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Ein Nachruf von Christian Reder (24. September 2013)



Wenn man die eigene Jugend hinter sich gelassen hat, in der man konsequent die Musik der Großen, also der Eltern und anderer Erwachsener, ignoriert, vielleicht auch ein bisschen belächelt hat, bleibt man entweder seiner Linie treu und lässt neben der Musik seiner Jugend kaum etwas anderes zu, oder man kommt irgendwann an einen Scheideweg. Die Weggabelungen dort sind mannigfaltig.005 20130924 2028941384 Die einen driften ab in Richtung Schlager, weil dieser doch so hervorragend in den heimischen Partykeller passt, um mit ihm bei der regelmäßigen Wochenausklangparty, verbunden mit reichlich Sprit und dem Erlegen eines Mett-Igels, ordentlich "abzufeiern". Andere entdecken die Elektronik oder den Rock für sich und wieder Andere landen bei der Klassik, beim Blues oder beim Jazz. Bleiben wir beim Schlager und beim Jazz ... Diese beiden Vorlieben mögen auf den ersten Blick gar nicht zusammen passen, aber dass sie es doch tun, hat Paul Kuhn in den 50er und 60er Jahren sehr eindrucksvoll bewiesen. "Paulchen", wie ihn seine Freunde und Fans liebevoll nannten, führte ein Doppelleben. Aber nicht etwa mit irgendwelchen Frauen, sondern mit der Musik, die er Zeit seines Lebens liebte. In der Musik hatte zwei Geliebte: den Jazz und den Schlager. Und wie groß die Liebe war, kann man an den zahlreichen Produktionen mit seiner Beteiligung hören, fast schon greifen ...

Nachdem Deutschland Mitte der 40er Jahre der braune Spuk von zwei Seiten, nämlich von der "Roten" und der rot-weiß Gestreiften mit den vielen Sternen, ausgetrieben wurde, wuchsen sie wie Pilze aus dem Boden, die Jazz-Clubs und Jazz-Keller dieses Landes. Einer, der sich dort auch schon tummelte, war der Mann mit den großen braunen Augen und dem verschmitzten Lächeln - Paul Kuhn. Doch dem Jazz war Paul Kuhn da schon längst verfallen: Schon als Pennäler eines Gymnasiums in Frankfurt, zu Zeiten, in denen der Jazz und Swing verboten war, spielte er ihn auf seinem Akkordeon im Wiesbadener Weinlokal "Eimer". 
Heimlich hörte er als Schüler Radio Calais oder BBC, lernte so die Musik von Glenn Miller kennen und beschloss, selbst irgendwann mal diese Musik zu spielen. Nicht als Hobby - es sollte der Beruf werden, denn "Beruf" kommt schließlich von Berufung. Und berufen schien er wirklich zu sein - der Paul. Im Jahre 1945 begann Kuhn sein Musikstudium am Konservatorium in Wiesbaden und hier konnte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Tagsüber lernte und spielte er am Flügel Klassik, sobald es dunkel wurde, spielte er in Clubs Stücke von Glenn Miller und Duke Ellington. Überhaupt erschlossen sich für Paulchen in der Nachkriegszeit neue Möglichkeiten. Amerikanische Soldaten waren in seiner Heimatstadt stationiert, brachten Schallplatten (damals noch Schellack) und Noten mit. Beste Möglichkeiten, sich in Sachen Jazz und Swing weiterzuentwickeln. Die Clubs boten zudem reichlich Gelegenheiten für Auftritte. Es dauerte nicht lange, und schon hatte Paul Kuhn seine erste Band gegründet. Das war 1946. Und dann kam die Zeit der Musiksendungen in Radio und Fernsehen. Über kleinere Jobs beim Rundfunk und Fernsehen war er plötzlich Teil dieser medialen Welt und bekam so die Chance, eigene Programmformate zu gestalten. Die 50er Jahre in der Bundesrepublik waren die "Wirtschaftswunderjahre", und so schön der Jazz auch war, so richtig Geld ließ sich damit allein nicht verdienen. Aber von irgendwas muss der Mensch ja leben, und irgendwo musste das Schnitzel ja herkommen, das auf den Teller gehört. Wenn man außer der Musik nichts gelernt hat, muss man flexibel sein. Paul Kuhn suchte nach anderen Einnahmequellen und entdeckte dabei u.a. den Schlager. Oder sollte man besser sagen, "Der Schlager entdeckte Paul Kuhn"?

Beim Schlager gelangen ihm große Hits. Wer kennt sie nicht, die Gassenhauer "Der Mann am Klavier" (1954), "Die Farbe der Liebe" (1958) oder "Es gibt kein Bier auf Hawaii" (1963)? Was viele vielleicht nicht wussten ist, dass er 1957 mit dem Lied "Das Klavier über mir" an der deutschen Vorausscheidung zum Grand Prix de la Chanson (heute Eurovision Song Contest) teilnahm. 
Platz drei belegte er dort, und zum Grand Prix fuhren andere. Das machte aber nichts - Paul schon gar nicht. Er hatte nämlich inzwischen zahlreiche Jobs im Musik- und Showbusiness übernommen. So leitete er z.B. die AFN-Band in Frankfurt und wurde Arrangeur bei Kurt Edelhagen und Willy Berking, zwei bekannte Orchester- bzw. Big Band-Leiter. Auch als Schauspieler versuchte sich Kuhn, so z.B. in den Filmen "Biedermann und die Brandstifter" (1958) und "Drillinge an Bord" (1959). Eine eigene Fernsehshow ("Hallo Paulchen") und die Leitung des Unterhaltungsorchesters des Sender Freies Berlin waren weitere Aufgaben, die sich Kuhn in seinen Lebenslauf schreiben konnte.

