laing2013 20130306 1849775661 Titel:
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Titel:

"Paradies Naiv"
LAING
Universal
1. März 2013

1. Ding Dong
2. Nacht für Nacht
3. Morgens immer müde
4. Paradies Naiv
5. Die Nachrichten
6. Mit Zucker
7. Pleite
8. Maschinell
9. Du & Du & Ich
10. Magnet
11. Herr Amor
12. Wünsche
13. Das Schiff

Von wegen "naiv"...
Als mein Kollege Torsten und ich die Gruppe LAING entdeckten, kannte hierzulande kaum jemand diese Formation. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich näher mit der Band beschäftigt hätte, wenn in Bezug auf die Musik nur von "Elektro-Pop" die Rede gewesen wäre und ich nicht zuerst die Musik gehört hätte. Zu oft ist man in der Vergangenheit schon darauf reingefallen, als kluge Strategen ihre Musik in dieses Genre geparkt haben und einen dann doch eher mit Belanglosigkeiten und stupiden Beats und Inhalten genervt haben. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Außerdem kommen die wirklich guten Sachen sowieso nicht nach oben (in die Charts) - so war zumindest meine durch Verunsicherung geprägte Meinung. Bei LAING war das anders. Komplett anders! Irgendwann im vergangenen Sommer hörte ich das Stück "Ich bin morgens immer müde". Das alles erinnerte mich sehr an eine Band, die unser Land vor knapp 30 Jahren mit schlichten Arrangements überrollt und anschließend sogar in den USA damit Erfolg hatte. Die Rede ist von Trio. Schlagzeug, minimalistische Elektronikmusik und eine Gitarre. Fertig war der TRIO-Sound. Bei LAINGs "Ich bin morgens immer müde" hatte man das ganze sogar noch mehr eingedampft und die Gitarren weggelassen. Dazu zwitscherte ein Mädchenchor die Worte, die ich sofort unterschreiben wollte: "Ich bin morgens immer müde, aber abends werd ich wach". Erst im Verlauf (beim Refrain) kommt der Chorgesang der drei Damen in voller Blüte daher. Wunderbar! Und schon war der TRIO-Vergleich wieder hinfällig, denn das hier hat viel mehr Potential und auch die Umsetzung des Stücks war einfallsreicher. Dieser Song hatte auf mich eine unheimlich starke Energie. Beim ersten Hören war das Ganze noch ziemlich skurril. Die Mischung aus elektronischer Musik und weiblichen Gesangsparts war außergewöhnlich anders. Schon beim zweiten Hören fand ich es einfach nur noch geil. Bei Youtube fand ich dann auch das Video zu der Nummer (siehe unten), und seitdem haben mich die Damen völlig gefangen genommen. Soviel Witz, Charme und coole Ideen für Musik und Video sind einzigartig. Ohne weitere Songs von der Formation zu kennen bestellte ich bei meinem Online-Dealer des Vertrauens die EP "030/57707886", auf der neben eben erwähnter Nummer noch fünf weitere Songs enthalten sind. Fast zeitgleich mit dem Eintreffen dieser CD, ein paar Tage später, erfuhr ich, dass die Band für das Bundesland Sachsen an der 2012er Runde der Pro 7 Show "Bundesvision Song Contest" teilnehmen würde. "Meine Fresse", dachte ich noch so bei mir, "das ist die Chance für die Mädels. Mit etwas Glück werden sie über Nacht deutschlandweit bekannt und erfolgreich". Tja... So kam es dann ja auch. Platz 2 beim BVSC und Platz 9 in den Media Control Single Charts. Sogar in einem Werbespot eines Netzanbieters kam der Song zuletzt zum Einsatz. Ein halbes Jahr nach der "Silbermedaille" beim BVSC steht nun das Debüt-Album der Damen von LAING in den Startlöchern. Diesmal ist es nicht mit einer Telefonnummer betitelt, sondern trägt den Namen "Paradies Naiv".

