Hisztory: "Harlekin 2069" (Album)

hisztory2018 20180702 1388777471VÖ: 06.04.2018; Label: Gemeinnütziges Tonstudio im Erzgebirge; Katalognummer: ohne; Musiker: Hisztory, Hartmut Schill, André Fritzsch; Produktion: Tonfall e.V. mit Hisztory; Bemerkung: Dieses Album ist ausschließlich auf CD erschienen. CD Hülle ohne Abdruck der Texte, die Texte kann man aber auf Hisztorys Webseite herunterladen. Das Album kann man HIER kaufen.

Titel:
INTRO - In the Bogside (Derry 1972) • Bloody Sunday • Das Ende vor'm Anfang • Von Regen, Sonne, Mond und Drachen • Der Catcher • Öl ins Feuer • Replay (Dirk, Babs, Böhmert, Rob und Icke) • Dinner for two (the golden shots) • Das bisschen Zeit • Weihnachten im Knast (Das Fenster nach draußen) • Harlekin 2069 • Hackenschuss (fürs Julchen) • Genossin Ivana (Tell Tamar 2015) • Der Abgesang • Die Enthauptung (Groszny 1996) • Outro - Die Beichte Sample: Grand Torino


Rezension:
"Harlekin 69" heißt das vierte Album des Leipziger Liedermachers HISZTORY. Und den Titel darf man ruhig ein wenig ernstnehmen. Es ist ja auch das Lied "Der Narr" von Gerhard Gundermann, das HISZTORY immer wieder mal sang, wenn er in dessen Heimatstadt Hoyerswerda auftrat. Ein Zufall ist das nicht. Gundermann, Tom Waits und Johnny Cash haben den Sänger moderner Balladen geprägt. Einflüsse vor allem von den beiden Ersteren findet man auf der neuen CD ganz sicher. Und doch bleibt HISZTORY ein ganz einzigartiger Liedermacher - mit einem ganz eigenen Stil und einer eigenen Poesie. Ein Musikpoet, der sein Publikum ganz tief berühren kann.

Und das gelingt ihm auch meisterlich mit den Liedern der neuen CD, mit ihren ganz ungewöhnlich fein gestrickten Antikriegsliedern, mit ihren raubeinigen Liebesliedern und mit den Liedern der kleinen Leute, die auch auf diesem Album wieder zu finden sind. Dabei bleibt HISZTORY authentisch, und das spürt der Zuhörer und lauscht auch den allerlängsten Texten wie gebannt. Die Musikwelt belohnt diese Mischung mit einer erneuten Aufnahme in die Liederbestenliste (aktuell Platz 7).

Als Intro und Outro und auch mal zwischendurch nutzt der Leipziger Musiker gerne Filmsequenzen, diesmal zum Blutigen Sonntag in Derry im Stadtteil Bogside. Grausame Erinnerung an einen innereuropäischen Konflikt, der 1972 in Nord-Irland eskalierte und bei dem 17-jährige Jungen auf der Flucht von hinten von der britischen Armee erschossen wurden. Erst 2010 hat sich der britische Regierungschef bei den Hinterbliebenen der Opfer entschuldigt, nachdem endlich eine seriöse Untersuchung ans Tageslicht brachte, dass die katholischen Demonstranten den Konflikt nicht begonnen hatten und viele Opfer wirklich von der Armee ermordet wurden. HISZTORY tritt mit diesem Intro gleich in große Fußstapfen, denn die Rockband U2 hat den Schreckenstag mit ihrem legendären Song "Sunday blood Sunday" auf ihrem Album "War" 1983 besungen. Mit seinem eindringlichen, eher leisen Gitarren-Intro zu den Szenen aus dem Halbdokumentarfilm "Bloody Sunday" glückt ihm ein Kontrast, der den Hörer tief ins Herz trifft, ohne jegliche militärische Allüren in der Musik.

Krieg ist schon auf der vorherigen CD "Der kleinen Leute Lied" etwas, das HISZTORY nicht mit großen Worten sondern mit Bildern aus dem Alltag bekämpft, die umso grausamer wehtun. Er zeichnet den Krieg aus der Sicht eines Kindes wie in "Das Ende vor'm Anfang". Damit hat er mit seinen differenzierten, feinsinnigen Texten die großen Antikriegslied-Dichter längst überholt. Er besingt in "Die Enthauptung" minutenlang eine Szene aus dem Tschetschenienkrieg, und ihm gelingt dabei die Innensicht beider Krieger, die sich hier gegenüberstehen - des Russen, der jetzt gleich sein Leben verlieren wird, und des Tschetschenen, dessen Liebste in diesem Krieg schon umgekommen ist. Ein poetisches Glanzstück, das ganz sicher auch bei einem Auftritt allein wegen seiner Intensität und seiner Länge den Künstler viel Kraft kostet, das ist Knochenarbeit. Es gibt eben Liedermacher, die sind "härter als der Rest", wie das auch Gerhard Gundermann von sich selbst verlangte. Nicht nur da ist ihm HISZTORY ein wenig ähnlich.

