CITY, aber eben auch anderes ... Aber wir sollten nicht traurig sein: Die Konzerte werden immer mehr besucht, nur dass die Menschen leider nicht genügend Geld haben, um umfassend an der Kultur teilhaben zu können. Ich glaube sogar, dass sich dadurch auch die Spreu vom Weizen trennte. Wenn also zum Beispiel ein "Schlager-Mitklatscher" zu einem Konzert von Nadine Maria Schmidt gehen würde, würde das sowohl ihn als auch Nadine sehr stören. Sie könnten nämlich nichts miteinander anfangen. Und so fand sich das, was sich finden sollte. Interessant ist ja auch, dass die, die gute Musik hören wollen, sich heute selbst kümmern müssen.010 20190616 1803852888 Und das tun sie auch ... Bei meinen Lesungen habe ich 30 bis 40 Zuschauer, die ich vorher nie gesehen habe und mit denen ich auch nicht bei Facebook befreundet bin. Dazu gab es keine medialen Dinge, keinen Zeitungsartikel und dennoch kommen die Leute. Der Großteil des Publikums rekrutiert sich aus dem, was wir auch aus dem Osten her kennen, nämlich dem "Buschfunk". Und wenn das so läuft, dann ist es doch gut ...

Es gibt ein zweites Buch aus 2014, nämlich "Karriere der Narren" ...
Ja, da fragte mich der Verlag "Edition Billstein", ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen ein Buch zu machen. Ich stellte ihnen das Material zusammen und das Buch wurde veröffentlicht.

Worum geht es in diesem Buch?
Das ist interessant, weil es darin tatsächlich um die "Karriere der Narren" geht. Ich suchte mir fünf Narren aus, der eine bin ich selbst, nämlich der "Dichter Paradies". Dann gibt es einen Banker, der sich schon aufgrund seiner sozialen Zugehörigkeit beruflicher Art am Ende das Leben nimmt, Gauck ist dort beschrieben und dann gibt es noch einen "Mini-Goebbels", bei dem Zöllner der Meinung war, ich hätte damals schon die AfD vorausgesehen ...

Ich las bei Facebook, Du seist ein notorischer Vielschreiber. Wie viel schreibst Du eigentlich?
An guten Tagen schreibe ich gar nichts ... (lacht)




Interview: Marcel Fischer
Bearbeitung: MB, cr
Fotos: Lutz Müller-Bohlen, Ronny Pabst, Volly Tanner




   
   
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