Es wäre jetzt schön einfach zu sagen, man könnte LAING und ihre neue Scheibe in die gleiche Schublade einsortieren wie 2raumwohnung, aber das wäre nicht nur zu einfach, sondern auch völlig falsch. Diese Frische und die wirklich beeindruckenden Ideen für Songs und Texte dürften einzigartig sein. Die hatte 2raumwohnung zwar auch mal, aber als der kommerzielle Erfolg kam, schwanden diese von Mal zu Mal merklich. Auch sonst kann ich den Vergleich nicht heranziehen, da sich auch musikalisch einiges unterscheidet. Bei LAING ist alles noch neu und unverbraucht. Nicht nur die Songs, auch die Arrangements und die visuelle Umsetzung (wie man eindrucksvoll beim BVSC sehen konnte). Und obwohl die Songs nur mit Keyboards, Synthesizern und Effektgeräten arrangiert sind, sind sie keineswegs schlicht oder eintönig. Im Gegenteil. Keins der Stücke ist wie das andere. Und man sollte sich vom Albumtitel nicht in die Irre führen lassen, denn "naiv" ist hier gar nix...
Gleich der erste Song zeigt deutlich, dass man in der nächsten Stunde gut aufpassen muss... "Ding Dong" heißt das Stück und zu spacigen Synthie-Sequenzen wird mittels eines Liedes eine gepflegte Mordfantasie ausgelebt ("Ding Dong - hörst Du die Glocken läuten / Dein letztes Stündchen hat eben geschlagen / Ich bring Dich noch eben um die Ecke / und dann müssen wir auch schon Wiederseh'n sagen"). Mit einer Engels-gleichen Stimme singt Nicola Rost "ich mach Dich kalt, kalt, kalt, kalt...". Ein Ausflug in den Jazz unternehmen die Damen dann mittels gesanglichem Glockenspiel im Mittelteil des Stücks. Gleich an mehreren Stellen sorgen die Damen gleich zu Beginn ihres Debüt-Albums schon für Gänsehautmomente. Das alles wirkt - trotz des in dem Song vorgetragenen niederträchtigen Vorhabens - neu und frisch und lässt den Hörer gespannt auf das warten, was als nächstes kommt.
Frisch auch die Deutlichkeit der Worte. "Mit Zucker" ist ein tolles Beispiel dafür. Würde man selbst den Morgen nach einer gemeinsam verbrachten Nacht beschreiben, käme man nie auf die Idee, es so zu tun wie LAING. Gut, es sind viele Beobachtungen im Ablauf dieses Morgens aufgezählt, aber das "wie" ist hier entscheidend. Das Lied-Ich stellt in seinem Verliebtsein fest, dass es sich beim Partner wirklich jedes Detail merken kann, nur nicht die Art, wie er seinen Kaffee trinkt. Das klingt im Songtext dann so: "Ich weiß wie Du beim Ficken klingst, konnte mir aber nie merken, dass Du Kaffee nur mit Zucker trinkst". Jetzt schreckt der eine oder andere gleich sicher hoch und nennt es niveaulos. Eine Frau, die das Wort "Ficken" in den Mund nimmt. Geht doch nicht... Aber im kompletten Song verbaut wirkt diese Direktheit wie ein wichtiges Utensil, wie ein "Muss einfach sein". Davon abgesehen... die Damen von LAING scheinen auch sonst ziemlich selbstbewusst und geradeaus zu sein, so dass man ihnen eine blumigere Umschreibung für den Akt auch gar nicht abkaufen würde. Umgesetzt ist das Ganze mit chilliger Musik, mit langsamen Melodien und (natürlich) herrlich elektronisch.
Wie offen die Damen mit dem Thema Liebe umgehen, wird auch im Song "Du und Du und ich" deutlich. Wenn auch nur durch die Blume gesprochen, wird hier laut über eine Dreier-Beziehung nachgedacht. Eine romantische wohlgemerkt! Hier werden die Vorteile einer solchen "Lebensgemeinschaft" durch den weiblichen Teil der Mann-Mann-Frau-Beziehung über Alltäglichkeiten auf einleuchtende Weise argumentiert. So wird z. B. festgestellt, dass Monopoly zu zweit nicht so viel Spaß macht, wie zu dritt und dass man zu zweit an so mancher Kasse auch keine Gruppenermäßigung erhält. Alles gute Gründe, noch jemanden mit dazu zu holen. "Mit drei Rädern hat man mehr Bodenhaftung", wird die ganze Idee dann auch noch metaphorisch unterstrichen. Dieser Song hat von der Wirkung her was von Annett Louisans "Das Spiel", in dem auch recht locker über eine außergewöhnliche und nicht gerade gängige Lebenseinstellung gesungen wird, ohne dass man es der vortragenden Künstlerin hätte übel nehmen können. Aber es geht natürlich auf "Paradies Naiv" nicht nur um Mord, Sex und ausgefallene Lebensgemeinschaften...
So mancher Typ stellt sich die ideale Frau ja so vor, dass sie einfach nur zu funktionieren hat. Sie soll seine Wünsche erfüllen und das Ganze ohne zu murren und zu meckern. Für diese Zeitgenossen könnte das Stück "Maschinell" sein, in dem die Mädels von LAING ihr "maschinell konstruiertes" Innenleben nach außen kehren ("Ich bin perfekt konstruiert - maschinell - mein ganzer Körper funktioniert - maschinell - ich hab' nur Null und Eins kombiniert - maschinell - ich bin für alles programmiert"). Das Stück könnte aber auch einen direkten Bezug zu unserer heutigen Arbeitswelt haben, wo man letztlich ja nur noch eine Nummer und kein Mensch mehr ist. Also nicht weit davon entfernt, eine Maschine zu sein, die nur zu funktionieren hat. Von der Machart her erinnert das Lied stark an ihren eingangs schon erwähnten Hit "Ich bin morgens immer müde", hat aber ein komplett eigenes Innenleben.
Erwähnen möchte ich noch das Lied "Tagesschau", in dem Nicola einschneidende Ereignisse der Weltgeschichte mit persönlichen Erlebnissen in Verbindung bringt ("Sie haben ein Schaf geklont, als ich mich von Peter trennte. Ich trug die Haare kurz und Kohl ging in Rente" oder "Mein Hund kriegte Junge und Clinton einen geblasen"). Nicht jedes Erlebnis würde man selbst als erinnerungswürdig bezeichnen, so wird z. B. festgestellt, dass die Dame während der AKW-Explosion in Fukushima ihre Tage bekam. Womit wir auch wieder zurück bei der schon erwähnten Direktheit in den Texten wären. Die Damen singen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist und ich finde das herrlich erfrischend und positiv gesehen anders.
Auffallend bei allen Stücken der neuen CD sind die Arrangements. Ich habe in dieser Rezension schon öfter das Wort "schlicht" bemüht, um die Musik zu beschreiben. Aber gerade das ist es, was die einzelnen Stücke so stark macht. Es ist ein unglaublich großer Ideenreichtum bei den Arrangements zu entdecken. Nicola Rost hat nicht den Fehler gemacht, ihre Kompositionen zu überladen und hat schlicht störendes oder ablenkendes Beiwerk weggelassen. Den Rest erledigen die Damen selbst, die mit ihren Stimmen als zusätzliches Instrument wirken. Sei es Satz- oder Chorgesang, oder einfach nur ein verspielter "Schubi-Dubi-Chor", wie bei dem ersten Stück "Ding Dong", den ich als Ausflug in den Jazz bezeichnet habe: die Mädels machen mit ihren Stimmen großartige Arbeit.