Zeiten ändern sich aber und gerade im Showbusiness ist nichts so schnell vergänglich, wie der Erfolg von gestern. Großes hatte Paulchen für die Nachkriegsmusik- und -Fernsehwelt geleistet. Trotzdem wurde sein Vertrag mit dem Rundfunk im Jahre 1980 nicht verlängert. Eigentlich wäre es besser gewesen, man hätte die Verträge mit den Entscheidungsträgern nicht verlängert, aber das ist eine andere Geschichte. So ungerecht ist das Leben, wenn über einem ein Haufen von Kretins werkelt und nicht nachvollziehbare Entscheidungen trifft. Paul Kuhn blieb der Musik jedoch treu, spielte mit eigener Band seine Hits auf Empfängen oder in Clubs. Als Schauspieler in Fernsehfilmen und -serien konnte man Kuhn auch weiterhin erleben, z.B. in dem Film "Der Mann am Klavier", in dem er sich 1985 selbst spielte und bei dem internationale Größen wie z.B. Gilbert Bécaude und Bibi Jones mitwirkten. Ab Mitte der 90er entdeckte Kuhn seine musikalischen Wurzeln wieder. Er ließ seinen Jazz wieder aufleben und machte nach seinen Ausflügen in den Schlagerbereich, zum Fernsehen und zum Film, da weiter, wo er einst aufgehört hatte. 
Es entstand das Paul Kuhn Trio, bestehend aus Willy Ketzer am Schlagzeug, Gary Todd oder Martin Gjakonovski am Bass und ihm am Klavier. Verstärkt wurde die Dreierbesetzung gelegentlich durch Benny Bailey (Trompete), Gustl Mayer (Saxophon) und die holländische Sängerin Greetje Kauffeld. Größere mediale Beachtung fand im Jahre 2000 das Projekt SWING LEGENDEN. Paul Kuhn, Max Greger und Hugo Strasser gingen zusammen mit der SWR Big Band auf große Tournee. Ein weiterer Erfolg für Paul Kuhn.

Ende des Jahres 2011 erfüllte sich der Musiker einen Jugendtraum. Er flog nach Los Angeles und nahm in den Capitol-Studios sein Album "The L.A. Session" auf. Exakt in dem Studio, wo schon Musiker aufgenommen haben, die Paulchen schätzte und deren Musik er mochte. Begleitet wurde Kuhn dabei von John Clayton, einem exzellenten Bassisten, und Jeff Hamilton am Schlagzeug. Die drei Musiker schafften es, in drei Tagen stolze 18 Lieder aufzunehmen. Das allein macht die hohe Qualität und Professionalität der drei Musiker deutlich. Mehr noch: Vieles, was auf der CD zu hören ist, war nicht geplant. Es entstand auf Zuruf und mündete in großartige Improvisationen. Im März 2013 wurde Paul Kuhn 85 Jahre alt. Gratulanten waren u.a. der Jazz-Trompeter Till Brönner, der Paul Kuhn als den Musiker benannte, ohne dessen Einfluss und Inspiration er heute wohl keinen Jazz spielen würde, und Götz Alsmann, der meinte, dass er sein Rüstzeug als Entertainer und Moderator vor allem von Paul Kuhn gelernt habe. Mit "Swing 85" erschien im März, pünktlich zu seinem 85. Geburtstag, Paul Kuhn letztes Album. 
Es zeigt ein weiteres Mal, wie viel Liebe zur Musik in ihm steckte und wie man diese Liebe und Freude an der Musik in Töne verwandeln kann. Kuhn bereitete sich im Sommer und Spätsommer auf eine Tournee vor. Er war bis zuletzt mitten im Leben, auch wenn ihm die Augen und die Ohren immer öfter einen Streich spielten und nicht mehr so richtig funktionieren wollten. Diese Einschränkungen der Lebensqualität hielten ihn jedoch nicht von der Musik fern. Warum auch? Er und die Musik verstanden sich blind. Bis zuletzt. Gestern, am 23. September 2013, starb der Mann, der mehr Jazzmusiker als Schlagerstar, Schauspieler oder sonst irgendwas war und den fast jeder in Deutschland kannte. Völlig überraschend, aber nach einem erfüllten Leben, das 85 Jahre lang andauerte. Trotzdem hätte man sich noch etwas mehr vom Mann am Klavier gewünscht. Vielleicht auch gerade deshalb, weil einer wie er so einmalig war. Ich gehöre übrigens zu denen, die am Scheideweg nach vollbrachter Jugend den Weg zum Jazz, Blues und zur Klassik eingeschlagen und den der seichten und teils peinlichen Partymusik links liegen gelassen hat. Wenn ich einen Partysong brauche, werde ich auch bei Paulchen fündig, denn er verstand es wie kein Zweiter, den Spagat zwischen Schlager und Jazz, Anspruch und Mainstream auf die Bühne zu bringen und in Vinyl zu verewigen. Gerade seine Musik, die im Trio entstand, ist etwas ganz besonderes. Und wenn Paulchen zu großen Improvisationen ausholte, berührte es einen und tut es noch immer. Tschüss, Paul. Hoffentlich geben sie da oben dem Mann am Klavier auch ein Bier ...



Videoclips/Slideshows:


"Die blauen Wildlederschuh" (1956)



"Somewhere Over The Rainbow" (Anna Maria Kaufmann & Paul Kuhn Trio 2009)



   
   
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