Auch der Tod des Künstlers ist immer wieder präsent, so wie auch bei Gundermann, z.B. in "Abgesang" oder "Von Regen, Sonne, Mond und Drachen". Doch HISZTORY gehört einer anderen Generation an. Sein Stil ist nicht wie bei Gundermann, ein Song auf das Wichtigste zusammenzuschmelzen. Der Lausitzer feilte manchmal lange an seinen Songs mit ihrer einzigartigen Poesie. Balladen sind dagegen HISZTORYs Stärke, deren poetische Bilder aber ähnlich wie bei Gundermann direkt ins Herz gehen, aber noch mehr gute Zuhörerschaft verlangen. Doch die findet sich, auch wenn das nicht gerade zeitgemäß ist. In "Replay" erzählt er die Geschichte einer Kindheit und Jugend in den Plattenbauten und dem angrenzenden Waldstück, bis zu Konflikten unter Skins. "Aber vielleicht wär' ich ohne den ganzen Scheiß wer anders", singt er da - und man denkt nur: Bloß nicht! Wer hätte dann diese Lieder schreiben können?

HISZTORY hat sich auf seinem neuen Album auch die Lieder der ganz Großen genommen und auf Deutsch nach- und weitergedichtet, zum Beispiel Bob Marleys "Redemption Song", den dieser schrieb, als er schon krebskrank war, unter starken Schmerzen litt und sein Lied ungewöhnlicherweise ohne Band und eher folkig vertonte. Hier singt HISZTORY eine Botschaft der Humanität und der Versöhnung, wie es unsere Zeit gerade dringlich verlangt, "wir sind Schwestern, wir sind Brüder ..." oder "... machen wir, dass Gott sich schlapplacht, auch wenn die Propheten sich empören". Er lädt uns ein, mit ihm ein Lied von Freiheit zu singen. Aber klar doch, das tun wir gerne. Denn er überzeugt uns. Nicht zuletzt auch mit seiner lebendigen kratzig-warmen Stimme. "Ein Rohdiamant" hat man ihn in der Zeitschrift "Folker" mal genannt, "den man nicht glatt schleifen sollte". Nach diesem Album kann man getrost sagen, dass das nicht zu befürchten ist.

Seit Gundermanns Nachdichtungen weiß man, wie schön man den Boss übersetzen und frei nachdichten kann. HISZTORY tritt auch in dieser Kategorie an, und zwar mit dem Springsteen-Song "The Wrestler", Soundtrack zu dem gleichnamigen amerikanischen Film, somit nutzt er gleich die Gelegenheit für ein erneutes Filmzitat. Hier hat der Leipziger die poetischen Bilder des Boss' übernommen und das Lied dann ganz nach eigenem Stil zu Ende gestrickt, ein wahres Meisterwerk namens "The Catcher".

Das Lied "Harlekin 69" passt wunderbar zu seinem Autoren HISZTORY. Der Harlekin war der Narr in der Commedia dell'Arte, aber auch eine jahrhunderalte und europaweit existierende Figur. Einer mit einem mit Flicken besetztem Kostüm, dessen Gesicht mit einer schwarzen Maske verdeckt ist. Berühmt dafür, dass er sich verändern kann, verschiedene Rollen einnehmen kann, wie zum Beispiel auch Tom Waits das gerne tat. Der Harlekin bringt die Gesellschaftsordnung ins Wanken und ist der Genius des Lebens, der Rettungsanker einer von Normen gegängelten Gesellschaft. All das passt nicht schlecht auf den Leipziger Musiker.

Die Aufnahme von Tonfall e.V. ist ein Ohrenschmaus, die Violine von Hartmut Schill steht den Liedern gut. Der typische HISZTORY-Effekt: je mehr und je länger man zuhört, umso schöner wird es, umso mehr entdeckt man noch mehr Feinheiten in der Musik, in der Abmischung, in der Poesie und in seinen Geschichten. Und gut beraten ist, wer sich einen hochwertigen Kopfhörer nimmt und auch damit mal die CD hört ...

HISZTORY selbst ist irgendwo auch ein Seelenverwandter des wunderbaren Totengräbers, den er in seinem älteren Lied "Fanny Apfelbaum" selbst besungen hat. Einer, der wunderschöne Lieder schnitzt. So wie der Totengräber heimlich in seinem Keller die Menschen seiner Stadt, die er begraben muss, als winzige Figuren nachschnitzt, und dabei den Armen, die es schwer hatten im Leben, ein besonders schönes Gesicht gibt. Auch das gelingt HISZTORY mit seinen Liedern.
(Christine Thom)





Videoclip:





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