LAING bestätigen mit ihrer CD "Paradies Naiv" sehr eindrucksvoll, dass aus dem Bereich "Elektronische Musik" in der Neuzeit nicht nur Schrott entsteht und dass ich mein Misstrauen in Bezug auf die Protagonisten langsam wieder abbauen kann. Das Quartett hat sich in diesem unüberschaubaren Genre eine eigene Nische gesucht, in der sie als Monopolist schalten und walten können, wie sie wollen. Etwas Vergleichbares gibt es nicht und es ist erfreulich zu sehen (und zu hören), dass man in Sachen Songwriting und Arrangement in den Bereichen Pop- und Elektronische Musik noch längst nicht am Ende ist. Ebenso erfreulich ist, dass man sich als Neuling in der Branche nicht immer an andere Künstler anlehnen sondern eigene Wege beschreiten kann. Es ist wieder Platz für Innovationen da und diesen Spielraum loten die Damen hier kräftig aus. Spaß bereiten die teils lustigen, teils hintergründigen Texte ebenso, wie die eben beschriebene Musik. Aber das war mir schon nach dem Kauf ihrer bereits erwähnten EP "030/57707886" bekannt. Schade nur, dass nicht die Damen von LAING unser Land beim diesjährigen Eurovision Song Contest vertreten und wir nun mit diesem Cascada-Murks da antanzen müssen. Wer weiß, was mit LAING und ihrer außergewöhnlich guten Musik nicht alles möglich gewesen wäre...
Ich wünsche jedem, der jetzt durch diese Rezension neugierig geworden ist und sich die Scheibe kaufen wird, dass er den gleichen Effekt beim ersten Hören hat, wie ich ihn hatte. Ein unvergessliches Vergnügen - das könnt Ihr ruhig glauben!
(Christian Reder)

 


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